Unser neues Wochengedicht stammt von der Zürcher Autorin Anne-Marie Kenessey. «In alle Richtungen» kann vielseitig interpretiert werden – und erzeugt – bei aller Aufstachelung – doch ein Gefühl von Harmonie.
Du bist mein nackter Kirschbaum
eine riesige dunkle Distel
die mich aufsticht
wie die Krone
im Winter das Abendblau.
Es mag an der Kombination von «du», «mein» und «nackt» liegen, dass das Gedicht unwillkürlich die Anmutung einer Liebesstrophe bekommt. Zwingend ist es nicht, das Du könnte ebenso gut etwas anderes meinen, etwa die Angst – im Prinzip ist der Sinn der fünf Zeilen «in alle Richtungen» des Verstehens offen. Aber bleiben wir dabei, es handle sich um eine Liebesstrophe; auch vom poetischen Schlussbild her («Abendblau») liegt dies nahe. Das Du wird mit einem Kirschbaum im Winter verglichen, der dasteht wie eine Riesendistel, mit Ästen nach allen Seiten, die aussehen wie Stacheln.
Kann auch sein – andere «Richtung» des Lesens –, das Du wird zuerst mit einem Kirschbaum im Winter und anschliessend mit einer Distel verglichen. Die Distel «sticht auf». Auch das Verb «stechen» ist für sich genommen «in alle Richtungen» offen: Der Stachel der Liebe ritzt und verletzt, oder er erregt die Sinne. Oder er stört auf. Oder er legt bloss. So heftig das Stechen auch sein mag, es wird durch die darauf folgende Metapher deutlich gemildert: Wenn die Distel so sticht, «wie die Krone» des Kirschbaums den Abendhimmel aufsticht, dann sticht sie sanft. Denn zum einen hat die Krone des Kirschbaums genau besehen keinen Stachel. Zum andern steht sie dem Abendhimmel nicht eigentlichen gegenüber wie die Distel der Haut, sondern wird vom Abendblau umfangen, sie ist in den Himmel eingeschrieben. Die Metapher der in den Himmel ragenden Krone suggeriert ein – trotz stachelartigem Aussehen – letztlich harmonisches Ineinander.
Die umarmte Distel
Einen gewissen Eindruck von Harmonie erzeugt das Gedicht auch von seinem Ablauf her: Es setzt an Anfang und Ende das Bild vom Kirschbaum, die Distel steht in der Mitte. Die stachlige Pflanze wird vom ruhig-grossen Baum gleichsam umarmt. Die beiden konträren Aussagen, das verstörende Aufgestochensein und das Umfasstwerden, behaupten sich gegeneinander. Ja sie verschränken sich, so wie in einer Liebebeziehung zwei Seiten sich in einer dynamischen Spannung befinden können, ohne dass die eine der anderen überlegen zu sein braucht.
Anne-Marie Kenessey, geboren 1973 in Zürich, hat Betriebswirtschaftslehre studiert und arbeitet seit Studienabschluss in der Privatwirtschaft. Sie hat 2012 ihren ersten Lyrikband publiziert, der das Gedicht enthält: «Im Fossil versteckt sich das Seepferd vor dir», erschienen in der Edition Isele. Die Autorin lebt in Zürich.