«‹Baselbieter Kultur› ist ein Phantom»

Der Baselbieter Kulturbeauftragte Niggi Ullrich über Kulturförderung, Geldstreitigkeiten zwischen Stadt und Land, seine Rolle als «Kulturkönig» – und über seine Zukunftspläne.

Tritt zurück: Niggi Ullrich, seit 1988 Baselbieter Kulturchef. (Bild: Stefan Bohrer)

Der Baselbieter Kulturbeauftragte Niggi Ullrich über Kulturförderung, Geldstreitigkeiten zwischen Stadt und Land, seine Rolle als «Kulturkönig» – und über seine Zukunftspläne.

In Basel haben sich in den letzten zwanzig Jahren viele Kulturdirektoren die Klinke in die Hand gegeben. Niggi Ullrich hingegen, der Leiter von kulturelles.bl, hält seit 1988 die Stellung. Kulturschaffende nennen den bald 60-Jährigen daher auch mal «Kulturkönig». Sein Wissen über regionale Kultur und Fördermechanismen ist riesig. Und man sagt hinter vorgehaltener Hand, dass es als Subventionsempfänger vorteilhaft sei, einen guten Draht zum Baselbieter Kulturchef zu haben.

Zuletzt machte Ullrich vor einem Jahr von sich reden als Organisator der «tagsatzung kultur.bl», einer Ausspracheplattform, an der Kulturschaffende, Politiker und die Bürgerinnen und Bürger Wünsche, Ideen und Frust ab­laden konnten. Das Resultat dieser Auslegeordnung soll nun in ein neues Baselbieter Kulturleitbild einfliessen.

Herr Ullrich, Sie wohnen in ­Arlesheim …

Genau, ein ganz interessanter Fleck Baselbiet. Die Gemeinde ist durch ihre Geschichte und Tradition von katholischer Kultur geprägt – an den Sonntagen ist der Dom fast bis auf den letzten Platz gefüllt.

Was hat Arlesheim kulturell zu bieten?

Neben den in dieser Art exklusiven Orgelkonzerten im Dom auch das Theater auf dem Lande, mit einem Bühnenprogramm jenseits des Mainstreams. Zudem eine der bestsortierten Gemein­de­bibliotheken, das Museum Trotte, auf «Zwischenhalt» das Neue Theater am Bahnhof und eine renommierte Musikschule. Arlesheim ist in Sachen Kultur eine sehr spezielle Gemeinde, sozusagen das «Riehen des Baselbiets» …

Arlesheim hat ja auch eine eigene «Kunst-Fondation».

Stimmt! In Form des Forums Würth. Und nicht zu vergessen unser «Unique Selling Point»: die Ermitage.

Wie definieren Sie ­«Baselbieter Kultur»?

So gefragt gibt es für mich keine plausible Antwort – auch wenn andere deren Existenz standfest behaupten. Es gibt nur Kultur im Baselbiet, und die ist so vielfältig wie andernorts auch.

Vor allem, wenn Geldstreitigkeiten mit Basel-Stadt anstehen …

Halt! Zwischen den Kantonsregierungen gibt es in der Kulturpolitik keine inhaltliche Debatte. Die Geldfrage ist eine andere Ebene. Die übertrieben stark kolportierte Kontroverse über die sogenannte «Baselbieter Kultur» stammt aus dem Landrat, als 2009 über das neue Kulturgesetz debattiert wurde – was wenig zielführende Erkenntnisse brachte. Am ehesten könnten noch unsere Trachtenvereine in Anspruch nehmen, sie repräsentierten so etwas wie Baselbieter Kultur. Doch tun sie das öffentlich ebensowenig wie der Kleinhüninger Jodlerchor, der auch nicht behauptet, er stehe für die «Basler» Kultur. Der Reinacher Autor Heinrich Wiesner hat mal gesagt, das Baselbiet sei der einzige «Heimatkanton ohne Grenzen» – für mich eine zutreffende Charakteristik, weil sie die historisch verbriefte, kulturelle Offenheit des Baselbiets benennt.

Vor einem Jahr haben Sie mit viel Tamtam die «tagsatzung kultur.bl» organisiert. Da ging es auch darum auszuloten, was es mit Baselbieter Kultur auf sich hat.

Ja, aber aus den zahlreichen unterschiedlichen Inputs hat sich klar ergeben, dass der Begriff «Baselbieter Kultur» ein Phantom ist, weil sich kaum jemand darauf berufen will. Kultur orientiert sich an Inhalten oder Formen, aber nicht über kantonal abgegrenzte Räume.

Was hat die «Tagsatzung» sonst noch ergeben? Können Sie uns ein paar Geheimnisse verraten?

Vier wichtige Erkenntnisse kann ich nennen. Erstens: Der Kanton Basel-Landschaft hat dank den Gymnasien und Musikschulen eine eigenständige, junge Szene, ist eine Kulturschmiede von Kreativen, die später in der Stadt oder sonstwo in der Welt ihren Weg machen. Zweitens: In Basel-Stadt gibt es starke, einzigartige Kulturleistungen, die auf das Baselbiet ausstrahlen. Ein Grossteil des Publikums wohnt im Baselbiet, ist im Schnitt jünger, mobil, flexibel, verdient gut und findet für seine kulturellen Bedürfnisse auch in Basel Erfüllung. Man kann keine zeitgemässe Baselbieter Kulturpolitik formulieren, ohne dies anzuerkennen und einzubeziehen. Drittens …

… eine Zwischenfrage, Herr Ullrich …

Ja, aber wir dürfen diesen dritten Punkt auf keinen Fall vergessen, der ist ganz wichtig!

Versprochen. Der Zusatzkredit für das Theater Basel wurde 2011 abgelehnt, obschon ein Grossteil des Publikums im Baselbiet wohnt. Für Sie muss es ärgerlich sein, dass es in diesem Kanton zwei Parteien gibt: eine, die das Theater stärken möchte, und eine, die nichts davon wissen will.

Natürlich ist das für mich ärgerlich. Aber: Sie reden erneut von Finanzpolitik. Mit dem Inhalt von Kulturpolitik hat die Abgeltung von Zentrumsleistungen wenig zu tun. Übrigens: Im 20. Jahrhundert haben in Basel-Stadt vier Theaterabstimmungen stattgefunden. Drei davon gingen hochgradig bachab, eine einzige wurde ganz knapp angenommen. Die letzten Basler Kulturabstimmungen – über den Stadtcasino-Neubau und das Multiplex-Kino an der Heuwaage – wurden von der Bevölkerung mit einem Stimmenverhältnis 2:1 abgelehnt. Trotzdem kann man nicht daraus schliessen, dass die Kulturleistungen in Basel unbedeutend seien. Unsere äusserst knapp verlorene Theaterabstimmung, auf die Sie anspielen, ging auch nicht wie immer behauptet im Oberbaselbiet verloren, sondern in den stadtnahen Agglomerationsgemeinden. Hart, aber wahr.

Wie gehen Sie als Baselbieter Kulturbeauftragter mit dem Dilemma um, dass ­Basels Anspruch auf Abgeltung seiner Zentrumsleistungen legitimiert ist, aber eine Mehrheit der Baselbieter das einfach nicht akzeptieren will?

Dieses Dilemma gehört zum kulturpolitischen Alltag. 1997 hat der Baselbieter Souverän – während einer Finanzkrise notabene – den Kulturvertrag mit einem Stimmenanteil von 60 Prozent bewilligt! Die Erfahrung zeigt, dass Abstimmungen über kulturelle Partikularinteressen – etwa über das Theater – meistens keine Mehrheit finden. Das ist in Basel nicht anders. Der Stadtcasino-Neubau wurde verworfen, weil er primär der klassischen Musikszene und deren Publikum gedient hätte. Ganz anders beim Plebiszit über den Kulturvertrag, wo es als Folge Nutzniesser aus allen Kultursparten gab und die Stimmbürger etwas für die Mehrheit tun wollten.

Das haben Sie und der damalige Regierungsrat Peter Schmid ganz schön schlau eingefädelt …

Ich weiss nicht, ob das «schlau» war. Die Erfahrung zeigt halt, dass nur mit dieser Strategie solche Abstimmungen zu gewinnen sind. Übrigens: In der Kulturstadt Basel, die ihre eigenen, nicht gewonnenen Theaterabstimmungen scheinbar vergessen hat und die sich mit dem Baselbieter Nein zur erhöhten – nicht zu verwechseln mit einer gesenkten! – Theatersubvention verständlicherweise schwer tut, musste in den letzten Jahren zweimal über Partikularinteressen inklusive Folgen abgestimmt werden. Und da ging es «nur» um Schrebergärten!

Trotzdem, Baselland profitiert von den Zentrumsleistungen der Stadt, ohne diese abzugelten.

Halt! Es ist nicht so, dass sich Basel-Landschaft nicht beteiligt; im schweizerischen Vergleich ist die Summe aus dem Kulturvertrag, 2010 waren es 9,2 Millionen Franken, respektabel, ebenso in Prozenten unseres Kulturbudgets (30 Prozent). Der Konflikt entzündet sich wie bei der Uni oder den Spitälern an der Bemessung der Abgeltung in Franken und Rappen. Das ist nicht eine Kultur-, sondern eine Finanzfrage.

Sie begegnen uns mit einer Rechtfertigungshaltung – ­dabei haben wir noch gar keinen richtigen Vorwurf an Ihre Adresse geäussert …

Das stimmt – vielleicht weil bei solchen Gesprächen stets der Vorwurf in der Luft liegt, dass das Baselbiet zu wenig in der Stadt tut. Für mich und auch für die städtische Kulturabteilung gibt es diese Grenzen im regionalen Kulturalltag weder inhaltlich noch funktional. In Rümlingen existiert eine der innovativsten Plattformen für Neue Musik, und Kleinhüningen hat einen der besten Jodlerchöre. Aber was ist damit bewiesen? 
Dass im Kulturbereich eine verstärkte Kooperation der beiden Basel wünschenswert wäre? Diese gibt es in der zeitgenössischen Kunstförderung über alle Sparten bereits. Fast immer paritätisch und in partnerschaftlicher Aufgabenteilung.

Ihr Chef, Regierungsrat Urs ­Wüthrich, hat kürzlich das Prattler Rocklokal Z7 als kulturellen Leuchtturm des Baselbiets bezeichnet – das ist mutig.

Ja, kann man so sehen. Ich spreche beim Z7 lieber von einem Kompetenzzentrum mit spezifischem Know-how und komplementärem Charakter. Das Z7 ist ein interessanter Ort, der in der Stadt so gar nicht existieren könnte: Wo gibt es eine Halle für 1500 Zuschauer mit genügend Parkplätzen, wo ist die Miete so günstig?

Gut, Sie müssen das Z7 ja auch nicht subventionieren.

Stimmt. Aber hier herrschen ideale Rahmenbedingungen.

Ihr Budget ist zudem nicht zu über 90 Prozent fix an «Leuchttürme» wie die Museen, das Theater und die Orchester gebunden.

Auch das stimmt. Im Falle von Basel ist es sicher richtig, von Leuchttürmen zu sprechen. Solche haben wir – mit Ausnahme von Augusta Raurica – nicht. Dafür können wir gezielt Projekte mit Campus-Charakter fördern. Zum Beispiel das Rockfact-Zentrum in Münchenstein. In Basel versucht man seit Jahren, Übungsräume zu bauen. Die Bands, die dort mal proben, müssen dreimal so berühmt werden wie die Rolling Stones, damit das Ganze einmal amortisiert wird! In Münchenstein ist das billiger und einfacher realisierbar. Vermutlich bekommen wir bei uns für den Subventionsfranken mehr als in der Stadt – aber wir müssen wirklich über Punkt drei reden …

Bitte.

(lacht) Vielen Dank. Es gibt im Baselbiet eine vielfältig-aktive Kultur vor Ort, in unmittelbarer Nähe der Bevölkerung. Viele Leute sind Publikum und Kulturakteure zugleich. Von diesen Aktivitäten profitiert auch die urbane Kultur in Basel. Es ist wenig sinnvoll, sich unter «Dorfkultur» nur Musikvereine und Chöre vorzustellen, ohne ihr Repertoire oder ihre Inhalte zu kennen. Es gibt alle Stile und Sparten, im Kleinen und Grossen. Sie gehören gleichfalls ins Portefeuille unserer regional ausgerichteten Kulturpolitik.

Von den 86 Baselbieter Gemeinden haben 82 kein Kulturkonzept. Oft sind die Bereiche Kultur, Sport und Freizeit zusammengelegt – hier agieren Sie quasi auf der grünen Wiese.

Die Gemeinden pochen in ihrem Zuständigkeitsbereich auf Autonomie, was immer das heisst. Trotzdem unterstützen wir Aktivitäten in den Gemeinden, vor allem, wenn sie über die kommunalen Grenzen hinauswirken.

Pochen die Gemeinden auf ihre Autonomie, um gar nichts zu tun?

Ja, in Einzelfällen vielleicht. Das Hauptproblem ist aber, dass viele Gemeinden zu klein sind, um eine eigenständige, wahrnehmbare Kulturpolitik zu betreiben, die diesen Namen verdient. Immerhin hat die Theaterabstimmung im Unterbaselbiet die Diskussion über die kulturpolitische Rolle der Gemeinden neu lanciert. Mal schauen, mit welchen Auswirkungen.

Die «Tagsatzungs»-Erkenntnisse fliessen nun in ein neues Kulturleitbild – was wird drin stehen?

Anders als in Basel-Stadt, wo die Kollegen ganz konkret formuliert haben, was in Zukunft materiell Sache ist, geht es bei uns um eine Grundausrichtung, um die Bestimmung der Flughöhe unserer Kulturpolitik im Zusammenspiel mit den Akteuren, Gemeinden und dem Kanton.

Die Fortsetzung des Bisherigen.

In vielem sicher, denn unsere Kulturpolitik wird von vielen Akteuren nicht grundsätzlich infrage gestellt.

Dann hätte es die «Tagsatzung» ­eigentlich gar nicht gebraucht.

Eben doch! Denn es stand der Vorwurf im Raum, dass viel zu viel Geld nach Basel fliesse – quasi auf Kosten der Ortskultur, wo eine grosse Misere herrsche. Dieser Befund wurde eindeutig widerlegt. Vielmehr hat sich herauskristallisiert, und das ist der vierte Erkenntnispunkt, dass sich die Gemeinden unter regionalen Gesichtspunkten wahrnehmbarer engagieren müssen, auch über ihre Grenzen hinweg. Die Förderung der Kultur vor Ort ist ihre primäre Zuständigkeit. Der Kanton kann sie nicht dazu zwingen, aber bei Bedarf subsidiär unterstützen. Die Kulturpolitik des Kantons hat aber andere Prioritäten: professionelles Kunstschaffen, Bereitstellung von Infrastruktur, Kompetenzzentren und grossen Projekten respektive Institutionen in der Region.

Warum haben die Kantone nicht ein gemeinsames Kulturleitbild verfasst?Schön und sinnvoll wäre es. Aber der Zeitpunkt der beiden Prozesse liess dies nicht zu.
Was halten Sie vom neuen Basler ­Kulturleitbild?

Die Stossrichtung finde ich inhaltlich überzeugend und zeitgemäss. Nicht ganz unproblematisch scheint mir allerdings, dass die  ­Laienkultur explizit von der Förderung ausgeschlossen ist. Die Schnittstellen zwischen Laien und Profis sind heute alles andere als scharf. Es ist ganz wichtig, dass wir auch Laienkultur fördern, damit Kulturschaffende am Anfang ihrer Laufbahn über den lokalen, regionalen und nationalen Rahmen hinauswachsen können. Man denke an die Aufgabe des Rockfördervereins oder die Biografie der Sängerin Anna Rossinelli.

Nicht alle Künstler schaffen den Durchbruch, viele sind vom Tropf von Niggi Ullrich abhängig. Ihnen geht der Ruf des Baselbieter Kulturkönigs voraus, mit dem man sich besser nicht zerstreitet.

Diese Problematik kennen alle in dem Job. Bei uns hängt aber niemand am Tropf – und nicht jede Meinungsverschiedenheit führt zwangsläufig zu Streit oder Ungnade. Wer glaubt, wir können frei schalten und willkürlich walten, überschätzt unsere faktischen Kompetenzen. Wir sind Teil einer öffentlichen Ordnung, eines politischen Auftrags, dessen Regeln bekannt sind.

Sie engagieren sich auch als Theaterregisseur. Was sind Sie mehr, Künstler oder Kulturmanager?

Letzteres. Als Regisseur war ich zu wenig erfolgreich, um längerfristig künstlerisch bestehen zu können. Meine spannende Aufgabe als Kulturbeauftragter definiere ich aber als die eines Impresarios, der Ideen ermöglicht und Leute zusammenbringt.

Seit 1988 dirigieren Sie kulturelles Baselland – wie lange noch?

Ich werde in diesem Jahr sechzig. Fünf vermutlich an- und aufregende Jahre habe ich noch vor mir. Ich will sie nicht missen.

Und danach?

Würde ich gerne zwei Jahre lang als Kanalschleusenwärter in Frankreich arbeiten. Nachdem ich viel auf Achse war und viel bewegen konnte, fände ich es reizvoll, wenn die Welt für eine bestimmte Zeit an mir vorbeiziehen würde und ich darüber berichten könnte. Mal schauen, ob ich das aushalte.

Niggi Ullrich: In seinem Büro in der Liestaler Altstadt hängen Pläne von Augusta Raurica und Programme des Gare du Nord oder des Stimmen-Festivals: Niggi Ullrich (59) hat nicht nur den Überblick über die regionale Kultur, er befeuert sie auch oft mit eigenen Ideen. Kein Wunder, war er vor seinem Einstieg als Leiter von kulturelles.bl (1988) doch als Kulturschaffender aktiv: Nach der Matur arbeitete er als Regieassistent er am Theater Basel, während seines Studiums (Deutsch, Englisch und Geschichte) war er künstlerischer Leiter des Basler «Jahrmarktfestivals im Dalbeloch» und 1973 Mitgründer des joli-théâtre, einer der ersten «freien Gruppen» im Raum Basel. Ullrich war zudem als Lehrer und Journalist tätig und ist heute im Nebenamt Präsident der SRG Region Basel. Der Vater von sieben Kindern lebt in Arlesheim.

 

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.05.12

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