Überforderung, Konkurrenzdenken, Drill: Erwin Wagenhofer kritisiert im Dokumentarfilm «Alphabet», wie die Schule Kinder unter Druck setzt, statt sie zur Entfaltung zu bringen.
Erwin Wagenhofer mag noch immer. Auch nach dem sechsten Interview in Folge redet sich der 52-jährige Österreicher in Fahrt, wenn es um seinen neuen Dokumentarfilm «Alphabet» geht. Den Irrsinn der Nahrungsmittelindustrie («We Feed the World») hat er schon behandelt, die Exzesse der Finanzwelt («Let’s Make Money») ebenso, jetzt geht der Regisseur im letzten Teil seiner Trilogie der Grundlage dieser globalen Krisen auf den Grund.
«Alphabet» macht den Konkurrenzdruck und die Ökonomisierung der Schulen verantwortlich für eine Bildungsmisere, die gerade in den regelmässig durchgeführten Pisa-Studien zum Ausdruck kommt: Die Standardisierung von Leistung und Wissen sei Ausdruck einer «Verzweckung», die unsere Gesellschaft teuer zu stehen komme, argumentiert Wagenhofer. Der Dokumentarfilm ist eine Polemik für eine gute Sache und trifft einen wunden Punkt – gerade auch in der Schweiz, die sich mit der Umsetzung des «Lehrplans 21» schwertut.
Herr Wagenhofer, wie haben Sie selbst die Schule erlebt?
Meine Schulzeit war total relaxt. Ich war lange in der Schule, ich schloss alle Schulen, die ich anfing, auch ab. Ich war kein guter Schüler und lernte in dieser Zeit trotzdem wahnsinnig viel. Das meiste beim Basteln mit meinen Freunden, wir beschäftigten uns mit Fotoapparaten und technischen Sachen, das faszinierte uns.
Wie ist das heute? Muss man sich bei der Einschulung der Kinder Sorgen machen?
Weshalb Sorgen? Sich darüber Gedanken zu machen, wo man die Kinder hingibt, damit sie ausgebildet werden – gebildet werden sie ja nicht mehr –, kann sicher nicht schaden, aber Sorgen würde ich mir keine machen. Wenn Sie in den ersten sechs, sieben Jahren alles richtig gemacht haben, kann das auch die Schule fast nicht mehr verhauen.
«Es ist kein Ratgeberfilm. Wenn ich wüsste, wie es geht, würde ich nicht hier sitzen.»
Und was muss man richtig machen?
Das Wichtige ist das Vertrauen. Kinder sind Wunder, die zu uns kommen und eigentlich schon alles haben. Natürlich ist das alles noch nicht entwickelt und entfaltet. Deshalb brauchen sie uns ja auch, um sie zu begleiten und diese Entwicklung zu ermöglichen. Leider geht das oft in eine Richtung, die nicht so gut ist, und darum haben wir solche Probleme. Niemand, der unser Schulsystem befürwortet, kann die Debatte übersehen, die entstanden ist. Und auch diese Debatte ist nicht neu, Reformpädagogen haben schon vor hundert Jahren darüber gesprochen. Wenn dieser Reformbedarf so gross ist, kann doch etwas nicht stimmen. Der Film ist als Diskussionsbeitrag gedacht, nicht mehr. Es ist kein Ratgeberfilm. Wenn ich wüsste, wie es geht, würde ich nicht hier sitzen.
Wieso wird diese Debatte um das Schulsystem gerade jetzt wieder so heftig geführt?
Der Anlass ist die Unzufriedenheit mit dem, was wir haben. Wir hatten jetzt 60 Jahre Wachstum, wir sind – nicht alle – reich geworden, aber wir sind emotional komplett verarmt. Das ist der Grund, weshalb wir diese Krisen haben. Alles, was das Leben lebenswert macht, ist verloren gegangen, weil alles nur noch dem Profit unterstellt ist. Diese Verzweckung greift jetzt auch in der Schule um sich, zu meiner Zeit hat es das noch nicht gegeben: Man hat sich nicht den ganzen Tag lang darüber gesorgt, was aus den Kindern werden soll. Es gibt ja Menschen, die Kinder schon mit eineinhalb Jahren dazu anhalten, Fremdsprachen zu lernen, was völlig absurd ist. Der Hintergedanke ist, dass die Kinder an dieser Wirtschaftswelt, die wir selbst gestaltet haben, teilnehmen können. Und Angst ist kein guter Start, Kindheit soll Kindheit sein.
Wo muss man Ihrer Meinung nach denn ansetzen? Braucht es eine andere Schule, um das System zu ändern? Oder muss man das System ändern, um die Schule zu erneuern?
Zweiteres, ganz sicher muss man das System ändern. Als Beispiel: ADHS ist eine moderne, fiktive Krankheit, die es vor hundert Jahren noch gar nicht gegeben hat. Es gibt ganze Kontinente, wo man nicht einmal weiss, was das ist. Ich sehe ADHS-Kinder als Seismografen unserer Gesellschaft. Das heisst – anstatt, dass man hinschaut, wenn Kinder rechtzeitig ausflippen und uns vor einem Erdbeben warnen, streckt man sie mit Medikamenten nieder. So gehen wir immer mit Problemen um, wir machen Symptombekämpfung, statt uns zu fragen, warum? Und die Lösung, die wir finden, ist interessanterweise immer eine wirtschaftliche, die wahnsinnig viel Geld kosten muss. Dabei kann man sich die schönsten Sachen gar nicht kaufen. Was sich nicht als monetärer Wert ausdrücken lässt, ist sinnlos geworden. Dagegen wehre ich mich, das finde ich dramatisch, besonders für die Kinder.
«Die OECD hat Bildung als Wachstumsmarkt erkannt, irgendwo müssen wir ja wachsen – materiell.»
Wieso beginnt Ihr Film in China?
Der Grund, weshalb wir überhaupt nach China gefahren sind, waren die tollen Ergebnisse der Pisa-Studie. Was ein Riesen-Fake ist, muss man wissen. China ist gar nicht bei der OECD; Pisa wird auch nur in zwei Städten getestet, nämlich in Schanghai und in Hongkong, beides sehr westlich orientierte Städte. In beiden werden nur wenige Schulen getestet, diese bereiten sich wahnsinnig gut vor und haben entsprechende Ergebnisse. Dann kommt Pisa aber nach Europa und in die USA und sagt: Da schaut, wir müssen etwas machen. Doch die Idee dahinter war nie, dass unsere Kinder besser lesen lernen, sondern Wirtschaftswachstum. Nach dem Pisa-Schock 2003 wurde in Österreich im vergangenen Jahr eine grosse Studie durchgeführt zur Frage, was sich verändert hat. Die Antwort: nichts, ausser dass wahnsinnig viel Geld in die Nachhilfeindustrie gepumpt wurde. Denn die OECD hat Bildung als Wachstumsmarkt erkannt, irgendwo müssen wir ja wachsen – materiell; geistig sind wir eh unterbelichtet. Und das Fiese daran ist: Jeder ist dafür anfällig. Wenn schlechte Rückmeldungen aus der Schule kommen, fangen Familien an, sich richtig Sorgen zu machen.
Im Abstimmungskampf zur Masseneinwanderungsinitiative der SVP wurde Schweizer Arbeitnehmern immer wieder mit gut ausgebildeten Zuwanderern gedroht. Also macht nicht nur zu wenig, sondern auch zu viel Bildung Angst?
(Lacht) Da müssten wir uns erst einmal darüber unterhalten, was Bildung ist.
Bitte.
Bildung ist das, was in Österreich unter Artikel 14 in der Verfassung steht: Da hat man festgelegt, was am Ende dabei herauskommen soll, nämlich der mündige Bürger, die mündige Bürgerin, die mit sich und der Umwelt solidarisch lebt und auf Herausforderungen positiv zugehen kann. Mit anderen Worten: Jemand, der sich ein Bild von der Welt gemacht hat und sich darin zurechtfindet. Aber davon sind wir heute meilenweit entfernt. Heute haben wir Experten, die nur in geschlossenen Systemen agieren, die voneinander entkoppelt sind. Und das kann es doch nicht sein. Das ist das, was man in der Medizin ganzheitlich denkt: Ich kann ja nicht Hirnchirurg sein, ohne zu wissen, was das für eine Auswirkung auf das Sprachzentrum hat, wenn ich irgendwo herumschneide. Aber in der Bildung macht man genau das. In unserem Kulturraum zum Beispiel ist das Brot, das der Bäcker herstellt, etwas Heiliges. Brot hat eine grosse Symbolkraft. Aber der Bäcker bekommt in Österreich 1200 Euro Monatsgehalt, so niedrig bewerten wir das. Während ein Experte, der vielleicht in St. Gallen Wirtschaft studiert hat, an der Börse mit Getreide spekuliert und Hungersnöte in die Welt setzt, dabei das Zehntausendfache von einem Bäcker verdient. – In dieser verkehrt konditionierten Welt leben wir, und das möchte ich hinterfragen.
Sie schlagen mit der Figur des Bäckers einen Bogen zurück zu Ihrem Erstling, «We Feed the World», dem ersten von drei globalisierungskritischen Filmen. Haben Sie diese Trilogie so geplant oder hat sie sich von selbst ergeben?
Sowohl als auch. Witzigerweise war der letzte Teil derjenige, der mich am längsten interessierte. Das Thema beschäftigt mich seit meinem 17. Lebensjahr. Damals kam die Grünenbewegung auf, die die Umweltverschmutzung anprangerte: verdreckte Flüsse, Waldsterben usw. Als junge Studenten haben wir das viel diskutiert, aber ich habe schon damals gedacht, dass das wirkliche Problem nicht die physische Umweltverschmutzung ist, sondern die geistige: Der Schmutz, den wir in uns tragen. Deshalb ist «Alphabet» nicht so sehr ein Film über Bildung, sondern über die Haltung dahinter. Denn es wird mir niemand unterstellen können, dass ich keine Bildung haben will: Kulturtechniken wie Lesen und Schreiben sind ja was Tolles und auch Befreiendes. Nur ist die Hauptfrage bei jedem Film das Timing: Nicht nur innerhalb, also wann kommt was in welchem Kontext, sondern auch ausserhalb. Ein Film, der zu früh kommt oder zu spät, geht unter. Selbst ein Film wie Michael Hanekes «Amour» hätte vor zehn Jahren niemanden interessiert. Aber er ist zu einem Zeitpunkt gekommen, wo Alter und Tod in der Gesellschaft plötzlich wieder ein Thema sind. So ähnlich haben wir es auch gemacht.
Wo Sie schon andere Regisseure erwähnen: Warum interessieren sich Filmemacher aus Ihrem Land wie Ulrich Seidl, Hubert Sauper oder Michael Glawogger so stark für die Globalisierung?
Diese Frage wurde mir schon oft im sogenannten Ausland gestellt, deshalb habe ich auch darüber nachzudenken begonnen. Wahrscheinlich ist es wie immer nicht so einfach, aber: Wenn Sie in Österreich nicht ein Wunderkind sind und sich mühsam in der Filmbranche durchsetzen – ich habe meine erste Förderung mit 39 Jahren bekommen –, dann haben Sie schon so einen langen Weg hinter sich, dass Sie nicht mehr nach links und rechts schauen. Dieser harte Weg, der einen stark macht, mag vielleicht eine Antwort sein, mehr kann ich dazu nicht sagen.
Welches pädagogische Ziel verfolgen Sie selbst mit einer Dokumentation? Was wollen Sie den Zuschauern mitgeben?
Beim Mitgeben ist es so – das hat mit dem Thema von «Alphabet» viel zu tun – da würde ich gerne das «Geben» hervorheben, und das führt uns ganz schnell zu etwas, was wir alle haben: die Gabe. Das Drama ist, dass wir von einem schlechten Menschenbild ausgehen. Bei mir ist das anders: Das Leben ist ein Wunder. Das ist ein blöder Satz, aber er stimmt. Da kommen diese Kinder mit all ihren Gaben und wollen nichts anderes, als diese Gaben ausleben zu können, um zu geben – was ja der eigentliche Sinn der Schulzeit wäre. Ich hatte als Filmemacher selbst das Glück, an diesen Punkt zu kommen – lange genug gedauert hat es ja –, darum möchte ich nur noch geben. Alles andere interessiert mich nicht mehr.
«Wie jeder Filmemacher bin ich ein Dramatiker, der zuspitzt.»
Sie haben mittlerweile auch einen Spielfilm gedreht. Worin sehen Sie den Unterschied zum Dokumentarfilm?
Ich würde lieber von «Fiction» und «Non-fiction» sprechen, ausnahmsweise sind die englischen Begriffe besser. Bei Dokumentation glauben die Leute immer, dass es etwas Beglaubigtes ist, ein abgestempeltes Dokument. Wie jeder Filmemacher bin ich aber ein Dramatiker, der zuspitzt. Das braucht es sehr oft, damit ein Film überhaupt verstanden wird. Ich überlege mir also, was den grössten «Impact» hat, und manchmal sind das eben wirkliche Menschen, keine Schauspieler. Da gibt es dann keine Ausrede für den Zuschauer, der rausgeht und denkt: «Oh Gott, oh Gott, aber es war ja nur ein Film.» Das ist die Stärke des non-fiktionalen Kinos. Im fiktionalen kann ich dagegen Dinge machen, die im non-fiktionalen Kino nicht möglich sind, weil ich gar nicht zu gewissen Situationen vordringen kann. Das hat viel mehr mit Fantasie zu tun, und die Stärke der Fiktion liegt eben nicht dort, wo sie noch dokumentarischer sein will als das Dokumentarfilmkino.
Erzählen Sie mir bitte, wie «Alphabet» zu seinem Kommentar kommt, obwohl Sie kein einziges Wort darin sprechen.
Da plaudere ich jetzt aus der Schule und sage Folgendes: Es gibt offiziell keinen Kommentar, aber natürlich gibt es einen. Bei «Alphabet» war ich vor einem Jahr in einer sehr unglücklichen Lage, weil ich die eine Figur nicht bekommen habe. Allerdings kannte ich eine einstündige Rede und habe auch die Rechte dafür erhalten, so dass wir sie benutzen und zu einem Kommentar schneiden konnten. Mit einem anderen Protagonisten spreche ich zum Beispiel über Angst oder Liebe. Ich sage ihm, dass das schon immer der Untertitel von «Alphabet» war, und er nimmt das auf und erzählt etwas dazu. So bekomme ich Dinge, die ich schon lange im Kopf hatte. Es ist nicht so, dass ich manipuliere in dem Sinn, dass ich anderen etwas in den Mund lege, das geht gar nicht. Aber ich kann Fragen stellen und bekomme auch Antworten. Dort beginnt das non-fiktionale Kino stark zu werden, wo plötzlich Dinge kommen, die man so gar nicht erwartet.
Wie zum Beispiel, dass ein deutscher Hirnforscher über den ehemaligen Todesstreifen zwischen BRD und DDR wandert und dazu philosophiert. Was hat das mit Bildung zu tun?
Das hat wahnsinnig viel mit Bildung zu tun, aber nicht im positiven Sinn. Schule ist in erster Linie ein Konditionierungssystem. Während seines Gerichtsverfahrens in Jerusalem wurde Adolf Eichmann gefragt, warum der Holocaust passiert ist. Er sagte: «Der Drill in der Schule.» So kommt kein Mensch zur Welt, dazu wird er gemacht! Und wissen Sie, was die Vorläufer der Schulen waren? Die Kasernen. In Österreich gibt es die Schulpflicht seit 1774, weil das preussische Heer das österreichische immer geschlagen hat. Da fragte die Regentin Maria Theresia einmal nach, was denn da los sei. «Was können die anderen besser?» – «Na, die haben Schulen, die unterrichten ihre Soldaten.» – «Dann machen wir das auch.» So wurden die Kinder in die Kasernen getrieben, die ersten Lehrer waren Offiziere, und die getakteten Einheiten kommen auch vom Militär. Heute sind die Offiziere zwar weg, aber das Takten ist geblieben. Und ich frage mich, ob wir nach 200 Jahren nicht endlich in einer anderen Zeit leben sollten.
Wer ist denn jetzt gefordert?
Wir, wer sonst. Das war lange der Arbeitstitel des Films. Wir sind für 99 Prozent aller Krisen selbst verantwortlich; das ist, wenn Sie so wollen, die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Wir sind nicht nur das Problem, sondern auch die Lösung. Und es kommen jetzt schon Generationen, die lassen sich das alles nicht mehr gefallen.
Was ist das Beste, was Kindern in der Schule passieren kann?
Dass sie jemanden haben, der an sie glaubt. Denn das sind die Leute, die uns wirklich weiterbringen. Nicht die, die uns irgendeinen schwierigen Lehrsatz beigebracht haben, sondern die, die in unserer Schulzeit gesagt haben: „Pass auf, aus dir wird was!“ Dein Talent ist vielleicht die Sprache, deines vielleicht die Mathematik, du bist in einem Handwerk gut. Diese Leute, die zu uns eine Beziehung aufgebaut haben und uns nicht erziehen wollten, die haben uns weitergebracht. Das muss nicht der Lehrer sein, das kann jemand aus dem Sportverein sein, der Opa, seltener die Eltern, weil die selber gestresst sind. Und wenn Sie so jemanden nicht haben, dann haben Sie ein echtes Problem. Und das ist schade.
Erwin Wagenhofer
Der
1961 in Amstetten geborene österreichische Autor und Filmemacher war
nach einer Ausbildung zum Nachrichtentechniker zunächst als Entwickler
in der Video-Abteilung bei Philips Österreich tätig. 1983 wechselte er
als freischaffender Regie- und Kameraassistent in die Filmbranche, seit
1987 ist er freischaffender Autor und Filmemacher.
2005 realisierte
Wagenhofer seinen mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm «We Feed the
World», in dem er die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion
kritisch untersuchte. 2008 dokumentierte Wagenhofer in «Let’s Make
Money» die Geldströme im globalen Finanzsystem, zwei Jahre später
veröffentlichte er seinen ersten Spielfilm: «Black Brown White» erzählt die Geschichte eines österreichischen Fernfahrers, der Afrikaner illegal nach Spanien bringt.