Ein Kind – um jeden Preis?

Jedes 100. Kind wird künstlich gezeugt. Bald soll es auch erlaubt sein, Embryonen auszusortieren. Wie weit darf Medizin gehen?

Jedes hundertste Kind wird im Reagenzglas gezeugt. Künftig soll es auch erlaubt sein, Embryonen auszusortieren. Wie weit darf die Medizin gehen?

Inszenierung ist Teil des Konzepts von Annegret Raunigk, deren Schwangerschaft europaweit Schlagzeilen macht. Bei RTL und «Bild am Sonntag» steht sie exklusiv unter Vertrag. Diese Medien berichten als Erste, wenn die 65-jährige Berlinerin und Mutter von 13 Kindern in ein paar Wochen ihre Vierlinge zur Welt bringt. Die Reproduktions­medizin machts möglich.

Der Fall Raunigk markiert den  vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die vor 30 Jahren begann. Und er wirft Fragen auf: Was darf die ­Medizin? Wie weit dürfen wir in die Evolution ­eingreifen? Welche gesellschaftlichen Folgen hat das?

Als 1985 das erste Schweizer «Retortenbaby» geboren wurde, waren Befruchtungen im Reagenzglas noch eine Seltenheit. Heute wird hierzulande jedes hundertste Kind so gezeugt.

Gesellschaftliches Experiment mit offenem Ausgang

Für ihren Kinderwunsch nehmen die Paare viel auf sich. Hormonspritzen belasten den Körper, Arzttermine kosten Zeit und viel Geld – oft Zehntausende Franken, bis es klappt. Doch längst geht es nicht mehr nur darum, Unfruchtbaren zu Nachwuchs zu verhelfen. Bei der Präimplanta­tions­diagnostik (PID), über die wir am 14. Juni abstimmen, geht es auch um Optimierung.

Dank der PID können Em­bry­o­nen in der Petrischale untersucht und im Falle von Erbkrankheiten aussortiert werden. Bislang war das in der Schweiz verboten.

Hier beginnen auch die ethischen Bedenken. Bei einem Ja zur PID würde die Unterscheidung in «lebenswerte» und «nicht lebenswerte» Embryonen institutionalisiert, meint etwa Stefanie ­Dadier vom Behindertenverband Insieme: Die ­Akzeptanz gegenüber Behinderten würde weiter sinken.

Solche Warnungen sind ernst zu nehmen. Auch wenn der Verfassungstext die PID streng ­reguliert und es verbietet, künstlich «bestimm­te Eigenschaften herbeizuführen». Der Fall der Vielfachmutter Annegret Raunigk zeigt, wie leicht medizinischer Fortschritt missbraucht werden kann.


Lesen Sie mehr zum Thema künstliche Fortpflanzung und Präimplantationsdiagnostik in unserem Dossier zum Wochenthema.

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