«Postskriptum» heisst der neue Roman von Alain Claude Sulzer. Entstanden ist er aus einer Erzählung, die der Basler Autor für das Hotel Waldhaus in Sils Maria geschrieben hat, wie er im Interview erzählt. Ein Gespräch über das neue Buch, mondäne Hotelwelten, politisierende Künstler und die grosse Liebe, die er seinen Figuren immer verwehrt.
Wir sitzen hier in der Lobby des Trois Rois. Als wir das Basler Luxushotel als Ort für das Interview vorschlugen, reagierten Sie spontan erfreut – oder täuscht das?
Alain Claude Sulzer: Es ist halt nahe bei meiner Wohnung. (lacht)
Ist das der einzige Grund? Oder fühlen Sie sich in einer mondänen Umgebung einfach wohl?
Nicht wohler als daheim, aber natürlich, ich fühle mich wohl hier.
Weil hier die vornehmen Leute verkehren?
Ich glaube nicht, dass hier grundsätzlich vornehmere Leute verkehren – die Leute sind einfach reich, sie haben das Geld.
In Ihrem neuen Roman «Postskriptum», aber auch bereits in «Ein perfekter Kellner» (2006) beschreiben Sie Luxushotels in einer Zeit, als die Gäste tatsächlich noch vornehm waren.
Ja, das liegt an der Zeit, an den Dreissigerjahren. Wobei die Romane sehr unterschiedlich sind. Die Umgebung beim «Kellner» ist zudem ahistorisch, weil das Grandhotel Giessbach damals gar kein Hotel war, sondern eine Unterkunft für Offiziere. Im Gegensatz dazu ist der historische Hintergrund beim Hotel Waldhaus in Sils Maria nachweisbar richtig. Mit der einzigen Ausnahme, dass es damals keine Drehtüre gab.
Sie bauten in beide Romane reale Figuren ein. Der Hauptprotagonist in «Postskriptum», der Schauspieler Lionel Kupfer, ist eine fiktive Figur, andere Figuren aber sind historisch verbürgt. Ist das eine Spielerei von Ihnen?
Ja, aber das sind wirklich Nebenrollen. Die spielen einfach im Leben Kupfers eine gewisse Rolle. Zum Beispiel Luchino Visconti. Der kommt im Roman kaum als Person vor, aber als Filmregisseur, der etwas bewegt. Und überdies verkehrte er tatsächlich im Waldhaus: Hätte mir der Direktor nicht gesagt, dass Visconti jedes Jahr wieder kam, wäre ich nie auf diese «Bellissima»-Geschichte gestossen, die ich im Buch erzähle. Das hat sich sehr gut gefügt.
Sie nennen alle historischen Personen bei ihrem richtigen Namen, ausser Thomas Mann, der auch regelmässig Gast im «Waldhaus» war. Ist das so, weil der bereits im «Perfekten Kellner» Julius Klinger hiess?
Ja, wahrscheinlich hätte ich sonst dieses Mal seinen richtigen Namen genannt.
Warum kommt Klinger, der inhaltlich in «Postskriptum» keine Rolle spielt, überhaupt vor?
Ein Augenzwinkern. Es gibt noch weitere Anspielungen auf Romane anderer Autoren, die auftreten. Das merken die einen Leser, die anderen nicht.
Wenn man das «Waldhaus» betritt, dann hat man das Gefühl, als würde die Zeit um 80 Jahre zurückgedreht. Man fühlt sich anders als draussen …
Es ist erstaunlich, dass es keinen anderen Roman gibt, der im «Waldhaus» spielt, wenn man bedenkt, wie viele Leute und vor allem Schriftsteller da gewohnt haben. Das Zurückdrehen der Zeit kann man so empfinden, das ist aber wohl auch so beabsichtigt. Und das Moderne darf nicht fehlen – zum Beispiel die riesige Spa-Anlage, die gerade gebaut wird.
Hotels sind beliebte Schauplätze für Literatur oder auch Film. Wir denken da, wenn wir schon Thomas Mann erwähnt haben, an «Zauberberg» oder «Tod in Venedig». Ist das eine Reverenz an ihn?
Nein, aber Hotelumgebungen sind ein Topos der Literatur.
«Ich schrieb eine Erzählung, die eigentlich abgeschlossen war – und fand dann, daraus mache ich einen Roman.»
Woran liegt das?
Weil man so viele Leute auf engen Raum bringt, weil sich da so viele Geschichten erzählen lassen. Es handelt sich bis zu einem gewissen Grad um eine geschlossene Gesellschaft.
Mögen Sie deshalb historische Hotels als Umgebung?
Auch. Heute wohnt man zwei, drei Tage in so einem Hotel. Damals war es ein Ort, wo man sich wochenlang aufhielt. Es war wie eine Insel. Im Falle von «Postskriptum» gibt es aber äusserliche Gründe, warum er zu einem grossen Teil in diesem Hotel spielt: Der Roman geht vom jetzigen ersten Kapitel aus, das ich speziell für eine Anthologie des «Waldhauses» schrieb. Es war ein Auftrag an 15 Schriftsteller, etwas zu schreiben, das einen Bezug zum «Waldhaus» hat. Ich schrieb eine Erzählung, die eigentlich abgeschlossen war – und fand dann, daraus mache ich einen Roman. So entwickelte sich die Erzählung weiter.
Es gab gar keine Vorgaben? Ein festgelegter Zeitraum oder ähnliches?
Nein. Ich weiss auch gar nicht mehr, ob es in meiner Erzählung klar war, in welcher Epoche die Geschichte spielt – ob in der Gegenwart oder in den Dreissigerjahren. Ich weiss nur, dass es sicher nicht jenes Wochenende Ende Januar, Anfang Februar 1933 war, an dem Hitler an die Macht kam, und das nun den Ausgangspunkt des Romans bildet.
Was gab den Anstoss, einen Roman daraus zu machen?
Es war die Konstellation dieser drei Männer, des Filmstars, seines Geliebten und des Postbeamten. Das war es, was mich trieb. Der Filmstar hätte auch in einer Ferienwohnung wohnen können. Das Hotel war für die Ausgangslage des Romans gar nicht so wichtig. Aber der Moment: 1933, letzte Januarwoche – der war wichtig.
Sie schreiben in einer Anmerkung, Teile des Romans seien im Zimmer 224 geschrieben worden …
… ganz minime Teile, ja. Ziemlich am Schluss, ein paar Seiten. Ich hielt mich da also nicht wochenlang auf.
Sie beschreiben Künstler, die viel Geld hatten und sich den wochenlangen Aufenthalt im Hotel Waldhaus leisten konnten. Fragen wir ganz unverschämt: Könnten Sie sich dieses Hotel so lange leisten wie Lionel Kupfer?
Nein! Nein. Das können sich ja ganz viele Leute nicht leisten. Das Gute am «Waldhaus» ist sein umfangreiches Kulturprogramm. Dadurch haben viele Künstler die Möglichkeit, dort zu wohnen. Denn wenn man da auftritt, wird man mit Kost und Logis bezahlt.
«Ist der wirklich Coiffeur?» fragt Alain Claude Sulzer, leicht verblüfft. (Bild: Nils Fisch)
Wechseln wir von der realen in die fiktive Hotelumgebung: Sie sagen, um an der Geschichte weiterzuschreiben, sei der beschriebene Zeitraum Ende Januar 1933 fast noch wichtiger gewesen als der Auftrag des Hotels. Gleichzeitig erscheinen die Personen im Roman sehr unpolitisch – gerade auch Lionel Kupfer, dessen Leben als Jude und Homosexueller durch Hitlers Machtübernahme massgeblich verändert wird. Haben Sie das politische Geschehen absichtlich als Nebenschauplatz belassen?
Ich denke, es ist für Kupfer ein Nebenschauplatz. Er macht aus der Situation das Beste. Doch es gibt keinen Grund, warum jemand, dessen Schicksal sich durch politische Umstände verändert, politisiert werden soll – wie soll das überhaupt aussehen? Soll er in eine Partei eintreten? Er ist vorher nicht politisch gewesen, und die veränderten Umstände machen ihn nicht politischer, höchstens hellhöriger für bestimmte Dinge. Es ist klar, dass er sein Leben nicht mehr weiterführen kann wie bisher. Sein Schicksal hat ja nichts mit seiner politischen Einstellung zu tun.
Vielfach hört man aus jener Zeit von Kunstschaffenden, die sich sehr stark politisch engagiert haben, gerade auch aus dem Exil heraus. Da überrascht es vielleicht, über jemanden zu lesen, der sich nicht aktiv damit auseinandersetzt …
Ich denke, die waren vorher schon politisiert. Zum Beispiel Thomas Mann, der sich erst sehr spät politisch äusserte – obwohl die Familienmitglieder sehr engagiert waren. Heute mag das anders sein, heute ist man auch informierter.
Ein Künstler, der sich politisch betätigt – da fällt uns ein Essay ein, den Sie für die NZZ geschrieben haben, in dem Sie erzählen, dass Sie davon geträumt hätten, Nationalrat zu sein …
Das habe ich nur geträumt, weil es diese komische Partei «Kunst+Politik» gibt …
Sie kritisieren darin, dass die Künstler, die sich dafür interessieren, die gleiche Agenda vertreten wie die Berufspolitiker. Richtig?
Ich finde, die können das gerne machen. Wobei ich nicht begreife, warum sie das nicht aus bestehenden Parteien heraus machen. Aber man sollte nicht schon beim Antritt sagen, man sei sowieso chancenlos. Wer so auftritt, so mein Eindruck, will auf keinen Fall politische Verantwortung übernehmen.
Es gibt im Raum Basel auch niemanden, der für diese Gruppe kandidiert. Wäre das nichts für Sie gewesen – ein bisschen aufmischen, das Ganze?
Danke, nein. (lacht)
Zurück zu Lionel Kupfer: Er politisiert nicht, haben wir festgestellt. Ist er denn ein Opfer der politischen Umstände? Er ist schwul, er ist Jude, er ist Künstler – schlimmer kanns ihn nicht treffen, oder?
Er ist ein Opfer, ja. Aber er empfindet sich nicht sehr lange als Opfer. Er kann sehr gut relativieren. Ich denke auch, dass er innerhalb der vielen Opfer eine privilegierte Postition innehat: In New York kann er sich eine bescheidene Wohnung leisten, ohne arbeiten zu müssen. Er geht nicht am Bettelstab.
«Als Leser kann man alles interpretieren.»
Und Theres, die Mutter des Postbeamten Walter? Sie hat die grosse Opferrolle in diesem Roman …
Ich habe sie eigentlich zuerst gar nicht als Opfer gesehen, aber sie ist es tatsächlich. Ich wollte mit den Figuren nichts beweisen, behaupten oder belegen. Diese Figur war einfach relativ schnell da, und sie war mir wichtig. Ja, auch als Opfer.
Sie hat aber auch eine andere Rolle. Im Roman wird ganz vieles zunächst nur diffus beschrieben, angedeutet – zum Beispiel die Homosexualität ihres Sohnes Walter, die sie bis zum Schluss nicht richtig durchschaut. Sie fungiert deshalb wie eine Stellvertreterin des Lesers im Roman, der auch den Spuren folgen muss, um Klarheit zu erlangen. Oder ist das überinterpretiert?
Nein, ich finde, als Leser kann man alles interpretieren. Es ist als Autor nur manchmal schwierig, das nachzuvollziehen, weil sich die unterschiedlichen Interpretationen, die man hört, vermischen. Ich fand vor allem die Konstellation spannend: Der Sohn, dem die einfache Mutter peinlich ist, der aufsteigen will. Er ist frei, ist aber nicht fähig, mit ihr zu kommunizieren. Wahrscheinlich waren sich die beiden einmal sehr nahe, sie war alleinerziehend, er das einzige, uneheliche Kind. Wenn er weggeht, will er mit der Vergangenheit nichts mehr zu tun haben. Für sie aber bedeutet er den Lebensinhalt. Sie leidet bis zum Schluss für ihn – ohne genau zu wissen, wieso.
Es gibt neben den Opfern auch Täter, zum Beispiel Lionels Liebhaber Eduard, der als Kunsthändler mit den Nazigrössen verkehrt und kollaboriert. Ist er auch für Sie ein Täter?
Er ist einfach ein Nutzniesser, der über das, was er macht, stolpert. Tödlich stolpert. Er ist eigentlich sehr geschickt, es ist eher schicksalhaft, was ihm passiert. Aber potenziell ist er einer, der einfach mitmacht.
Es gibt also keine wirklichen Täter und auch keine eindeutigen Opfer. Sie haben einen Künstlerroman geschrieben, in dem der Künstler kein Künstler mehr sein darf. Es ist ein Liebesroman, in dem die grosse Liebe nicht stattfinden darf. Und es ist ein Blick auf ein Kapitel des Zweiten Weltkrieges, ohne wirklich mittendrin zu stecken. Ist diese Art der Betrachtung aus der Distanz heraus Ihre typische Herangehensweise an ein Thema?
Ja. Ich kann eigentlich nur Ja sagen. Was soll ich sonst darauf antworten. Es gibt verschiedene Arten, sich einem Thema zu nähern. In diesem Fall war das die ideale Form. Eine gewisse Distanzierung …
… Understatement?
Ja. Ich lasse viel Freiraum – dem Leser, aber auch mir. Dann muss ich mich nicht so festlegen – das ist meine literarische Grundeinstellung. Nicht wie in der modernen amerikanischen Literatur, wo alles genau ausgemalt und ausgedeutet wird. Das entspricht mir nicht.
Die grossen Ungeheuerlichkeiten liest man bei Ihnen zwischen den Zeilen, zum Beispiel in jener Stelle, wo ausgerechnet der Geliebte Eduard Lionel Kupfer übermittelt, dass sein geplanter Film nicht gedreht werden wird und dass seine Schauspielkarriere in Deutschland generell einen Bruch erleidet.
Genau. Das ist eine Schlüsselstelle im Roman. Hier ist die Unvereinbarkeit der beiden augenfällig. Der eine ist nun glücklich, ihm geht es besser denn je, er kann sich gar nicht vorstellen, wie es dem anderen geht, der nun keine Arbeit mehr hat. Man kann sich das in etwa so vorstellen wie einen Ehemann, der zu seiner Ehefrau kommt und sagt: Ist das nicht fantastisch, ich habe eine Geliebte! Und der dann ganz erstaunt ist, dass sie das nicht so toll findet.
Sie beschreiben in dieser Szene sehr detailreich die lähmenden Gefühlsmomente von Lionel. Fliesst Ihnen eine solche Stelle einfach aus den Fingern, oder arbeiten Sie da immer und immer wieder dran?
Ich arbeite an allem sehr genau, an jeder Seite. An dialogischen Stellen wohl noch mehr als an anderen. Es muss so klingen, als könnte es wirklich so gesagt worden sein.
«Ist der wirklich Coiffeur? Ich sollte vor einem Interview wohl das Buch noch mal lesen.»
Sie haben gesagt, die drei Figuren aus dem ersten Kapitel waren der Grund, weshalb Sie die Erzählung zum Roman ausgeweitet haben. Wie kamen die anderen Figuren dazu, die alle zusätzliche thematische Facetten ins Buch bringen? Hatten Sie die Themen im Kopf und suchten Figuren dazu, oder umgekehrt?
Das ist wie ein Geflecht, das sich ausbreitet. Die drei zentralen Figuren waren von Anfang an klar. Es war aber gar nicht klar, was zum Beispiel aus Walter wird.
Er wird Steward bei der Swissair. Apropos Walter: Sie beschreiben am Schluss einen Flugzeugabsturz, machen aber nicht klar, ob Walter dabei ums Leben kommt …
Aber das ist doch offensichtlich, dass er umkommt.
So offensichtlich fanden wir das nicht … Bei Walter haben Sie sich übrigens eines typischen Klischees bedient: ein Schwuler, der Steward wird. Eine bewusste Entscheidung?
Das ist ja nicht nur ein Klischee, das entsprach damals tatsächlich der Wirklichkeit. Man hatte bei der Swissair auch sehr gute Aufstiegschancen.
Und dass sein Freund ausgerechnet Coiffeur ist?
Ist der wirklich Coiffeur? Ich sollte vor einem Interview wohl das Buch noch mal lesen. (lacht)
In Ihren Romanen gibt es oft asymmetrische Liebesbeziehungen …
Ich weiss nicht, ob das so ist. Man kann sich ja fragen, ob das wirklich Liebesbeziehungen sind oder nicht eher extrem vorübergehende Leidenschaften. Gut, Lionel und Eduard, ja. Walter vergöttert Lionel, dass sie sich so nahe kommen, kommt einem Traum gleich. Da ist es für Walter aber auch normal, dass es asymmetrisch ist und nicht funktionieren kann.
Glauben Sie denn nicht an die grosse, erfüllte Liebe?
Doch, ich schon, aber diese Personen nicht. Gewisse Dinge sind für mich einfach nicht Roman-Thema. Zum Beispiel eben die grosse, erfüllte Liebe.
Warum nicht? Ist sie zu langweilig?
Ich komme gar nicht auf den Gedanken, wahrscheinlich ist sie langweilig, ja … Ziemlich wahrscheinlich ist sie langweilig. Eine grosse, erfüllte Liebe ist einfach … (zögert)
… gross und erfüllt?
Ja, was soll man sonst noch daraus machen?
Lionel Kupfer muss zur Kenntnis nehmen, dass er im Film von Visconti, in dem er in einer Nebenrolle sich selber spielt, herausgeschnitten wurde. Er verschwindet aus dem Film, der sein Comeback hätte bedeuten können, so wie der ehemalige Filmstar aus der deutschen Filmszene gestrichen wurde. Warum schliessen Sie den Roman nicht damit ab?
Es war mir wichtig, es nicht so zu lassen, wie man es am Ende eines solche Romans erwarten würde. Es sollte noch einmal leicht aufwärts gehen für ihn.
Ein versöhnliches Postskriptum?
Ja. Es gibt dem Ganzen noch eine Ausgeglichenheit. Der Roman hat ja genügend Deprimierendes, denke ich. Da kann man Lionel das gönnen.
Wir hätten da noch ein kleines Postskriptum:
Ob Walter beim Flugzeugabsturz stirbt oder nicht, lässt der Roman tatsächlich offen. Es steht nur geschrieben: «Walter würde vielleicht antworten, vielleicht auch nicht. Nichts zwang ihn dazu. Er selbst (Lionel, Anm. d. Red.) erwartete keine Antwort.»