Unser neues Wochengedicht kreist um eine engelshafte Erscheinung und stammt von Michael Lentz. Er ist Schriftsteller, Lautpoet und Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.
der deinen namen ruft.
und dieser engel ist eine wolke dann,
ein sonnenlicht, ein apfelbaum.
und dieser engel ist eine gartenvoll lachen
auf dem gesicht deiner mutter.
und dieser engel ist das lachen deiner mutter.
Vier Sätze sind es, die das Gedicht ausmachen, jeder von ihnen sagt etwas über den Engel aus, von dem es handelt. Doch seltsam: Je mehr wir über den Augenblick erfahren, in dem der Engel erscheint, desto unsicherer wird, um was für einen Augenblick es sich handelt.
Gewiss ist, dass es ein bedeutender, ein hoher Moment sein wird. Ein sehr persönlicher auch, wird doch der vom Engel Besuchte mit seinem Namen aufgerufen. Wozu wird er aufgerufen? Der zweite Satz lädt dazu ein, den Engelsmoment ganz zu geniessen und die Einzigartigkeit des Erlebens von Natur samt Sonne und Apfelbaum in sich hineinzuziehen. Der dritte Satz schliesst an das Naturerleben an und setzt einen Menschen in den Garten, die Mutter mit ihrem Lachen. Es kann sein, dass das Gedicht genau dieses Bild familiären Glücks ansteuert und es im dritten Satz in der Aussage kulminieren lässt, der Engelsmoment vollziehe sich im Lachen der Mutter. Das wäre eine Hommage an die Mutter, an alle Mütter dieser Welt, ein Gedicht zum Muttertag.
Flügelschlag des Todes
Was aber, wenn die Mutter des Du, das angesprochen wird, nicht mehr am Leben ist? Der zweite und dritte Satz wären dann eine Aufforderung ihrer zu gedenken, der Engel käme in Form einer Erinnerung: Weisst du noch, damals im Garten, die Mutter mit ihrem Lachen? Der Nachsatz in der letzten Zeile könnte als Bestätigung des Gesagten aufgefasst werden. Es sei denn, er spräche nicht vom Gartenidyll, sondern von einem andern Moment. Einem Moment, der zu Beginn prophezeiend vorausgesagt wird und in der Form des Futurums etwas Unabwendbares bekommt: «und einmal wird ein engel kommen / der deinen namen ruft.» Im Schlusssatz schwingt die Ahnung mit, dass es die Stunde des Todes sein könnte.
Es ist ein sehr sanfter Hinweis. Der Tod gleicht hier selber dem Flügelschlag eines Engels, er erscheint hell und leicht, ohne mitschwingende Angst, ohne das Drohende, Finstere, das mit dem Sterben gerne assoziiert wird – ein Flügelschlag, der eine heitere Erinnerung herbeiweht, der einen schönen Augenblick noch einmal zum Leben erweckt, bevor es mit dem Leben vorbei ist.
Muttertagsgedicht oder Todesmahnung, du hast beim Lesen die Wahl, und vielleicht ist der Unterschied zwischen den beiden Lesarten gar nicht so gross.
Der Schriftsteller, Lautpoet und Musiker Michael Lentz, 1964 in Düren, Nordrhein-Westfalen geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Mit 19 Jahren debütierte er mit einem Lyrik- und Prosaband, seither hat er vier Gedichtbücher veröffentlicht. Einen Namen machte er sich namentlich als Poetry-Slammer und Performer. Er ist Professor für Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt in Berlin und Leipzig. Das Gedicht ist dem Band «Aller Ding», erschienen 2003 bei S. Fischer, entnommen.