Aus Schweizer Sicht könnten die Aussichten für die Cross-Country-WM in Andorra fast nicht besser sein. Nino Schurter und Jolanda Neff gilt es heute Samstag zu favorisieren.
Dass beide Siege im Gesamt-Weltcup in die Schweiz gehen wie in dieser Saison, hat es in der Vergangenheit nie gegeben. Der Bündner Nino Schurter setzte sich in der Rennserie ebenso souverän durch wie die erst 22-jährige St. Gallerin Jolanda Neff. Beide kamen auf eine imposante Bilanz. Schurter war an den sechs Stationen dreimal Erster und dreimal Zweiter geworden, Neff gewann ebenfalls dreimal und war nie schlechter als Vierte. Das Selbstvertrauen muss bei beiden riesig sein. So ist es nur logisch, dass die Aushängeschilder von Swiss Cycling die ersten Anwärter auf Gold sind, wenn heute ab 12 Uhr mit den WM-Entscheidungen in Vallnord die Saison-Highlights anstehen.
Schurter will seine eindrucksvolle Sammlung an WM-Medaillen weiter ausbauen. Bis dato stehen für ihn bei der Elite dreimal Gold und zweimal Silber zu Buche. Im letzten Jahr in Hafjell (No) hatte er sich dem französischen Altmeister und Dauerrivalen Julien Absalon geschlagen geben müssen, der seinen fünften WM-Titel feierte. Lediglich 2010 in Mont-Sainte-Anne (Ka) war Schurter neben dem Podest gelandet – und auch nur deshalb, weil er Pech mit dem Material hatte.
Jolanda Neff darf erstmals eine WM-Medaille bei der Elite jagen. Dies, weil sie in den vergangenen Jahren in der U23-Kategorie antreten musste (und dort dreimal in Serie WM-Gold holte). Auch heuer hätte sie vom Reglement her eigentlich bei den «Espoirs» mittun müssen, doch die Verbände ermöglichen ihr mit einer Ausnahme-Bewilligung den vorzeitigen Schritt auf die höchste Stufe. Dies macht Sinn. Vor einem Jahr in Hafjell gab es Diskussionen, ob Catharine Pendrel eine verdiente Elite-Weltmeisterin sei, weil sich die Kanadierin damals nicht mit Gesamtweltcup-Siegerin Neff messen musste.
Schurter sprach zuletzt davon, dass er derzeit eine «perfekte Saison ohne gesundheitliche Probleme» erlebe. Er habe sein Programm durchziehen können und wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf das nächste Jahr mit den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro gesammelt. Er hat seine Kraft-Werte noch einmal verbessern können und gleichzeitig etwas Gewicht verloren, was ihm bei happigen Aufstiegen zugute kommen sollte. Und Schurter glaubt, dass er im Gegensatz zur letzten WM noch genug frisch ist, um sein gesamtes Potenzial auszuschöpfen. In Hafjell war er etwas ausgelaugt gewesen, weil er in den Monaten davor ein zu hartes Pensum abgespult hatte.
Neff ist in diesem Jahr nicht ganz von gesundheitlichen Problemen verschont worden. Vor einem Monat im Rahmen des Weltcups in Mont-Sainte-Anne war sie vor dem Rennen ohnmächtig zusammengebrochen und sie erlitt eine Gehirnerschütterung. Dies hinderte sie nicht daran, weiter aufs Podest zu fahren, aber aufgrund gewisser Beeinträchtigungen und wegen des Reisestress handelte sie sich einen Trainings-Rückstand ein. Mitte August war Schonung angesagt. Nun möchte sie wieder das Level erreichen, das ihr Ende Juli in Italien den EM-Titel eingebracht hat.
Die grösste Herausforderung in Vallnord wird die ungewöhnliche Höhenlage sein. Die WM-Rennen werden auf rund 2000 Metern über Meer ausgetragen, wo die Luft für die Ausdauer-Sportler dünner ist und die Lungen «brennen». Nino Schurter denkt jedoch, dass die Top-Cracks keine Mühe damit haben, weil sich alle in den letzten Wochen auf diesen Umstand spezifisch eingestellt haben. Schurter hat zuerst zuhause in einem sogenannten Höhenzimmer genächtigt und anschliessend im Engadin ein Höhentrainingslager abgehalten. Jolanda Neff ging einen ähnlichen Weg. Sie absolvierte die unmittelbare WM-Vorbereitung auf dem Bernina-Pass.
Schurter überliess auch in Andorra nichts dem Zufall. Er schlief jeweils in Zielnähe in einem Wohnmobil, und nicht wie andere in einem Hotel in etwas tieferen Lagen, was er für etwas riskanter hielt. Ein gutes Omen für Schurter könnte sein, dass er der Sieger gewesen war, als der Weltcup-Tross vor zwei Jahren in Vallnord gastiert hatte.
Jolanda Neff wird wohl in Andorra nicht ihre einzigen WM-Einsätze in diesem Jahr absolvieren. Die St. Gallerin hat auch die Strassen-WM in Richmond (USA) von Ende Monat in ihrem Plan. Und auch an jenem Event will sie hohe Ziele verfolgen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass Neff an den Olympischen Spielen in Rio sowohl im Gelände als auch auf Asphalt eine Top-Klassierung ins Visier nehmen wird. Das Olympia-Programm würde eine zweigleisige Planung durchaus ermöglichen.
Vom Rest des Schweizer Mountainbike-Teams dürfte in den Elite-WM-Rennen in Andorra am ehesten Florian Vogel Chancen auf eine Medaille haben. Der 33-jährige Aargauer, der nach einem Marken-Wechsel im Spätherbst seiner Karriere nochmals aufdreht, hat im abgelaufenen Weltcup zweimal den 3. Platz erreicht.