Die fatale Logik des kurzen Prozesses

Die Debatte um die «Kuscheljustiz» nimmt bedenkliche Formen an. Ruckzuck zackzack – brauchen wir das wirklich?

Kuscheljustiz! Wieder ist der Strafvollzug auf der Anklagebank. Wieder kochen die Seelen an den Stammtischen. Wieder schreiben sich politische Einpeitscher in den sozialen Me­dien die Finger wund.

Das ist nach der mutmasslichen Tötung der 34-jährigen Therapeutin Adeline M. durch einen Häftling des Genfer Gefängnisses Champ-Dollon zu erwarten gewesen. Das war schon im Mai nach der Ermordung der 19-jährigen Marie Sch. in Payerne der Fall. Oder in der Debatte über das Resozialisierungsprogramm des jugendlichen Gewalttäters Carlos.

«Thaibox-Training für Messerstecher, Reit­therapie für Sexualstraftäter – was kommt noch?», heizte etwa der Zürcher BDP-Kantonsrat Rico Brazerol letzte Woche, kurz nach der schrecklichen Tat in Genf, auf Twitter die Stimmung an. Und «Blick online» veröffentlichte Leserkommentare unter dem Titel: «Vergewaltiger tötet Therapeutin auf Reitausflug: Wie krank ist das denn?!»

Es geht auch mit Vernunft, wie das Zürcher Modell zeigt.

Das ist nicht «krank», möchte man antworten, sondern ein Fehler mit furchtbaren Folgen, der im modernen Strafvollzug nicht hätte passieren dürfen. Ist deswegen gleich das ganze System schlecht? Sollen deswegen alle Gewalt- und Sexualstraftäter im Wieder­holungsfall automatisch verwahrt werden, wie das etwa SVP-Nationalrätin Natalie Rickli fordert?

Es geht auch anders, wie zum Beispiel das Zürcher Modell zeigt. Nach der Ermordung der Pfadi-Führerin Pasquale Brumann 1993 am Zollikerberg wurde der Strafvollzug völlig neu organisiert. Bewährungshilfe und Vollzugsbehörden wurden zusammen­gelegt, die Psychiatrie wurde dem Vollzug angegliedert – was den Austausch zwischen den einzelnen Stellen erleichtert hat. Das System hat Erfolg, die Rückfallquote konnte markant gesenkt werden.

In Zürich herrscht keine Kuscheljustiz. Wer gefährlich ist, wird verwahrt. Schonungslos. Es herrscht aber auch nicht die Stammtischlogik des «kurzen Prozesses». Es ist ein vernünftiges, ein menschliches System.

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Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 20.09.13

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