Bei der IV prallen Welten aufeinander. Menschen mit Behinderung hoffen auf finanzielle Unterstützung und treffen auf Beamte, die ihren Job gemäss Vorgaben zu erledigen haben. Und die Politik will die Sparschraube weiter anziehen.
Sitzt der Prüfer der Invalidenversicherung (IV) beim Antragsteller auf dem Sofa, wird Verzweiflung zur nüchternen Rechnung. Die Beeinträchtigten beschreiben ihren Alltag, und der IV-Vertreter schreibt Kreuze, Stichworte und Zahlen auf sein Formular. Unter anderem aufgrund dieser Begegnung entscheiden die Behörden, wie viel Unterstützung ein Antragsteller erhält.
Es fehle das aufrichtige Interesse für ihre Lage, klagen von Behinderungen und Geburtsgebrechen Betroffene. Die Mitarbeiter der IV würden nicht verstehen, mit welchen Schwierigkeiten die Familien zu kämpfen haben. «Jeder Brief muss sorgfältig formuliert werden. Er entscheidet, ob wir die nötige Unterstützung bekommen oder nicht», sagen Felix und Sarah Güthe.
Ihr Sohn Linus leidet an Duchenne Muskeldystrophie und sitzt im Rollstuhl. Weil der Muskelschwund schlimmer wird, muss die Familie immer wieder neue Anträge stellen. Für einen Rollstuhl, medizinische Behandlungen oder finanzielle Unterstützung. Anfang dieses Jahres wurde Linus von der IV als mittel hilflos eingestuft. Im Februar brach er sich den Fuss, seither sitzt er mehrheitlich im Rollstuhl. Vorher konnte Linus im Standardtest in sechs Minuten immerhin 300 Meter zurücklegen. Jetzt sind es noch 20 Meter.
Das bedeutet erheblich mehr Aufwand für die Eltern: Der Rollstuhl muss immer dabei sein, Linus muss aus dem Rollstuhl gehoben werden. Trotzdem bleibt die IV bei ihrer Einschätzung, die sie vor dem Fussbruch vorgenommen hat. Felix und Sarah Güthe müssen einen neuen Antrag stellen.
Emotionen gegen Objektivität
«Bis die IV zusätzliche Entlastungsbeiträge bewilligt, kann im schlimmsten Fall ein ganzes Jahr vergehen», sagt Christina Stadelmann. Die Sozialarbeiterin bei der Schweizerischen Muskelgesellschaft kennt etliche ähnliche Fälle. Sie berät Familien im Umgang mit der IV. Oft hinkt die Versicherung mit ihrer Unterstützung hinterher.
«Wir helfen den Eltern dabei, die Schwächen ihrer Kinder aufzuzeigen», erklärt Stadelmann. Es sei wichtig, dass die IV-Vertreter sähen, mit welchen Herausforderungen die Angehörigen täglich konfrontiert sind.
Stadelmann kennt die Strategien der kantonalen IV-Stellen. So lege die IV ihre Evaluationstermine gerne auf 15 Uhr. Um diese Zeit sind die nicht schulpflichtigen Kinder ausgeschlafen und haben Energie. «Dann leisten sie Dinge, die sie am Abend nicht mehr können», sagt Stadelmann. Treppensteigen zum Beispiel. Um 19 Uhr geht das nicht mehr und die Kinder müssen getragen werden. Oder tun sich dabei weh. Wie Linus, der beim Unfall müde von der Schule war.
Für Hilfsbeiträge ist nicht die Diagnose entscheidend, sondern die tatsächliche Einschränkung. Entsprechend prüft die IV jeden Fall einzeln. Darum sei es effizienter, die Betroffenen statt die IV zu beraten, so Stadelmann. «Die IV-Evaluation dauert rund eine Stunde, die Betroffenen leben 24 Stunden täglich mit der Behinderung.»
In den Gesprächen mit der IV schwinge oft der unausgesprochene Vorwurf mit, die Eltern würden die IV unrechtmässig ausnützen. Mit kritischen Fragen versuche die Versicherung Gründe zu finden, um weniger bezahlen zu müssen – so der Eindruck, den Betroffene und Interessengruppen gegenüber der TagesWoche äussern.
«Wir sehen täglich schlimme Schicksale, die dürfen wir nicht zu nahe an uns heranlassen.»
«Unsere Mitarbeiter müssen sich abgrenzen und distanzieren», sagt Rolf Schürmann, Leiter der IV Basel-Stadt. Das sei überlebenswichtig in diesem Arbeitsfeld. «Wir sehen täglich schlimme Schicksale, die dürfen wir nicht zu nahe an uns heranlassen.» Dass dies beim Gegenüber als wenig empathisch wahrgenommen wird, ist ihm bewusst.
Die meisten Vorwürfe der Betroffenen sind Schürmann bekannt. Manche empfindet er als schmerzhaft, andere als absurd. Dem Verdacht, die IV lege ihre Termine gezielt so, dass die Kinder noch fit sind, widerspricht er heftig: «Wir müssen auch um 15 Uhr arbeiten.» Solche Vorwürfe grenzen für ihn an Bösartigkeit. Zudem sei es nicht richtig, dass die IV versuche, möglichst viel einzusparen. «Wir haben keinen Spardruck», so Schürmann. «Es ist aber unsere Aufgabe, die Anträge fair und korrekt zu prüfen.» Dafür brauche es eine genaue Lagebeurteilung und entsprechend kritische Fragen.
«Wir haben grosses Verständnis für die Betroffenen.» Diesen Satz wiederholt Rolf Schürmann einige Male. Und er betont mehrfach, dass die Mehrheit aller Fälle konfliktfrei verläuft. Er weiss, dass die Vorwürfe oft aus Verzweiflung heraus entstehen. Es werden Emotionen geweckt, die seine Mitarbeiter nachvollziehen könnten, selber bei der Arbeit aber nicht zulassen dürften.
«Unsere Prozesse sind in hohem Masse vorgegeben», sagt Schürmann. Da haben Mitgefühl und Empathie keinen Platz. Objektivität ist gefragt. «Es gibt in unserer Arbeit keinen Ermessensspielraum. Wir sind dem Gesetz verpflichtet.» Wer wie viel zugut hat, bestimmt nicht die IV, sondern der Paragraf.
Keine IV mehr für Geburtsgebrechen?
Nicht der Beamte, sondern die Politik will sparen. Mit immer enger gefassten Kriterien und strengeren Vorgaben. Aktuell droht Menschen mit Geburtsgebrechen wie Linus Güthe eine weitere Sparübung. Dem Parlament liegt zurzeit eine Revision vor, mit der der Bundesrat bei Geburtsgebrechen nur noch bezahlen will, wenn ein gewisser Schweregrad vorliegt. Wie hoch dieser ist, lässt die Landesregierung aber offen. Genau das bereitet Georg Mattmüller vom Behindertenforum Sorgen: «Im Einzelfall könnte das dazu führen, dass IV-Leistungen bei Geburtsgebrechen ausgeschlossen werden.»
Zudem passt der Bundesrat mit der Vorlage die Leistungen an die Kriterien der Krankenkassen an. Deren Maximen sind Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit. Das sei zwar verständlich, findet Mattmüller, betont aber: «Es darf nicht dazu führen, dass die Situation bei Geburtsgebrechen neu strenger beurteilt wird als bisher.» Sonst könnte es passieren, dass gewisse medizinische Massnahmen von der IV künftig nicht mehr übernommen würden.
Sparen, sparen, sparen
Doch genau deswegen geraten die Geburtsgebrechen in den Fokus der Politik: Vor allem bei der medizinischen Versorgung verursachen sie immer mehr Kosten. «Die Vorlage will Einsparungen, weil zusätzliche Einnahmen für die IV sehr unwahrscheinlich sind», sagt SP-Nationalrätin Silvia Schenker. Sie fürchtet, dass bürgerliche Parteien in den Beratungen weitere Sparmassnahmen einbringen möchten, «durch zusätzliche Kriterien und Klauseln, die zu weiteren Einsparungen führen».
Einsparungen, die die Invalidenversicherung laut Bundesrat nicht bräuchte. Zwar sitzt die IV immer noch auf einem riesigen Schuldenberg von rund 11,5 Milliarden Franken. Doch seit der letzten IV-Revisionen von 2011 und der Überbrückungsmassnahme mit der vorübergehend höheren Mehrwertsteuer sind die Schulden gesunken, in den letzten vier Jahren um 3,5 Milliarden Franken. Der Bundesrat rechnet damit, dass die IV bis 2030 ihre Schulden los ist.
Wenn die Politik aber trotzdem an verschärften Kriterien für die IV festhält, müssen die Sachbearbeiter in Zukunft noch kritischer fragen. Das Leiden der Beeinträchtigten dürfte bei der Berechnung der der Leistungen dann noch weniger ins Gewicht fallen.