Der Mann, der die reale Welt retten will

Die Gefahren sind gross, noch haben wir aber eine Chance: Suchtexperte Renanto Poespodihardjo über die Gefahren der neuen Medien.

«Einfach nur verbieten, bringt nichts»: Renanto Poespodihardjo, Leiter Abteilung für Verhaltenssüchte in den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK).

Die Gefahren sind gross, noch haben wir aber eine Chance: Suchtexperte Renanto Poespodihardjo über die Gefahren der neuen Medien.

Das Fernsehen habe Menschen versklavt und ganze Länder verödet. Mit den neuen Medien dürfe es nicht auch noch so weit kommen, sagt Renanto Poespodihardjo von den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel (UPK), Abteilung Verhaltenssüchte.

Ist seine Hoffnung berechtigt? Haben uns die Computer, Smartphones und Tablets nicht schon längst in ihrer Macht? Ein Gespräch über den Kampf gegen die Sucht und das eigene Chat- und Konsumverhalten.

Herr Poespodihardjo, sind Sie bei einer WhatsApp-Gruppe mit dabei?

Bei einer Gruppe nicht, aber ich nutze WhatsApp selbstverständlich dann und wann. Auch beruflich, weil ich meine Patienten dort abholen muss, wo sie sich aufhalten. Und das ist heute nicht selten in der digitalen Welt.

Wir kennen Beispiele, da hat ein Schüler nur schon nach einem kurzen Akku-Ausfall Hunderte neuer Nachrichten. Das hat etwas Grenzenloses.

Ich war nur einmal in einem Chat, und dies per Zufall, bei einer Gruppe von RS-Soldaten. Die dort geposteten Bilder, Filme und Wortfetzen waren überwiegend inhaltsleer, und sie dienten vor allem dazu, eine bestimmte männliche Coolness zum Ausdruck zu bringen und sich so möglichst gut in der Gruppe zu positionieren. Manchmal ist ja nur schon ein Mann allein schwer zu ertragen – aber was diese Horde auf WhatsApp alles raufgemüllt hat! Aus einem solchen Chat können sich gravierende Probleme ergeben, weniger wegen der Menge als wegen des Inhalts. Ich denke da etwa an Mobbing, das so weit gehen kann, dass es auch strafrechtlich relevant wird. Wobei: Die reale Welt funktioniert da natürlich ähnlich.

Sie haben 243 neue Nachrichten. Was macht die ständige Erreichbarkeit mit uns? Welche Strategien entwickelt die Gesellschaft, um mit der neuen Realität umzugehen? Lesen Sie dazu unsere Titelgeschichte in der Wochenausgabe der TagesWoche vom Freitag, 6. Dezember – auf Papier oder in der App der TagesWoche.

Wie sollen Eltern mit solchen Problemen umgehen?

Sie müssen ihren Kindern helfen, in der virtuellen Welt selbst Verantwortung zu übernehmen. Einfach nur zu verbieten, bringt nichts, auch das läuft genau gleich wie in der realen Welt, wo niemand verhindern wird, dass sein Kind zum Beispiel auf die Rutsche geht. Solche Erfahrungen sind nötig. Es muss aber nicht gleich beim ersten Mal die längste Rutschbahn sein, bei der man unten hart aufschlagen kann. Darum geht es: zu lernen, was möglich und sinnvoll ist. Und damit auch zu sagen, nein, das ist jetzt nichts für mich, da mach ich nicht mit.

Das Problem ist doch, dass jeder Erwachsene schon mal selbst auf einer Rutschbahn sass und die entsprechenden Gefahren kennt, während er vom Internet nicht unbedingt eine Ahnung hat.

Klar, die «digital natives» kennen sich in der Welt des Internets sehr viel besser aus als die Generation vor ihnen. Das heisst aber nicht, dass man sie nicht mehr auf gewisse Gefahren aufmerksam machen kann und soll.

Müssen die «digital immigrants» die neue Welt dafür erst einmal genau kennenlernen?

Ich würde mir da keine allzu hohen Ziele setzen. Privat machen es etwa meine Partnerin und ich so, dass wir mit den beiden Kindern im Teenageralter regelmässig das Surfverhalten besprechen. Dieser Austausch ist nötig, damit die Jugendlichen verstehen lernen, was gesund ist und was nicht.

Wissen denn das die Erwachsenen noch? Ist zum Beispiel dieses weit verbreitete Gefühl, ständig erreichbar sein zu müssen, noch gesund?

Der Mensch braucht Rhythmen, und dazu gehören auch die Ruhephasen: der Schlaf, der freie Sonntag und ganz allgemein die Zeit der Nicht-Erreichbarkeit. Der Mensch braucht diese Leere, in der etwas Neues entstehen kann. Diesen Raum müssen wir unbedingt schützen.

«Das Internet ist voller einfacher Erklärungen, obwohl sich viel Wichtiges dafür überhaupt nicht eignet.»

Kann der Mensch, kann die Welt, einen Gedanken überhaupt noch zu Ende denken, wenn nach jedem neuen Einfall schon die nächste neue Nachricht zu einem ganz anderen Thema kommt?

Diese Frage müsste eher ein Philosoph beantworten. Ich selbst stelle bei mir einfach fest, dass ich bei der Aneignung von Wissen häufig zu schnellen einfachen Häppchen greife und schon fast Mühe habe, wenn ich wieder einmal mit einem komplizierten Text konfrontiert bin. Das Internet ist voller einfacher Erklärungen, obwohl sich komplexe Sachverhalte und aufwendige Gedankengänge dafür überhaupt nicht eignen. Das Schlimme ist, wenn man nach ein paar Klicks dennoch schon das Gefühl hat, alles vermeintlich verstanden zu haben und so den Auseinandersetzungen mit den schwierigen Fragen aus dem Weg geht.

Wie kommt man weg von diesen Häppchen und wieder mal zur Ruhe?

Es gibt einige Menschen, die genug haben, von diesem Gefühl, immer präsent sein zu müssen, diesem Gejagt-Sein. Sie legen Smartphones und Tablet weg und gehen zum Beispiel an ein Konzert, einfach so, ohne Smartphone, ohne Ablenkung. Das ist eine gute Idee, das möchte ich unterstützen.

Geht die Entwicklung nicht in eine ganz andere Richtung? Die Soziologin Ute Holl hat uns gesagt, soziale Gruppen und ganz speziell die Familie fielen auseinander, weil alle nur noch mit sich selbst und ihrer digitalen Identität beschäftigt seien.

Eine generelle Aussage kann ich nicht machen. Aber natürlich sass auch ich schon mit Leuten an einem Tisch, mit denen ein Gespräch kaum möglich war, weil sie via iPhone gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt waren. Mit dem Quiz zum Beispiel, das derzeit gerade in Mode ist. Selbstverständlich ist auch das ein sozialer Kontakt, aber nur ein sehr reduzierter. Wer sich dem exzessiv hingibt, der riskiert, irgendwann die Fähigkeit zu verlieren, die Menschen in seinem Umfeld in ihrer Ganzheit wahrzunehmen und sie richtig einzuschätzen.

«Das Fernsehen hat ganze Länder verödet. Bestes Beispiel dafür ist Berlusconis Italien.»

Was kann die Gesellschaft dagegen tun?

Wichtig ist nur schon mal die Sensibilisierung, das Nachdenken, wie das in Basel nun mit der Kampagne «Schalt mal ab!» geschieht. Wenn wir dabei merken, dass Jugendliche und Erwachsene die ähnlichen Probleme im Umgang mit den Neuen Medien haben, dass sie im gleichen Boot sitzen, dann haben wir schon einiges erreicht. Ich glaube, wir haben jetzt gemeinsam die ganz grosse Chance, einen vernünftigen Umgang zu lernen. Beim Fernsehen hat man solche Gedanken leider gar nicht erst angestellt, sondern kapituliert. Niemand hat etwas dagegen unternommen, dass das Fernsehen ganze Länder verödete und die Menschen versklavte. Bestes Beispiel dafür ist Berlusconis Italien. Nun können wir das Versäumte nachholen und dafür sorgen, das die Menschen ihre sozialen und kulturellen Bedürfnisse auch in der Realität ausleben können. Noch sind wir ja analoge Wesen, die solche Bedürfnisse auch tatsächlich haben.

Liegt das Problem nicht möglicherweise darin, dass die analoge Welt für viele Menschen viel zu eintönig ist?

Ein Tier wird im Idealfall in eine Welt hineingeboren, die ein Teil seiner Selbst ist, weil sich die Art über Jahrmillionen daran anpassen konnte. Beim Menschen ist das anders: Er kommt mit einer uralten genetischen Disposition in eine Welt, die von Leuten laufend neu produziert wird, die nicht den Organismus im Fokus haben, sondern den Profit und damit einen möglichst grenzenlosen Konsum. Das muss einem bewusst sein, wenn man die immer wieder neuen Angebote vernünftig nutzen will. Dabei geht es gar nicht um ein Entweder-Oder. Im besten Fall ist sowohl das digitale wie auch das reale Leben interessant und anregend.

An einem Vortrag haben Sie gesagt, man müsse damit rechnen, dass in ein paar Jahren alte, kranke und überhaupt sozial schwache Menschen aus Kostengründen in die virtuelle Welt abgeschoben werden. Klingt ein wenig nach Science-Fiction.

Die Aussage war eine Provokation. Ich wollte erreichen, dass man sich möglichst frühzeitig darüber Gedanken macht: Was macht eine Gesellschaft, wenn sie Geld sparen kann, indem sie Alte und Kranke in die virtuelle Welt abschieben kann, die bis in ein paar Jahren noch einiges vielfältiger sein wird, als sie es heute schon ist? Da besteht meines Erachtens schon die Gefahr, dass eine Gesellschaft einen Entscheid fällt, der sich finanziell lohnt, aber inhuman ist. Meine Botschaft ist: Wehret den Anfängen!

Bin ich süchtig?
• Denken Sie auch in Zeiten, in denen Sie eigentlich offline sind, viel an Computerspiele, ans Surfen und Chatten?
• Sind Sie häufig länger als beabsichtigt am Computer, Tablet oder Smartphone?
• Hatten Sie in den vergangenen zwölf Monaten schon Probleme mit dem Umfeld wegen Ihres Internet­konsums, sei es in der Familie, in der Schule oder im Geschäft?
Wenn Sie nur schon eine dieser ­Fragen mit Ja beantworten, sind Sie suchtgefährdet – zumindest wenn es nach dem Basler Gesundheitsdepartement geht, das die Kampagne «Schalt mal ab!» lanciert hat. In der Stadt wird in diesen Tagen mit Flyern auf die Gefahren übermässigen Internetkonsums aufmerksam gemacht. Und von dieser Botschaft müssten sich eigentlich einige angesprochen fühlen. Das Gesundheitsdepartement geht davon aus, dass landesweit mindestens 70 000 Menschen bereits süchtig sind.
Welche Folgen der exzessive Konsum längerfristig haben kann, ist noch ungewiss. Die Wissenschaft steht in diesem Bereich noch ganz am Anfang. So sind sich die Fachleute nicht einmal einig, ob man tatsächlich von einer Sucht sprechen kann. Bestimmte Phänomene ­sprächen jedenfalls dafür, sagt der Basler Suchtexperte Renanto ­Poespodihardjo: die Abhängigkeit, der laufend zunehmende Konsum, die während der Therapie drohenden Entzugserscheinungen. Andere Phänomene deuteten Poespodihardjo zufolge allerdings eher in Richtung einer Persönlichkeits­störung: Das Abdriften in die virtuelle Welt, in der ein Gamer möglicherweise sehr viel Anerkennung erfährt, steht im Kontrast zur realen Welt, wo es am Arbeitsplatz immer mehr Probleme gibt.
Damit es nicht so weit kommt, hat das Basler Gesundheitsdepartement ein paar simple Ratschläge: in der Freizeit nicht mehr als zwei Stunden pro Tag surfen, am besten innerhalb von festgelegten Zeit­fenstern und mit dem Ziel der Unterhaltung und Informationsbeschaffung, nicht zur Ablenkung von Frust, Ärger oder Sorgen. Die alltäglichen Pflichten dürfen nicht unter dem ­Internetkonsum leiden. Freunde und Verwandte sollte man ­weiterhin auch im realen Leben treffen.
Weitere Informationen auch über Beratungsangebote finden Sie auf der Seite des Basler Gesundheitsdepartementes, Abteilung Prävention.

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