Nicole Wagner, Leiterin der Basler Sozialhilfe, steht im Kreuzfeuer der Kritik, weil sie den Zugang zur Notschlafstelle für obdachlose Osteuropäer beschränkt hat. Im Interview spricht sie über das Prinzip der Abschreckung, über fehlende Konzepte und Spielregeln, die verletzt wurden.
Es sind ungemütliche Tage für Nicole Wagner, Leiterin der Basler Sozialhilfe. Sie erhält viel Post, in der viel Ärger artikuliert ist. Grund ist die Kontroverse um Obdachlose aus Osteuropa zwischen der Sozialhilfe und der Wärmestube Soup & Chill. Wagner warf dem Verein vor, zu viele Bons für Übernachtungen in der Notschlafstelle auszustellen. Schliesslich wurden die Kostengutsprachen auf 30 pro Monat beschränkt – was einen öffentlichen Aufruf und wütende Kritik von «Soup & Chill» nach sich zog.
Mittlerweile hat Wagner – auch angesichts der kalten Temperaturen – das Regime wieder gelockert. Der Konflikt scheint beigelegt, zumindest vorerst. Denn ein Konzept, wie mit stellenlosen Wanderarbeitern aus Rumänien oder der Slowakei umzugehen ist, fehlt. Das sagt Wagner im Interview mit der TagesWoche.
Frau Wagner, wie ist die Situation im Moment auf den Strassen und in der Notschlafstelle?
Derzeit verzeichnen wir in der Notschlafstelle rund 50 Übernachtungen pro Abend, aber die Zahl schwankt. Die Situation auf der Strasse kann ich nur aus meiner eigenen Wahrnehmung beurteilen. Es scheint mir sehr ruhig zu sein, das bestätigt auch die Polizei.
Angesichts der kalten Temperaturen müssen Sie erleichtert sein, dass kein Unglück passiert ist.
Es ist immer gut, wenn sich keine Unfälle ereignen. Diesbezüglich läuft alles bislang so wie jeden Winter. Das ist in unserem Interesse, denn wir wollen, dass alle ein Dach über dem Kopf haben.
«Wenn sich Institutionen wie ‹Soup & Chill› nicht an die Regeln halten, ist das ganze System gefährdet.»
Dass kaum Menschen draussen übernachten müssen, liegt auch an Ihrem Entscheid, der Wärmestube «Soup & Chill» zuzugestehen, wieder mehr Leute in die Notschlafstelle zu schicken. Weshalb haben Sie die umstrittenen Kontingente zurückgenommen?
Auch im Dezember haben wir das Kontingent aufgrund der tiefen Temperaturen nicht durchgesetzt – ab 15. Dezember waren 15 Übernachtungen bewilligt und 70 wurden akzeptiert. Wir wollten und wollen keine Konfrontation und hatten den Eindruck, dass mit diesem Kompromiss die Zusammenarbeit verbessert werden kann. Grundsätzlich gilt für alle Institutionen, so auch für «Soup & Chill», die Spielregeln einzuhalten. Daran müssen sich alle halten: unsere Klienten, die wissen, wie sie sich in der Notschlafstelle zu verhalten haben (dass etwa Alkohol im Zimmer nicht toleriert wird), aber auch die Institutionen. Mit den meisten klappt die Zusammenarbeit problemlos …
… mit «Soup & Chill» gerieten Sie in Streit.
Die Spielregeln waren immer, dass sich stellenlose Personen aus dem EU-Raum bei der Sozialhilfe melden müssen, wenn sie zwei oder drei Nächte am Stück in der Notschlafstelle übernachten. Bei uns können sie Nothilfe beziehen. Und wir können eine Lösung suchen, um die Lage der Leute zu verbessern, bis sie in ihr Heimatland zurückkehren – dies muss so schnell wie möglich umgesetzt werden. Aber wenn sich Institutionen, wie dies «Soup & Chill» gemacht hat, nicht an die Regeln halten und in einem absolut unangemessenen Ausmass Kostengutsprachen ausstellen, wird das ganze System gefährdet. Das konnten wir nicht akzeptieren.
«Wenn die Leute nach zwei Tagen keinen Unterschlupf haben, müssen sie sich auf der Sozialhilfe anmelden.»
«Soup & Chill» hat immerhin Mitte Dezember das Gespräch mit Ihnen gesucht.
Ja, da haben wir auch deutlich gemacht: So geht es nicht. Wir haben den Verein schon im November und dann Anfang Dezember darauf hingewiesen, dass er zu viele Bons verteilt. Wir haben also wiederholt erläutert, dass es so nicht geht. Doch «Soup & Chill» hat unsere Anweisungen schlicht ignoriert.
Aus nachvollziehbaren Gründen: Können die Hilfesuchenden nicht in der Notschlafstelle übernachten, landen sie vielfach auf der Strasse. Der Bedarf lag bei fünf Personen pro Nacht. Mit diesem Problem haben Sie «Soup & Chill» allein gelassen.
Nein, das stimmt so nicht. Wie oben erwähnt: Wenn die Leute nach zwei Tagen keinen Unterschlupf haben, müssen sie sich auf der Sozialhilfe anmelden. Dann erhalten sie Nothilfe, dann organisieren wir eine Übernachtungsmöglichkeit.
«Armutsbetroffene Personen sind meist sehr gut informiert, wo man etwas bekommt.»
Gemäss unseren Informationen organisiert die Sozialhilfe bestenfalls die Rückkehr, wenn sich Wanderarbeiter aus Osteuropa melden.
Nein, auf Nothilfe hat jeder stellenlose EU-Bürger Anspruch. Nothilfe ist nicht viel, aber es reicht zum Überleben.
Wenn jemand zwei Wochen hier bleiben will, erhält er für diese Zeit von Ihnen Nothilfe?
Das ist nur möglich, wenn die Person aus einem gesundheitlichen Grund nicht reisen kann. Für alle anderen gilt, dass sie so schnell wie möglich in ihr Heimatland zurückreisen müssen. Für die Zeit bis zur Abreise erhalten sie Nothilfe.
Ihr Prinzip lautet: Nichts tun, was als Anreiz verstanden werden könnte, nach Basel zu kommen.
Basel kann und soll kein Magnet sein. Es spricht sich schnell herum, wo es kostengünstige Möglichkeiten zur Übernachtung gibt und warme Mahlzeiten. Armutsbetroffene Personen sind meist sehr gut informiert, wo man etwas bekommt. Das wissen wir aus dem Asylbereich – bei Wanderarbeitern verhält es sich genau gleich.
«Das Basler Sozialsystem kann bestenfalls Leute auffangen, aber nicht deren Probleme lösen.»
Ist die Not in den Herkunftsländern dieser sogenannten Wanderarbeiter nicht viel grösser als jede mögliche Abschreckung?
Die Verhältnisse in Rumänien kann ich etwas abschätzen, da ich diesen Herbst drei Wochen dort verbrachte. Die Not dort ist gross, verständlicherweise wollen die Leute weg. Sie haben kein Geld und keine Arbeit. Aber als Notschlafstelle stehen wir am Schluss dieser Problemkette. Das Basler Sozialsystem kann bestenfalls Leute auffangen, aber nicht deren Probleme lösen.
Die Basler Notschlafstelle ist ein Anreiz, hierher zu kommen?
Wenn sich die Wahl stellt, wohin man gehen will, dann wird diejenige Destination bevorzugt, welche die besten Konditionen bietet. Wenn also die Übernachtung extrem kostengünstig oder gar gratis ist (wie dies durch «Soup & Chill» gewährt wird) und die Aussicht auf Gratismahlzeiten besteht, dann geht man lieber nach Basel mit seiner Notschlafstelle und den Gassenküchen als in irgendeine Kleinstadt, wo jedes Stück Brot erbettelt werden muss.
«Für die Personengruppe aus Osteuropa ohne Arbeitsvertrag gibt es keine Konzepte.»
Das würde heissen, dass Sie an den vielen privaten Initiativen wie «Soup & Chill», «Frauenoase» oder Gassenzimmer keine Freude haben.
Überhaupt nicht. Die Angebote sind richtig und wichtig. Deshalb subventionieren wir diese auch. Mir es geht um die Spielregeln. Wenn Leute unsere Angebote benötigen – aus nachvollziehbaren Gründen –, gibt es Regeln, die vom Staat gemacht wurden, die sich also auf gesetzliche Grundlagen stützen und es erst möglich machen, die Aufgaben, gemeinsam mit den Institutionen, zu managen. Wenn die Notschlafstelle zu einem Dauerzustand bei Betroffenen wird, nützt das niemandem.
Welches Konzept hat Basel denn, hat die Schweiz, im Umgang mit Menschen, die aufgrund der Personenfreizügigkeit hier ihr Glück oder zumindest eine Grundlage zum Überleben suchen?
Nach meinem Kenntnisstand gibt es hierzu kein nationales Konzept. Es gibt Programme zur Arbeitsintegration von Sozialhilfeempfängern und solche zur Integration von Asylsuchenden. Es sind sehr gute Programme, da wurde viel gemacht, insbesondere auch deshalb, weil die Anzahl der Betroffenen gross ist und sie in der Schweiz beziehungsweise in Basel bleiben. Für die Personengruppe aus Osteuropa ohne Arbeitsvertrag gibt es keine Konzepte.
«Wir müssen in der Lage sein, schnell und unbürokratisch zu reagieren, wenn die nächste Welle kommt.»
Weshalb nicht?
Diese Fragen müssen auf Bundesebene diskutiert werden. Wir sind die Falschen dafür. Aber momentan sind die Zahlen zumindest in Basel noch überschaubar. Wir sprechen von rund 30 Personen, davon die Hälfte aus Rumänien, die im Dezember bis zu den Feiertagen regelmässig die Notschlafstelle aufsuchten. Sollte diese Personengruppe in Zukunft grösser werden, müssen wir Lösungen erarbeiten. Bis Weihnachten registrierten wir eine kleine Welle von Wanderarbeitern aus Osteuropa. Wir haben deshalb zu einem runden Tisch eingeladen, um darauf vorbereitet zu sein, wenn eine nächste Welle kommen sollte. Dann müssen wir in der Lage sein, schnell und unbürokratisch zu reagieren.
Im Baselbiet verlangt Grünen-Landrätin Marie-Theres Beeler Verhandlungen mit Basel-Stadt, damit obdachlose Baselbieter künftig zum reduzierten Tarif von 7.50 Franken pro Nacht die Basler Notschlafstelle nutzen dürfen.