Darf das Volk alles?

Was gilt mehr? Internationales Völkerrecht oder unsere Bundes­verfassung? Die Antwort von Staats­rechtsprofessor Markus Schefer wird nicht allen gefallen.

«Es wäre ehrlicher gewesen, die Ausschaffungs-Initiative für ungültig zu erklären», sagt der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Was gilt mehr? Internationales Völkerrecht oder unsere Bundes­verfassung? Die Antwort von Staats­rechtsprofessor Markus Schefer wird nicht allen gefallen.

Die SVP war «schockiert» und verkündete via Newsletter die «Entmachtung» der Bevölkerung und des Parlaments durch das Bundesgericht. Das war nicht nur SVP-typische Empörung: Das Urteil des Bundesgerichts vom Oktober 2012, dessen schriftliche Begründung jetzt veröffentlicht wurde, hat tatsächlich das Potenzial, die politische Diskussion der kommenden Jahre zu prägen. Das Bundesgericht hat die Ausweisung eines Mazedoniers mit dem Hinweis auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) abgelehnt und festgestellt, dass bei Konflikten zwischen internationalem Völkerrecht und der Bundesverfassung das Völkerrecht grundsätzlich Vorrang habe. Eine Entscheidung mit Konsequenzen für viele umstrittene Volksentscheide – die Minarett-Initiative oder die Verwahrungs-Initiative beispielweise – und eine Entscheidung, die nur konsequent sei, sagt der Basler Staatsrechtsprofessor Markus Schefer.

Herr Schefer, hat das Bundes­gericht die Gewaltentrennung geritzt, wie das die SVP in ihrer Kritik zum Urteil behauptet?

Markus Schefer: Nein, die Gewaltentrennung wurde nicht infrage gestellt.

Der Gesetzgebungsprozess zur Ausschaffungs-Initiative ist noch in vollem Gang – da ist der Entscheid des Bundesgerichts doch eine direkte Einmischung.

Ja, aber diese Einmischung ist in der Bundesverfassung angelegt und geschieht nicht zum ersten Mal. Als es darum ging, die Nothilfe von Asylbewerbern mit einem Nichteintretens-Entscheid zu streichen, kam das Bundesgericht mit einem Urteil genau zwischen die Beratung von Nationalrat und Ständerat. Das Urteil hat den Ständerat dazu veranlasst, die Nothilfe nicht zu streichen.

Aber ist es denn die Aufgabe des Bundesgerichts, mit seinen Urteilen Politik zu machen?

Das Urteil von vergangener Woche war kein politischer Entscheid. Aber er hat politische Auswirkungen, wie jeder Entscheid im Recht. Politisch wäre der Entscheid gewesen, wenn die Richter sich an der Tagespolitik orientiert und sich gefragt hätten, ob ihr Entscheid politisch opportun ist.

Und das ist nicht geschehen?

Nein. Es ist ein unaufgeregtes, ein sorgfältig begründetes Urteil. Es ist auch nicht revolutionär, sondern ein kleiner Schritt in eine Richtung, die das Bundesgericht schon vor über 20 Jahren eingeschlagen hat.

Im Urteil steht, dass bei einem Konflikt zwischen Bundes- und Völkerrecht grundsätzlich die völkerrechtliche Verpflichtung vorgeht. Das scheint doch einigermassen revolutionär.

Das Verhältnis zwischen Völkerrecht und Bundesverfassung ist auch mit diesem Urteil nicht endgültig geklärt. Es wird auch weiterhin Kon­stellationen geben, in denen die ­Bundesverfassung dem Völkerrecht vorgeht. Die Aufgabe der Praxis wird es in Zukunft sein, jene Einzelfälle zu umschreiben. Die Stossrichtung des Urteils ist aber sicher richtig: Grundsätzlich hat Völkerrecht Vorrang vor der Bundesverfassung.

«Das Urteil war kein politischer Entscheid. Aber es hat politische Auswirkungen.»

Das dürfte das Souveränitätsverständnis einiger Schweizer ziemlich erschüttern.

Das kommt darauf an, von welchem Souveränitätsverständnis man ausgeht. Die Vorstellung von Souveränität im Sinne von Jean Bodin als umfassende, ungebundene Macht, über die eigenen Verhältnisse bestimmen zu können, ging schon im 20. Jahrhundert an der Realität vorbei.

Da würde Ihnen die SVP heftig widersprechen.

Ich habe das Gefühl, die Kritiker dieses Urteils leben in ihrer eigenen Welt. Und diese Welt hat wenig mit jener zu tun, in der wir heute leben.

Sondern, wenn wir schätzen müssten, mit der im 19. Jahrhundert?

Ich bin mir nicht sicher, ob man es historisch festmachen kann. Die Vorstellung einer Souveränität, die total abgekoppelt vom Völkerrecht funktionieren soll, galt schon im 19. Jahrhundert nicht mehr. Wir verdanken unsere Souveränität dem Völkerrecht: Am Wiener Kongress 1815 wurde die Schweiz in ihren heutigen Grenzen überhaupt erst konstituiert.

Zurück zur Ausschaffungs-Initiative: In der Verfassung heisst es, dass nur Initiativen für ungültig erklärt werden, die zwingendes Völkerrecht verletzen. Alle an­deren Verfassungsänderungen bleiben möglich.

Daran ändert das Urteil nichts. Schon vorher war es so, dass man Verfassungsbestimmungen, die ­gegen einfaches Völkerrecht verstossen, so umsetzen musste, dass sie in diesem Bereich nicht zum Tragen kommen. Das gilt für jede neue Norm: Sie ist Teil der gesamten Rechtsordnung und kann nicht als Einzelfall mit absoluter Gültigkeit beurteilt werden.

Der Ausweisungs-Automatismus kollidierte nach Einschätzung der Bundesrichter mit den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Das wusste man aber schon vor der Abstimmung. Das Parlament hat die Initiative trotzdem nicht für ungültig erklärt. Ein Fehler?

Ja, aber nicht wegen den Verstössen gegen das einfache Völkerrecht. Meiner Meinung nach hat die Initiative auch gegen zwingendes Völkerrecht verstossen. Um diesen Verstoss nicht als solchen erkennen zu müssen, hat man auf einer technischen Abgrenzung zwischen den Begriffen «Wegweisung» und «Ausschaffung» beharrt. Man sagte, bei der Initiative gehe es nur um die Wegweisung. Ob jemand tatsächlich physisch ausgeschafft werde, sei eine andere Frage und werde nicht in der Initiative ­geregelt. Das war der Kunstgriff, um zu verhindern, sie für ungültig er­klären zu müssen. Wenn man sich den Text der für ungültig erklärten Initiative der Schweizer Demokraten aus den 90er-Jahren anschaut, stellt man grosse Ähnlichkeiten zum Text der Ausschaffungs-Initiative fest. Aber dieses Mal war es halt die ­wählerstärkste Partei und nicht eine rechte Splittergruppe, die hinter dem Begehren stand. Es wäre ehr­licher und richtiger gewesen, die ­Initiative für ungültig zu erklären.

Nun hat das Bundesgericht – mit Abstrichen – diese Entscheidung getroffen. Hat sich das Gericht mit diesem Entscheid zum Verfassungsgericht erhoben?

Gegenüber den Kantonen ist das Bundesgericht seit 1874 ein Verfassungsgericht und hat diese Funktion auch sehr gut wahrgenommen. Anders verhält es sich gegenüber Bundesgesetzen. Hier soll das Bundesgericht die Verfassungsmässigkeit zwar prüfen, muss aber auch verfassungswidrige Bestimmungen anwenden. Mit einer Einschränkung: Seit 1991 hat das Bundesgericht immer wieder festgehalten, dass dieses ­Gebot nicht in Bezug auf die EMRK gilt. Wenn ein Bundesgesetz gegen die EMRK verstösst, ist das Bundes­gericht nicht verpflichtet, dieses Gesetz anzu­wenden. Das ist nichts Neues. Aber natürlich ist das ein langsamer Prozess. Denn wenn das Bundesgericht ernst macht mit dieser Kompetenz, kommt es zu einer gewissen Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Bundesorgane. Bisher hat das Bundesgericht diese Bestimmung sehr zurückhaltend angewandt. Das vorliegende Urteil ist ein weiterer kleiner Schritt in diese Richtung. ­Ein politisches Urteil wäre gewesen, wenn man nach 20 Jahren Vorbereitung plötzlich die Richtung geändert hätte.

«Die Kampagne gegen das Völker­recht zielt gegen die Menschenrechte.»

Was bedeutet das Urteil für die von der SVP angekündigte Durchsetzungs-Initiative?

Es zeigt grundsätzlich die Grenzen von Volksinitiativen auf. Das Volk kann nicht jeden Unsinn machen.

Es hat Minarette verboten – gilt dieser Verfassungsartikel nach dem aktuellen Urteil noch?

Das Minarett-Verbot steht nicht ­isoliert da: Es kann Konstellationen geben, wo die Interessen am Bau ­eines Minaretts überwiegen und ein Minarett gebaut werden kann. Das ist aber im Moment eine theoretische Frage. Wir diskutieren immer über punktuelle Normen und lasten diese Normen mit einem enormen sym­bolischem Gehalt auf. Das Bundesgericht mahnt – auch im aktuellen Urteil – zur Unaufgeregtheit. Es ist eine juristische Banalität, dass jede Rechtsnorm im Kontext ihres Umfelds ausgelegt werden muss. ­Anfang der 90er-Jahre im Fall des Frauenstimmrechts in Appenzell ­Innerrhoden hat das Bundesgericht methodisch dasselbe gemacht. Es gab eine Bestimmung, dass das kantonale Stimm- und Wahlrecht von den Kantonen geregelt wird. Gleichzeitig wurde in der Bundesverfassung die Gleichberechtigung von Frau und Mann festgeschrieben. Die Regelung des kantonalen Stimm- und Wahlrechts musste auch in diesem Kontext beurteilt werden. Damals kam erschwerend hinzu, dass Bundesrat und Parlament bei der Verabschiedung des Gleichstellungsartikels das Stimm- und Wahlrecht explizit ausgenommen hatten. Dennoch lag das Bundesgericht richtig, als es neun Jahre später eine Beurteilung beider Artike­l vorlegte und zum Schluss kam, dass auch Inner­rhoder Frauen abstimmen dürfen.

Wie kommt es zu solchen isolierten Betrachtungen?

Es ist ein Kennzeichen unseres ­politischen Prozesses, dass die Parteien das Gefühl haben, sie bräuchten ein klares Profil. Die CVP ist die Familienpartei, die SVP die Ausländerpartei, bei den anderen weiss ich es nicht – was als Mangel bewertet wird. Eine starke Profilierung ist aber nichts anderes als die positive Umschreibung eines Tunnelblicks. Und dieser Tunnelblick ist für ­Bestimmungen wie das Minarett-Verbot oder die Ausschaffungs-Initia-tive mitverantwortlich. Verfassungsgebung wird für Partei­symbolik missbraucht. Der politische Prozess müsste wieder vermehrt das Ganze in seinen Blick bekommen – so wie es das Recht auch macht.

Rechtskonservative Kreise schiessen seit Jahren gegen das Völkerrecht. Welches Ziel verfolgen sie damit?

Die intensive Kampagne gegen das Völkerrecht ist immer eine Kam­pagne gegen die Menschenrechte. Ich habe jedenfalls noch nie eine Kam­pagne gegen das WTO-Recht gesehen. Es geht immer um Menschenrechte im Allgemeinen und um die EMRK im Speziellen, weil die Menschenrechtskonvention von ­einem internationalen Gericht umgesetzt wird, das verbindliche Entscheidungen fällen kann. Kein anderes internationales Menschenrechtsinstrument wird so streng umgesetzt. Die EMRK ist schon lange unter Druck: Im September 1988 stimmte der Ständerat mit 16 gegen 15 Stimmen gegen die Kündigung der EMRK. Dabei liegt es in der ­Natur von Menschenrechten, die Handlungsfreiheit der Staaten einzuschränken. Das ist ja genau der Zweck: Den Staaten werden Schranken im Umgang mit ihren eigenen Einwohnern auferlegt.

Was würde eine Kündigung ­der EMRK für die Schweiz ­bedeuten?

Das wäre ein Verlust, den man kaum aufwiegen könnte. Ich denke, die Schweiz wäre danach auch in ­anderen Dossiers nicht mehr glaub­würdig.

Quellen

Gastbeitrag von Staatsrechtsprofessorin Eva Maria Belser in der NZ».

SP-Ständerat Paul Rechsteiner zum Urteil auf seinem Blog.

Bernd Villiger stellt das Urteil auf seinem Blog in einer leicht lesbaren Form dar.

Die NZZ über das Urteil und seine Auswirkungen.

Die Medienmitteilung der SVP.

Das Profil von Markus Schefer auf unibas.ch

Die Europäische Menschenrechtskonvention.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.02.13

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