Zehntausende Menschen haben am Sonntag mit einem Trauermarsch in Moskau des ermordeten Kreml-Kritikers Boris Nemzow gedacht. Die Ermordung des prominenten Dissidenten am Freitagabend auf einer Brücke in Sichtweite des Kremls hatte weltweit Bestürzung ausgelöst.
An der Spitze des Trauermarsches in Moskau trugen die Demonstranten ein Banner mit der Aufschrift «Helden sterben nie – diese Kugeln gelten uns allen». Auf Plakaten waren zudem Slogans wie «Er starb für die Zukunft Russlands,» «Er kämpfte für ein freies Russland» oder «Ich fürchte mich nicht», aber auch «Ich fürchte mich – wer ist der Nächste?» zu lesen.
Unabhängige Beobachter sprachen von etwa 55’000 Teilnehmern an dem Trauermarsch, die Polizei gab die Zahl dagegen mit 21’000 an. Der Marsch führte unterhalb des Kremls über die Brücke über die Moskwa, auf der Nemzow am Freitag kurz vor Mitternacht von mehreren Kugeln in den Rücken getroffen worden war.
Trauerkundgebungen im Gedenken an den 55-jährigen Kritiker von Präsident Wladimir Putin gab es auch in vielen anderen russischen Städten – darunter St. Petersburg sowie Nischni Nowgorod, wo Nemzow in den 1990er Jahren Gouverneur gewesen war, und Jaroslawl, wo er als Regionalabgeordneter arbeitete.
Ursprünglich hatte die Opposition für Sonntag eine Grosskundgebung gegen die Ukraine-Politik von Präsident Wladimir Putin geplant, diese wurde aber nach der Ermordung Nemzows abgesagt.
Putin als Aggressor kritisiert
Nemzow hatte wenige Stunden vor dem Attentat in einem Radiointerview zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen und Putin eine «unsinnige Aggression gegen die Ukraine» vorgeworfen. Nemzow, der unter Präsident Boris Jelzin in den 1990er Jahren als Vize-Ministerpräsident diente, soll überdies an einem Bericht über die Beteiligung Russlands am Ukraine-Konflikt gearbeitet haben.
Die Hintergründe der Tat waren auch am Sonntag unklar. Die Fahnder gingen mehreren möglichen Tatversionen und Spuren nach, sagte der Sprecher der nationalen Ermittlungsbehörde, Wladimir Markin. Die Ermittler sehen in Nemzows Kritik an der russischen Ukraine-Politik ein mögliches Tatmotiv.
Aus Polizeikreisen verlautete, eine Spur führe ins rechtsextreme Milieu. Die Ermittlungsbehörde setzte drei Millionen Rubel (rund 46’000 Franken) Belohnung für Hinweise auf den Täter aus.
Überwachungsvideo veröffentlicht
Der Moskauer Fernsehsender TWZ veröffentlichte unterdessen ein Überwachungsvideo vom Ort und von der Zeit der Tat. In der Aufnahme ist nach Darstellung des Senders zu sehen, wie sich Nemzow mit seiner Begleiterin am Freitag gegen 23.30 Uhr (21.30 Uhr MEZ) auf der Brücke bewegt und von einem Mann verfolgt wird.
Eine Putzmaschine verdeckt dann die Sicht auf das Paar und den Mann. Wenig später ist zu sehen, wie der mutmassliche Täter in ein Auto steigt und flieht. Etwa zehn Minuten danach kommt die Polizei. Nemzows Begleiterin ist unverletzt.
Die aus der Ukraine stammende Frau halte sich bei einem Bekannten von Nemzow in Moskau auf und stehe unter Polizeischutz, sagte ein Anwalt. Es handle sich um eine wichtige Zeugin.
Hass gegen Oppositionelle geschürt
Weggefährten Nemzows warfen der Regierung vor, eine anti-westliche Stimmung und Hass gegen Oppositionelle zu schüren. «Im 21. Jahrhundert, im Jahr 2015, wird ein Oppositionsführer unter den Mauern des Kremls getötet – das übersteigt die Vorstellungskraft», sagte Nemzows Weggefährte Michail Kasjanow, der unter Putin als Ministerpräsident diente.
Nemzow habe den Preis dafür gezahlt, «dass er jahrelang dafür kämpfte, dass Russland ein freies und demokratisches Land wird». Die Politologin Julia Latynina sagte, mit der «physischen Eliminierung» von Gegnern habe «eine neue Epoche» begonnen.
Der Kreml bezeichnete die Tat dagegen als eine gegen die Regierung gerichtete «Provokation». Das Ermittlungskomitee nannte den Mord einen «Versuch zur Destabilisierung der politischen Lage im Land». Putin versicherte, es werde alles getan, um «die Organisatoren und Täter dieses hinterhältigen und zynischen Mordes» zu bestrafen.
Schnelle Aufklärung gefordert
International löste der Mord Bestürzung aus. US-Präsident Barack Obama sprach von einem «brutalen und bösartigen Mord». Die Schweiz. Deutschland, Frankreich sowie UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon forderten eine schnelle Aufklärung des Verbrechens.
Der ukrainische Präsident Petro Poroschenko sagte, Nemzow sei «eine Brücke» zwischen der Ukraine und Russland gewesen, die durch die Schüsse zerstört worden sei.