Nach dem Professor fragt niemand

Die Plagiatsvorwürfe streitet sie zwar weiterhin ab. Mit dem Rücktritt der deutschen Bildungsministerin Annette Schavan scheint der Fall aber offiziell erledigt. Doch es bleiben unbeantwortete Fragen.

Nach dem aberkannten Doktortitel bleiben ihr immer noch fünf Ehren­doktoren: die zurückgetretene Bildungsministerin Annette Schavan. (Bild: Tobias Schwarz / Reuters)

Die Plagiatsvorwürfe streitet sie zwar weiterhin ab. Mit dem Rücktritt der deutschen Bildungsministerin Annette Schavan scheint der Fall aber offiziell erledigt. Doch es bleiben unbeantwortete Fragen.

Soeben habe ich den x-ten Langartikel über den «Fall Schavan» gelesen, der sich aus dem Vorwurf ­ergeben hat, die Bildungsministerin der aktuellen deutschen Regierung habe ihre Dissertation von 1980 – ausgerechnet zum Thema «Person und Gewissen» – systematisch mit nicht deklarierten Fremdleistungen angereichert.

Und wieder erfahre ich nichts über den sogenannten Doktorvater, der diese Arbeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf betreut hat. Hingegen kann man immer wieder lesen, wie eine grosse Mehrheit des Fakultätsrats der Philosophisch-Historischen Fakultät nach sechsstündiger Beratung zum Schluss kam, «dass die damalige Doktorandin systematisch und vorsätzlich über die gesamte Dissertation verteilt gedankliche Leistungen vorgab, die sie in Wirklichkeit nicht selbst erbracht hatte».

Wie sehr auch der Doktorvater und das von ihm vertretene Fach (Erziehungswissenschaften) in der hinter verschlossenen Türen zusammen­gekommenen Fakultätsversammlung in die Kritik geraten war, wissen wir nicht. Von seiten der «Angeklagten» wurde zur Verteidigung gesagt, dass der lockere Umgang mit geistigem Fremdeigentum dem damaligen Wis­senschaftsverständnis speziell in der Pädagogik entsprochen habe. Das ­erklärte auch der Zürcher Emeritus Jürgen Oelkers. Diesem Argument wurde mit Hinweis auf Düsseldorfer Anleitungen zu wissenschaftlichen Arbeiten aus dem Jahr 1978 aber zu Recht widersprochen. Andererseits ist keineswegs sicher, dass dieses angebliche «damalige» Verständnis nicht da und dort noch immer vorherrscht.

Unkritisches Verhältnis

Es ist oder wäre die Pflicht akademischer Betreuungspersonen (heute auch Doktormütter) sowohl bei der Aufgabenstellung als auch bei der Abnahme der Ergebnisse zu prüfen, ob und in welchem Masse ein eigener Forschungsbeitrag möglich ist bzw. zu­stande kam. Wenn die Verantwortlichen dieser Aufgabe nicht gerecht werden, sind dafür verschiedene ­Erklärungen möglich, die übrigens auch kombiniert zutreffen könnten: eigene Unkenntnis und bei sich selbst ein unterentwickeltes Wissenschaftsverständnis, unsorgfältige Prüfung wegen Arbeitsüberlastung oder ein unkritisches Verhältnis zum Doktorierenden.

Genoss die Schülerin bei ihrem Lehrer einen Bonus?

Gleich zu Letzterem: Genoss die Schülerin bei ihrem Lehrer einen besonderen Bonus? Der schliesslich doch noch identifizierte Professor Gerhard Wehle war vor Düsseldorf 1961 bis 1974 in Neuss an der Pädagogischen Hochschule tätig gewesen. Die spätere Studentin wurde 1975 Vorsitzende der Jungen Union in Neuss und wurde noch vor ihrer Promotion vom katholischen Cusanuswerk gesponsert, für das Annette Schavan nach dem Studium dann tätig war.

Im Falle der jungen CDU-Frau könnte eine ähnliche Nähe wirksam gewesen sein, wie sie im Fall des CSU-Politikers Karl-Theodor zu Guttenberg und dem Doktorvater Peter Häberle mindestens vermutet werden darf.

Häberle liess sich 2007, im Jahr der Summa-Promotion, vom bayer­ischen CSU-Ministerpräsidenten Stoiber mit dem Bayerischen Verdienst­orden auszeichnen. Im Februar 2011 distanzierte er sich scharf von seinem ehemaligen Doktoranden, aber nur sehr milde von seiner eigenen Fehleinschätzung und erklärte, dass Guttenberg der Universität Bayreuth einen Reputationsschaden zugefügt habe. Dass er als Doktorvater an dieser Schadenszufügung beteiligt war, kam Häberle nicht in den Sinn. Auch die «Süddeutsche» sah im Professor nur ein Opfer: Der Doktorand habe die Reputation eines angesehenen Staatsrechtlers missbraucht; Guttenbergs Plagiat sei für den fast 77-Jährigen eine schwere Kränkung.

Um auf der Höhe der Anforderungen zu sein, sollte man Dissertationen eigentlich nur im Kernbereich der eigenen Forschungstätigkeit betreuen. Es besteht freilich die Versuchung, den thematischen Interessen von ­potenziellen Doktoranden nachzukommen und Arbeiten in einem Feld zu begleiten, das nicht das eigene ist. Dies sollte beim Tutor allerdings ein Grund für besondere Aufmerksamkeit sein. Möglicherweise besteht aber auch eine weitere Versuchung darin, Arbeiten anzunehmen, damit man als Meister mit grosser Schülerschaft möglichst viele Betreuungen – oder überhaupt eine – nachweisen kann.

Die Fehlleistungen des Doktor­vaters begannen bereits mit der Auf­gabenstellung. Zu Recht wurde im Fall Schavan gesagt, dass «Person und ­Gewissen» kein Thema ist, das eine Doktorandin wissenschaftlich bewältigen kann. Zutreffend ist auch die Einschätzung, dass es sich eher um eine zu lang geratene (350 Seiten umfassende) Diplom- oder Magisterarbeit als um eine Dissertation handelt.

Selbstverständlich verlief für Doktorvater Wehle alles nach den – damaligen – Regeln der Kunst. Der mit Jahrgang 1924 mittlerweile 88-jährige Professor Wehle rechtfertigte indessen nicht nur die Leistung seiner Doktorandin, sondern auch seine eigene, als auch er erklärte: «Die Arbeit entsprach damals absolut dem wissenschaftlichen Standard.» Dass er mit seiner Nachlässigkeit seiner Doktorandin keinen Dienst erwies, muss er ja nicht öffentlich eingestehen. Aber wenn es schon um Aberkennung geht, darf man sich ruhig fragen, warum eigentlich nicht gleichzeitig dem verantwortlichen Doktorvater der Professorentitel aberkannt wird.

Warum wird nicht dem Doktorvater der Professorentitel aberkannt?

Die nicht deklarierte wörtliche Übernahme von Texten ist die platteste und auch am leichtesten nachweisbare Art des geistigen Diebstahls (oder Plagiats), was wir gerne mit der schwächeren Form des Klauens benennen. Daneben gibt es freilich auch ein weniger deutliches Übernehmen fremder Leistungen. Was ist schon selbst gedacht? Wir verdanken doch das meiste unserer Gedankenwelt den Vorleistungen anderer.

Sauberes Zitieren genügt nicht

Und dennoch bleibt für Doktorarbeiten die berechtigte Erwartung, dass sie einen eigenen Forschungsbeitrag enthalten und abzugrenzen vermögen, was bereits Forschungsstand und was neu ist. Dies mag in bestimmten Wissenschaften leichter oder schwerer zu erbringen sein, wie im übrigen die Bewertungen je nach Uni, Fach und Fachvertretung stark schwanken. Die Sauberkeit im Zitieren ist zwar ein elementares Kriterium, sie ist letztlich jedoch nur eine selbstverständliche Voraussetzung für die Verleihung der Doktorwürde. Denkbar wären auch durchaus brav zitierende Arbeiten, die darum den Minimalanforderungen einer Doktorarbeit nicht entsprechen, weil sie weitgehend nur schon einmal Gesagtes rekapitulieren und rezyklieren.

Promotionsordnungen (in Basel wie in Düsseldorf) sollten eigentlich vermeiden, dass es wegen individuellem Versagen von akademischen Betreuungspersonen zu Fehlbeurteilungen kommt. Es gibt eine einigermassen gleichwertige Zweitbegutachtung und die Vorschrift, dass die Dissertation vor der Promotion aufliegt, damit ­jedes Fakultätsmitglied sie einsehen kann. Ich gestehe, dass ich selbst als Doktorvater von dieser Möglichkeit nie Gebrauch gemacht habe und ich nicht einmal im eigenen Fach wusste, sofern ich nicht Experte war, welche Promotionen anstanden und stattfanden. Das französische System mit den öffentlichen «Dissertationsverteidigungen» und Jurys ist diesbezüglich das verlässlichere.

Weder das Prädikat noch der Zweitgutachter zur Schavan-Arbeit konnte bisher ermittelt werden. Im Falle Guttenbergs war der Zweitgutachter, selbst CSU-Mitglied und während 12 Jahren Stadtratsabgeordneter, Rudolf Streinz. Er rechtfertigte sich im März 2011 so: «Im Nachhinein ist man schlauer: Ich habe zu sehr darauf vertraut, dass Arbeiten korrekt angefertigt werden. Nun weiss ich, dass man sich darauf offenbar nicht verlassen kann. Herr zu Guttenberg, 2006 ‹einfacher› Bundestagsabgeordneter, wurde von mir als Seminarteilnehmer und Doktorand von Herrn Kollegen Häberle wie jeder andere Doktorand behandelt.»

Aufgrund dessen, was man wissen kann, ist die Annahme berechtigt, dass Schavan unter besserer Anleitung ohne Weiteres eine tadellose Dissertation vorgelegt und dass sie im übrigen auch ohne «Doktor» ihren Weg gemacht hätte, obwohl ihr akademischer Titel für sie sicher ein Vorteil war. ­Andererseits war klar, dass die wohl zu Unrecht als Produkt einer Täuschungsabsicht ausgelegte Schwachstelle ihrer Vergangenheit mit der Funktion einer Bildungsministerin unvereinbar war. Es bleiben ihr neben dieser traurigen und bitteren Erfahrung noch viele Ehrendoktoren (5) und zahlreiche andere Auszeichnungen.

Quellen

Da Guttenberg auch eine Schrift des Basler Europainstituts mehrfach ohne Deklaration benutzt hatte, habe ich mich schon früher mit dem Fall beschäftigt. «Wissenschaft und Politik. Epilog auf eine nicht abgeschlossene Affäre»

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 15.02.13

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