Das Stammtisch-Niveau wird von Politikern gerne herbeizitiert. Eric Bergkraut geht der Frage nach der Höhe der Stammtische in einer wunderbar stillen Bilderreise durchs Land nach.
Das Stammtisch-Niveau wird von Politikern gerne herbeizitiert, wenn es darum geht, sein eigenes Niveau als Höherstehendes festzulegen. Aber wie hoch sind eigentlich Stammtische in der Schweiz? Eric Bergkraut geht der Frage in einer wunderbar stillen Bilderreise durchs Land nach.
Für digitale Netzwerker und Social-Media-Experten sei es vorweg gesagt: Sie können auf Facebook vermelden, dass das Face der Schweiz nicht in einem Book eingefangen ist, sondern in diesem Dokument. Ich würde «Service inbegriffen» gerne das ‚heimatlichste Album der Schweiz‘ nennen, wenn Heimat überhaupt eine Steigerungsform hätte.
Bergkrauts Reise gehört zu den schönsten, die ich durch die Schweiz je mitgemacht habe. Die Idee hierzu ist so einfach wie genial: Wir ziehen von Stammtisch zu Stammtisch und treffen jene Menschen, an den Tischen sitzen bleiben.
Auf der «Hundwiler Höhi» im Appenzell, im «Hotel de la Poste» in Fleurier, im «Caffé Papa» in Biasca, im «Transit» in Altstetten, um im Bahnhof Zürich u.a.. Dazwischen gibt es auch mal ein Vogelshäuschen, wo vulgäre Spatzen auf schwarze Amseln treffen zu besichtigen. Jeder der Orte hat seine eigene Poesie.
Gesichter und Geschichten aus der Schweiz
Pio Corradi hat für «Service inbegriffen» Bilder gemacht, die mal an die frühen Fischli&Weiss erinnert, mal einfach herzerfrischend anders sind. Wenn hinter dem Wirt ein Himmel voller Plastik-Trauben hängt, wenn der Einmannunterhalter rasch einen Rock-n-Roll in der Stube rockt, wenn die Absinth-Flasche in einem Kästchen im Brunnenstock weggeschlossen wird, dann möchte man dieses Album gerne immer und immer wieder aufschlagen.
Dabei sind es Menschen, die Eric Bergkraut interessieren. Aufgestöbert hat er sie an Tischen. Es sind Sitzenbleiber, jene, die verweilen. Es sind Chrampfer, die gerne zusammensitzen. Es sind Netzwerker im Kleinen. Selbst Peter Bichsel stöbert Bergkraut unter den Menschen auf. Auch er ist einer, der gerne lange weilt.
Niemand sollte sich das entgehen lassen, wenn Marlies Schoch über Zürcher und Afrikaner nachdenkt. Wenn der afrikanische Zürcherbueb vor dem Hasenkäfig über Heimkinder nachdenkt. «Es isch en huereschüüche Haas. Isch halt eso.»
Oder wenn Marlies Schoch über ihren letzten Taxigast in der Neujahrsnacht erzählt. «Er stand schon auf Brückengeländer. Ich packte ihn bloss, und fragte ihn, wohin des Wegs? Da sagt er nur, nach Appenzell. Und dann Danke. Das sagt er jetzt jedes Jahr einmal. Wenn er zu uns kommt. Dann schaut er mich nur an.»
Klug verdichtet kommt ein wunderbarer Blick hiner die Kulissen einer anderen Schweiz zustande
Bergkraut hat nicht nur poetische Augenblicke eingefangen. Er montiert die Bilder auch zu kleinen Gedichten. Wie die Schneeflocken zum Feuerwerksdonner. Wie der Spatz im Bahnhofsbuffet. Wie später dazu das Gespräch über einen Vogel, dessen Namen niemand kennt. Wie der punktgenaue Musikschluss des Dorfrockers.
Selbst, wer eine poetische Theorie des Lebens sucht, wird sie finden. Der alte Scherenschleifer formuliert sie: «Um alt zu werden, braucht es Glück. Jung zu bleiben ist hingegen eine Kunst. Die muss im richtigen Augenblick anwenden. Sonst bewirkt sie das Gegenteil.» Da wünschen wir uns, unsere Politiker hätten immer immer, immer, immer dieses Niveau!
Eric Bergkraut