Auf dem Buckel der Kranken

Nach Schmerzpatienten und Depressiven trifft es Menschen mit Geburtsgebrechen: Auf der Suche nach Sparpotenzial in der IV wird immer mehr Kranken eine Rente verwehrt.

Nach Schmerzpatienten und Depressiven trifft es Menschen mit Geburtsgebrechen: Auf der Suche nach Sparpotenzial in der IV wird immer mehr Kranken eine Rente verwehrt.

«Wir haben keinen Spardruck», sagt der Leiter der IV Basel-Stadt in unserer Titelgeschichte. Menschen wie die Familie von Linus Güthe, der an einem sogenannten Geburtsgebrechen leidet, erleben das anders: Sie sehen in den Abklärungen der Invalidenversicherungen vor allem eine Rentenverhinderungsmassnahme.

Tatsächlich steht die IV unter Druck. Vor gut zehn Jahren stand das Sozialwerk finanziell am Abgrund. In der Folge wurde vom Bundesparlament eine Reihe von Sanierungsmassnahmen getroffen. Auf der einen Seite erhält die IV durch eine befristete Erhöhung der Mehrwertsteuer mehr Geld, auf der anderen soll sie weniger ausgeben.

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Auf der Suche nach Sparmöglichkeiten gerieten verschiedene Krankheiten in den Fokus. Zuerst traf es die Schmerzpatienten: Wer an chronischen, medizinisch aber nicht erklärbaren Schmerzen leidet, müsse sich halt zusammenreissen – so lautete die Parole, bis das Bundesgericht 2015 in einem Grundsatzurteil festhielt, die IV müsse auch Schmerzpatienten «ergebnisoffen» abklären.

Welche Krankheit können wir noch ausschliessen?

Das Bundesgericht spielt eine wichtige Rolle, wenn es um die Invalidenversicherung geht. So betrafen 2016 rund 900 von total 7800 erledigten Fällen die IV, das sind über zehn Prozent. Meist fallen die Entscheide zuungunsten der Kranken aus. So gab es in letzter Zeit eine Reihe von Urteilen, mit denen ein IV-Anspruch von Depressionskranken verneint wurde. Man bekomme den Eindruck, es werde eine Krankheit nach der anderen vom Zugang zur IV-Rente ausgeschlossen, kommentierte Ueli Kieser, Professor für Sozialversicherungsrecht an der Universität St. Gallen, gegenüber dem «Tages-Anzeiger». 

Diese Kaskade setzt sich fort, denn nun sind Geburtsgebrechen wie jenes von Linus dran. Der Bundesrat beantragt dem Parlament, die Kriterien für eine IV-Rente bei solchen Gebrechen enger zu fassen. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ist klar, wie die Geschichte weitergeht: Der Spardruck bei der IV steigt weiter. Und zwar auf dem Buckel der Kranken.

Mit allen Mitteln gegen Betrüger

Sicher fühlen kann sich nicht einmal, wer trotz allem eine Rente zugesprochen erhält. Denn Ende Mai lief die Vernehmlassungsfrist für einen Überwachungsparagrafen ab, den das Bundesamt für Sozialversicherungen ausgearbeitet hat. Damit soll geregelt werden, welche Mittel und Methoden Versicherungen bei Verdacht auf Missbrauch anwenden dürfen. Vorgesehen ist eine Regelung ganz im Sinne der Versicherer: Sie dürfen Privatdetektive auf Verdächtige ansetzen und dabei Überwachungsmethoden einsetzen, für die die Polizei eine richterliche Genehmigung bräuchte.

Das heisst: Versicherungen dürfen bei Missbrauchsverdacht Detektive auf ihre Kunden ansetzen und diese heimlich fotografieren und filmen lassen. Der IV-Stellen-Konferenz reicht das noch nicht. Wie der «Beobachter» schreibt, will der Dachverband der kantonalen IV-Stellen auch heimlich Tonaufnahmen machen sowie GPS-Tracker an Autos anbringen dürfen.

Sozialstaat Schweiz, das heisst im Jahr 2017: Wir wollen den Schwachen und Kranken möglichst nichts bezahlen müssen. Und wenn sich eine Rente nicht verhindern lässt, dann versuchen wir die Bezüger mit allen Mitteln als Betrüger zu entlarven.

 

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