Eigentlich wollte ich ja etwas über «Bron/Broen» schreiben. Die TV-Serie, die derart dunkel und abgründig ist, dass einem die eigenen Probleme bald unerheblich vorkommen. Sofa-Katharsis vom Feinsten.
Endlich zeigt die BBC die vierte und leider letzte Staffel dieser Scandi-Noir-Thriller-Serie («The Bridge», in original Dänisch und Schwedisch mit englischen Untertiteln) mit Kommissarin Saga Norén (Sofia Helin) und vielen anderen alten Bekannten. Eine Riesenfreude.
Nuggi gefunden, Faden verloren
Doch wie so vieles in den letzten zwölf Monaten ist das so eine Sache mit der Freude über Dinge, die nicht direkt mit dem Kind (11,5 Monate) zu tun haben.
Episode eins der vierten Staffel von «Bron/Broen» dauert knapp eine Stunde. Eigentlich. Nach fünf Minuten: Moment, da schreit doch nicht nur diese Frau, die gerade gesteinigt wird (ja, gesteinigt), da schreit noch jemand. Volumen runter. Ja, das Kind. Ein herzerweichender Ton, der langsam zum Schrei anschwillt. Pausenknopf. Ja, ich eile.
Fünf Minuten später, der Nuggi ist gefunden, der Faden verloren. Wie gewohnt sind die Handlungsstränge bei «Bron/Broen» schnell und abenteuerlich gewoben, die Dramatis Personae voluminös. Noch bevor ich mich entscheiden kann, ob ich den Taxifahrer verdächtig finden soll oder einen der Zwillingsbrüder oder vielleicht gar einen der Polizisten, kommt es in der Wohnung schon wieder zu einem persönlichen Drama.
Diesmal hat der Ton nichts Herzerweichendes. Dieser Ton dringt in jeden Winkel des Wesens, schaltet tief im Nervensystem auf höchste Alarmstufe. Grösstmögliche Terrorabwehr ist jetzt gefragt. Er ist derart fürchterlich, dass kein Plot überlebt. Synapsen machen Kurzschlüsse, der TV stellt wie von selbst auf Pause.
Fight oder Flight
Es ist der absolute Ton, ein Ur-Schrei, der dem, der ihm ausgesetzt ist, nur zwei Möglichkeiten lässt: Fight or Flight, Kampf oder Flucht.
Und wer will schon aus seinem eigenen Heim vor seinem eigenen Nachwuchs flüchten. Jedenfalls wenn es draussen regnet und drinnen «Bron/Broen» läuft.
Also Kampf. Schnelle Finger schnappen sich die vorbereitete Flasche in der Küche, eilende Füsse stolpern Richtung Kinderzimmer. Dort liegt das Kind, das Gesichtlein rot, die Gesichtleinszüge bis zum Anschlag verzerrt, die verkrampften Händlein zur Zimmerdecke gestreckt.
Geschüttelt und ungerührt
Die Elefäntlein, die vom Mobile an der Zimmerdecke hängen, bleiben ungerührt, obwohl sich das Kind so benimmt, als würde es gerade gesteinigt. Mindestens.
Der einzig Gerührte setzt derweilen alle zur Verfügung stehenden legalen Mittel ein, um dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Liebliche Laute, Wiegen und Wogen: Dieser Zug ist längst abgefahren. Die Reaktion auf die eilig einmassierte Zahncreme zeigt schnell: Die Zähne sind nicht das Problem.
Für kurze Zeit überschreitet das Kind die Maximallautstärke, durchbricht mit Schall die Schallmauer. Hier, im kleinen Zimmer mit den bunten Elefäntchen, mitten in Basel-Stadt, um halb 11 Uhr nachts, bricht ein Winzling in Windeln die physikalischen Gesetze der Akustik.
Apropos Windeln: Die waren selbstverständlich auch nicht das Problem. Es war wie immer der Hunger. Die letzte Hoffnung steckt in der Flasche. Der gut geschüttelte, wohltemperierte Cocktail: 08/15-Noir-Inventar, einfach ohne Alkohol.
Nach einigen Verrenkungen und einem kleinen Luft-Ringkampf drei Babylängen über dem Parkett fällt auch dem Kind wieder ein, dass es ja an grossem Hunger leidet respektive kurz vor dem Hungertod noch seine letzten Schreie von sich gab. Dieses Ende noch einmal abwendend greift es mit beiden Händchen nach dem Schoppen, stillt sich mit Hingabe.
Stille. Endlich. Nur ein glückliches Glucksen und ein Tinnitus durchbrechen sie.
Ich sitze wieder auf dem Sofa vor dem TV. Nur selten habe ich eine Krimiserie so gerne empfohlen wie «Bron/Broen». Aber zur vierten Staffel kann ich mich leider noch nicht ausführlich oder zusammenhängend äussern. Was ich davon bisher mitbekommen habe, macht auf mich allerdings einen hervorragenden Eindruck.
Sämtlichen Protagonisten und Nebenfiguren der Serie geht es innert kürzester Zeit derart hundsmiserabel, dass einem auch sein Guantanamo-Baby ins rechte Licht gerückt wird. Es ist der grösste Schatz.