Der Sozial- und Wirtschaftsexperte Carlo Knöpfel hat eine Studie über «Arbeitsmarkt und Armut in Basel-Stadt» durchgeführt. Er plädiert für eine präventive Sozialpolitik. Wenn wir heute nicht investierten, fielen in Zukunft viel höhere Kosten an, sagt er im Interview.
Basel sei eine A-Stadt, sagt Carlo Knöpfel. Viele Arbeitslose, Arme, Ausgesteuerte, Alleinerziehende, auch einige Alkoholiker gebe es hier. Soziale Probleme würden sich allgemein in den Städten kumulieren. Knöpfels einstiger Professor, der den Begriff erfand, sei eben nicht in Liestal darauf gekommen, sondern in Basel.
An der von der Sozialkonferenz Basel organisierten Fachtagung «Wirtschaft und Armut» stellte Knöpfel seine Studie «Arbeitsmarkt und Armut in Basel-Stadt» vor. Er beschäftigt sich bereits sein halbes Leben mit Armut. Nach seinem Wirtschaftsstudium arbeitete er 19 Jahre bei Caritas Schweiz, seit vier Jahren ist er Professor für Sozialpolitik und Sozialarbeit an der Hochschule für Soziale Arbeit.
Die Sozialkonferenz hat am Dienstag auch den Basler Sozialpreis verliehen: dieses Jahr an die Migros-Genossenschaft Basel. Migros setze sich für Mitarbeitende mit körperlichen oder geistigen Defiziten ein und nehme damit ihre soziale Verantwortung wahr, so die Begründung.
Das Ziel der Tagung war denn auch, Personen aus der Wirtschaft für soziale Themen zu sensibilisieren. Die Wirtschaftsvertreter kamen jedoch nicht in Scharen – lediglich etwa ein Dutzend hörte sich an, was Carlo Knöpfel zu sagen hatte.
Herr Knöpfel, was ist die wichtigste Erkenntnis aus Ihrer Studie?
Im Spannungsverhältnis zwischen Arbeitsmarkt und Armut gibt es vier soziale Risikogruppen, die besonders armutsgefährdet sind: erstens junge niedrig Qualifizierte. Diese Gruppe besetzt mittlerweile einen sehr hohen Anteil in der Sozialhilfe. Zweitens sind ältere niedrig Qualifizierte betroffen, die keine Chance haben, in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Die dritte Gruppe sind psychisch Erkrankte, die den Arbeitsbelastungen nicht mehr gerecht werden. Für sie müsste man angepasste Arbeitsplätze schaffen, an denen sie weniger Druck ausgesetzt sind. Viertens sind junge Alleinerziehende, die mehrfach belastet sind, von Armut bedroht. Das sind sehr häufig junge Mütter, die ihre Ausbildung wegen eines Kindes abbrechen.
«Im schlimmsten Fall werden die noch jungen Erwachsenen später zu Sozialhilfe-Dauerbeziehern. Das könnte für die Gesellschaft teuer werden.»
Warum sind junge Menschen immer häufiger von Armut betroffen?
Sie kommen sehr oft aus sogenannten Working-Poor-Familien. Bereits die Eltern waren von Armut betroffen. Weil in der Familie ein tiefer Bildungsgrad vorherrscht und wenig Beziehungen nach aussen vorhanden sind, fällt es den Jugendlichen schwer, eine Berufsausbildung zu machen. Bei dieser Gruppe geht es darum, ihnen eine Nachholbildung zu ermöglichen. Nur mit einem Berufsabschluss haben sie überhaupt Chancen, auf dem Arbeitsmarkt Fuss zu fassen.
Was passiert, wenn sie keine Berufsausbildung nachholen können?
Im schlimmsten Fall werden diese noch jungen Erwachsenen später zu Sozialhilfe-Dauerbeziehern. Das könnte für die Gesellschaft teuer werden. Man müsste deshalb präventiv handeln. Ich spreche von einer «investiven Sozialpolitik». Also heute investieren, damit später weniger Kosten anfallen.
Sehen Sie im bedingungslosen Grundeinkommen eine Lösung, um Ältere und Alleinerziehende zu entlasten?
Das sehe ich gar nicht. Ältere, die wenig qualifiziert sind, erhalten ja bereits ein Grundeinkommen über die Sozialhilfe.
Aber kein bedingungsloses.
Gut, sie müssen sich noch bewerben. Aber wenn sie über 55 Jahre alt sind, ist das bei der Sozialhilfe oder Arbeitsvermittlung kein Thema mehr. Diese Menschen brauchen eine Perspektive, wie sie in der Gesellschaft partizipieren können und nicht an den Rand gedrängt werden.
Gibt es Möglichkeiten von freiwilligem Engagement, also auf dem zweiten Arbeitsmarkt?
Ja, aber hier geht es um Angebote und Betreuung. Mit Geld allein ist dieses Problem nicht gelöst.
«Unternehmen müssen den Sozialstaat mitfinanzieren und den Leuten Arbeit anbieten – auch Menschen, die nicht mehr topfit sind.»
Basel-Stadt hat schweizweit die höchste Sozialhilfequote und gleichzeitig die grösste Pro-Kopf-Wertschöpfung. Was läuft da schief?
Die Wirtschaft muss wieder mehr Verantwortung übernehmen. Wir hatten Phasen eines sozialen Unternehmertums, das übrigens auch ein soziales Bürgertum war. Die Christoph Merian Stiftung oder die GGG sind Symbole dafür.
Und heute klappt es nicht mehr mit der sozialen Verantwortung?
Es stellt sich die Frage: Wie gelingt es, diese Kultur einem internationalen Management bewusst zu machen? Die Herausforderung ist, dass Amerikaner, Mexikaner oder Chinesen, die hier als Expats leben, ihre Verantwortung begreifen. Und auch die Tradition, die es in der Schweiz gibt. Denn es gibt so etwas wie einen Deal: Wir als Gesellschaft lassen euch – der Wirtschaft – im Arbeitsmarkt möglichst viele Freiheiten, aber ihr müsst bereit sein, Verantwortung zu übernehmen. Das heisst konkret, die Unternehmen müssen den Sozialstaat mitfinanzieren und den Leuten Arbeit anbieten – auch Menschen, die nicht mehr topfit sind. Dieser Deal muss neu ausgehandelt werden und wieder vermehrt in die Unternehmenskultur einfliessen.