«Der Kontakt ist typisch für Brasilien»

Die brasilianische Sängerin Flavia Coelho tritt am Mittwochabend am «Stimmen» auf. In einem Interview kurz vor der WM hat sie uns erklärt, was dran ist am Fussball, der brasilianischen Musik und sexuellen Klischees.

Die brasilianische Sängerin Flavia Coelho tritt am Mittwochabend am «Stimmen» auf. In einem Interview kurz vor der WM hat sie uns erklärt, was dran ist am Fussball, der brasilianischen Musik und sexuellen Klischees.

Erst vor Kurzem hat Flavia Coelho ihr zweites Album «Mundo Meu» auf den Markt gebracht. Ihre Welt reicht weit über Rio de Janeiro hinaus. 2006 verliess die brasilianische Sängerin ihre Heimat, um sich in Paris niederzulassen, wo sie ihren Horizont erweitern und mit Musikern aus aller Welt spielen wollte – zum Beispiel mit der Afrobeat-Legende Tony Allen. Am 16. Juli tritt Flavia Coelho am «Stimmen»-Festival in Lörrach auf. Wir haben uns mit der 34-Jährigen via Skype über Brasilien unterhalten – vom Fussball über die Musik bis zu sexuellen Klischees.

Flavia Coelho, wir haben in den letzten Monaten immer wieder erfahren, dass die WM-Vorbereitungen von Protesten begleitet wurden. Können Sie uns kurz umreissen, was in Brasilien abgeht?

Sicher. Brasilien ist ein mächtiges Land, das in den letzten 10 Jahren grosse Fortschritte gemacht hat, weil die Leute hart arbeiten – und weil die regierende Arbeiterpartei auch Fortschritte gebracht hat. Allerdings stiegen mit dem Wachstum auch die Konsumentenpreise, die Kosten fürs Leben. Jetzt wurden für die WM und die Olympischen Spiele Milliarden Euros investiert, in Schwimmbäder, in Strassen, in die Infrastruktur der Städte. Klar, das ist auch wichtig, aber davon können die Leute nicht besser leben. Daher hat sich bei vielen Brasilianern Frust aufgestaut.

Den jetzt – so liest man – vor allem Studierende und die Mittelschicht an Demos ablassen.

Ja. Sie müssen wissen, vor 30 Jahren erst ging die Diktatur zu Ende. Brasilien ist noch eine junge Demokratie, die Leute lernen ihre Rechte besser kennen, fordern etwa freien Zugang zu Universitäten – viele Studenten müssen wie in den USA zahlen. Zudem ist das Justizsystem veraltet, ebenso das Gesundheitssystem, die Spitäler.  

Sie leben in Paris – wie stehen Sie zu den Protesten?

Ich bin in einem einfachen Quartier geboren, ein Teil meiner Familie lebt in einer Favela. Ich weiss also, was es heisst, keinen Zugang zu Museen, Bibliotheken und Fussballplätzen zu haben, und begrüsse sehr, dass die Leute ihre Rechte einfordern. Sie müssen wissen: In den Favelas ist der soziale Zusammenhalt sehr gross, man pflegt ein enges Verhältnis zu den Nachbarn, kümmert sich umeinander. Wird ein Quartier aufgewertet, droht auch die Zerschlagung des sozialen Gefüges, was in Brasilien neue Probleme mit sich bringt. Mich berührt es also sehr, wie die Menschen zusammenhalten, doch hoffe ich, dass dieser Gemeinschaftssinn die WM überdauern wird.

Wie meinen Sie das?

Im Moment ist es sehr einfach, mit einer Demonstration Aufmerksamkeit zu erhalten: Alle Kameras sind auf Brasilien gerichtet. Nach dem 12. Juli aber wird sich zeigen, ob die Leute die Ausdauer und den Willen haben, weiter für ihre Anliegen zu kämpfen.

Droht durch die Proteste die Gefahr, dass die Riesensause ausbleibt?

Oh, nein, die WM wird noch eine zehnmal grössere Party, als ihr Europäer euch das vorstellen könnt (lacht).

Werden Sie sich die Spiele anschauen?

Ja, aber sicher.

Wer wird Weltmeister: Brasilien? Frankreich?

Deutschland. Sie sind sehr stark. Ich ging vor vier Jahren nach Deutschland an die WM, weil ich mir mal ein Spiel anschauen wollte.

Das heisst, Sie interessieren sich wirklich für Fussball?

Welche Brasilianerin interessiert sich nicht dafür?

Dieses Klischee ist also wahr – welche Klischees über Brasilianer stimmen sonst noch?

Dass wir wirklich immer lächeln, sehr offen sind, viel und gerne reden, auch mit dem Körper, und keine Scheu vor Körperkontakten haben. Je länger ich in Europa bin, umso mehr fällt mir auf, dass das sehr typisch für Brasilien ist: der Kontakt.

Und welches Klischee entspricht nicht der Realität?

Dass brasilianische Frauen leicht verfügbar seien. Hier in Europa glaubt man, dass wir sehr sinnlich, sehr sexuell seien. Klar, wir sind sinnlich. Ich posiere auf meinen Promofotos ja auch gerne sexy. Ich bin 34, es macht mir Spass zu zeigen, dass man sich in meinem Alter noch immer zeigen kann. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Selbstbestimmung und Verfügbarkeit. Eine schöne Frau, die alle anlächelt und Bonjour sagt, wird hier schon als leichte Beute missverstanden. Das ist ein Klischee, das nervt. Als Brasilianerin wird man häufiger angemacht.

Die Europäer verwechseln Sinnlichkeit mit Verfügbarkeit?

Genau. Halten Sie doch bitte fest: Man darf sie anschauen, die Brasilianerinnen, aber nicht anfassen – ausser, man fragt sie.

Was führte Sie nach Europa, nach Paris?

Eine Konzerttournee mit einer brasilianischen Formation. Das war 2002. Die Stadt zog mich sofort an, es war Liebe auf den ersten Blick. Die historischen Quartiere, die Geschichte. Und dann hat mich die Musikszene umgehauen, die durch die vielen Migranten so wunderbar bunt und vielfältig ist: Da hörte ich aus einer Bar marokkanische Musik, daneben spielte eine Band aus dem Senegal. Ich dachte: Wow – das ist es, wonach ich gesucht habe. All die verschiedenen Einflüsse, all diese Klangfarben.

Sie hörten hier, auf Europa-Tournee, viel neue Musik?

Ja. Wissen Sie, Brasilien ist sehr auf sich bezogen: modisch wie auch musikalisch. Zum Beispiel gehen wir Brasilianer davon aus, dass das Akkordeon ein brasilianisches Instrument sei – aus dem Forró (einem Musikstil aus dem Norden, die Red.). Dass das Akkordeon in der russischen Volksmusik ebenso vorkommt, ist uns nicht bewusst. Oder dass das argentinische Bandoneon kleiner, kompakter ist, weil man es so leichter transportieren konnte. Da stecken in einem Instrument so viele Geschichten drin, dass mir klar wurde, dass es noch viel zu lernen für mich gab, um meinen eigenen Stil zu finden, meine Geschichte, meine musikalische Sprache. Ein anderes Beispiel: Afrobrasilianische Musik heisst bei uns, dass ein Afrikaner, der in Brasilien lebt, brasilianische Musik spielt. Wir fragen uns gar nicht erst, woher aus Afrika er kommen könnte, wie viele Schattierungen es gibt. Ich staunte über die unglaublich reichhaltige Kultur, die man hier in Paris findet. Musik aus Mali, Kamerun, Botswana, Guinea. Ich entdeckte hier aber auch serbische Musik oder das Chanson. Und habe in all diesen Stilen Elemente gefunden, die ich der brasilianischen Musik zugeordnet hatte. Da merkte ich: Oh Gott, ich muss noch so viel lernen. Wenn ich eines Tags ein Album aufnehmen sollte, dann würde ich hier nach Paris zurückkehren, um zu recherchieren.

Das haben Sie dann 2006 gemacht, als Sie als Touristin einreisten und blieben. Hatten Sie nicht Angst, in Frankreich aufzufliegen und ausgeschafft zu werden?

Doch, ich hatte grosse Angst. Ich lebte ein Jahr lang ohne Visum hier, schlug mich als Sängerin durch und fand dann einen Arbeitsplatz, wo mir der Chef half und die notwendigen Bewilligungen einholte. Seither ist alles im grünen Bereich.

Zum Glück.

Oh ja, es war recht abenteuerlich: Ich sprach kein Französisch, hatte keine Papiere – aber immerhin einen Cousin, der mir hier half.

Und dafür mussten Sie aus Brasilien raus?

Ja, unbedingt. In Brasilien klingt die Musik von Stadt zu Stadt unterschiedlich. Rio und São Paulo haben ihre eigenen Stile und Sounds. Bemerkenswerterweise wissen die einen aber oft nicht, was die anderen machen. Ich wollte mich nicht an Ort und Stelle bewegen mit meiner Musik. Kommt hinzu, dass die grossen Sänger – Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Buarque, unsere Vordenker also – alles schon mal gemacht haben. Was seither kommt, ist die Fortsetzung der Fortsetzung der Fortsetzung. In Brasilien gibt es schon viel zu viele Kopisten, die zum Teil ihre Arbeit nicht gut machen, sich nicht weiterentwickeln. Das störte mich, wie auch die Tendenz, dass sexistische Texte in Brasilien zunahmen. Also entschied ich mich für den Bruch mit der Heimat.

Womit Sie eine Ausnahme bilden…

Ja. Die Brasilianer vernetzen sich nicht so international. Die Leute wollen ihre Heimat nicht verlassen. Ich aber wusste, dass ich abreisen musste, als Frau reifen, als Mensch und als Musikerin. Ich wollte die Nostalgie mitnehmen und mit neuen Einflüssen eine Mélange schaffen.

Sie haben Ihre Karriere als Sängerin von Standards begonnen. Welcher ist ihr All-Time-Favorit?

Sehr schwer zu sagen, es gibt so viele. Eine Zeit lang konnte ich 400 Lieder abrufen…

Wenn Sie die ganze Nacht lang immer wieder dasselbe Lied singen müssten…

Uff. Vielleicht eine Bossa? Nein, ich weiss jetzt welches: Samba de Orly von Chico Buarque. (Beginnt zu singen). Er erzählt darin von seiner Zeit in Paris, seiner Ankunft in Orly. Das Lied berührt mich sehr, sprach mich sehr an, als ich selber in Frankreich landete.

Ihr erstes Album erschien vor drei Jahren, hiess Bossa Muffin. Titel und Rhythmen versprechen starke Rhythmen. Ihre portugiesischen Texte handeln aber nicht nur von Sun und Fun, oder?

Nein. Aber sie sind auch nicht militant. Ich bin nicht jemand, der auf den Container steigt und die Fahne schwingt, ich mag es nicht, Botschaften mit dem Hammer zu überbringen. In einem Stück singe ich etwa über die Klimaerwärmung, den technologischen Fortschritt, die grossen Fragen, für die wir Lösungen suchen müssen – doch spreche ich darin auch vom Bauern, der keine Ahnung hat, den einzig umtreibt, täglich für das richtige Wetter zu beten. Solche Kombinationen interessieren mich. So versuche ich, grosse Fragen, die uns umtreiben, en passant zu vermitteln.

Warum wählen Sie diesen Zwischenweg?

Ich habe das Gefühl, dass die Leute die knallharte Realität täglich in den Medien erfahren. Direkt ins Gesicht, das funktionierte einst sehr gut. Aber heute haben die Leute in Brasilien genug davon, glaube ich.

Durch die Blume sangen doch auch die Musiker des Tropicalismo ihre Botschaften, damals um der Zensur durch die Militärdiktatur zu entgehen. Ist das vergleichbar mit Ihrem Ansatz?

Nun, es wäre sehr anmassend von mir zu sagen, dass ich den Tropicalismo fortführen würde. Aber meine Herangehensweise ist sicher vergleichbar.

Warum würden Sie sich nicht in diese Tradition einreihen?

Weil diese Leute für mich Helden sind, Gilberto Gil, Caetano Veloso, Chico Barque. Ich habe grossen Respekt vor dem, was sie gemacht haben.

In einem neuen Promovideo sieht man Sie am Ende über die Bühne gleiten, fast schon in Moonwalk-Manier. War Michael Jackson für Sie ebenfalls ein Held?

Ich bin mit seiner Musik aufgewachsen, klar, er war das Idol von allen. Aber noch wichtiger war für mich James Brown. Er hat alles getan für die aktuelle Musik, er war ein unglaublich wichtiger Wegbereiter, was seine Performance angeht, seine Rhythmen, aber auch seine Haltung als Person – er setzte sich für die Bürgerrechte ein. Er hat wirklich sehr viel in Bewegung gesetzt.

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Flavia Coelho live: «Stimmen»-Festival, Rosenfelspark, Lörrach. Mittwoch, 16. Juli, 20 Uhr.
Ebenfalls auf der Bühne an diesem Abend: Bilal (Neo-Soul, USA).

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