Wie Daniel Albrecht erwischte es auch Hans Grugger auf der Abfahrt von Kitzbühel. Ein Jahr nach dem Unfall verspürt er vor allem eines: Dankbarkeit.
Vor Weihnachten war Hans Grugger noch einmal zu Besuch im Krankenhaus Hochzirl, wo er sich von seiner schweren Kopfverletzung erholt hat. Der 30-Jährige traf dabei das erste Mal Dr. Ilse Laimer, eine Ärztin, der er sein Leben verdankt. «Ich hatte auf der Intensivstation viel mit ihr zu tun», erzählt er, «leider ist mir von damals nichts in Erinnerung geblieben. Es ist mir ein grosses Bedürfnis, mich bei jenen Leuten persönlich zu bedanken, die mich aus dieser Situation gerettet haben.» Dankbarkeit. Das ist das Wort, das der Skirennfahrer seit seinem Sturz auf der Streif in Kitzbühel vor Jahresfrist am häufigsten verwendet.
Herr Grugger, wie geht es Ihnen, wenn Sie Ihre Lebensretter treffen?
Da rinnen dann schon die Tränen, weil alles wieder hochkommt. Es ist sehr emotional, diese Leute zu treffen und dabei zu wissen: Denen verdanke ich, dass ich heute hier sitzen darf und mein Leben so leben kann. In diesen Momenten bin ich kein harter Typ, wie viele vielleicht glauben.
Weil Ihnen klar wird, wie bedrohlich Ihr Sturz war?
Mir war lange nicht bewusst, was eigentlich mit mir passiert ist. Am Anfang kriegst du ja sowieso kaum was mit. Und wie ich dann ein wenig mehr gecheckt habe, war es so, dass ich das alles nicht wahrhaben wollte. Ich habe lange versucht die Geschichte zu verdrängen. Dabei …
Dabei?
Dabei muss ich mich dieser Situation stellen. Ich habe viele Gespräche mit der Ingrid (Ingrid Rumpfhuber, Gruggers Freundin; Anm. der Red.) führen müssen, bis mir klar war: Das ist jetzt einfach ein Teil von meinem Leben. Das habe ich zu akzeptieren. Aus.
Klingt, als wäre die Verarbeitung Ihres Sturzes vor allem eine Herausforderung für den Kopf?
Genau das ist die Challenge. Körperlich hast du eine Aufgabe, der du dich stellen musst, du hast tägliche Übungen. Das ist mühsam, ab und zu auch deprimierend, weil Sachen nicht funktionieren, die du vorher immer gemacht hast. Aber den Körper zu trainieren, das ist mein Job, für einen Sportler ist das sein täglich Brot. Aber die andere Sache, die war wirklich eine riesige Herausforderung: Ich hatte Angst, meinen Sturz anzuschauen. Weil ich nicht gewusst habe, wie ich darauf reagieren werde, was diese Bilder in mir auslösen werden.
Und wie haben Sie reagiert, als Sie das zum ersten Mal gesehen haben?
Das eigentlich Schwierige daran war die Starttaste zu drücken, damit der Film abläuft. Dafür habe ich lange gebraucht. Das Video selbst war dann kein Problem.
Kein Problem?
Es klingt komisch, aber ich habe da keinen Zusammenhang zu mir hergestellt. Ich weiss zwar, dass ich es bin, der da stürzt und liegt, aber das Einzige, was ich sehe, ist, dass der, den es da aufgestellt hat, heute wieder gesund ist. Und damit machen mir die Bilder auch nichts. Ich glaube, dass das ein Schutzmechanismus des Menschen ist. Ich habe mit Daniel Albrecht gesprochen, dem geht es ähnlich, wenn er sich seinen Sturz von Kitzbühel ansieht.
Ihr Sturz wurde auf YouTube von Hunderttausenden angeklickt, von Ihrer Siegesfahrt in Bormio findet man kein Video.
Das ist komisch. Aber du kriegst das schon mit, wenn du auf einer Skihütte bist und im Fernsehen läuft ein Skirennen. Wenn es einen zerreisst, dann gibt es Leute, die haben dabei eine Gaudi. Und das ist für mich schon ziemlich erschreckend.
Stört es, dass Sie heute auf den Sturz reduziert werden, dass Sie erst der Unfall berühmt gemacht hat?
Glauben Sie mir: Ich wäre lieber weniger berühmt und hätte dafür ein, zwei Rennen mehr gewonnen – und wäre nicht auf YouTube zu finden. Aber ich weiss: So wie ich meinen Sturz akzeptieren muss, so muss ich das auch hinnehmen. Ich habe mittlerweile kein Problem, über den Sturz zu reden. Natürlich ist es nicht mein Lieblingsthema. Aber es ist nun einmal passiert, es gehört zu meinem Leben.
Haben Sie denn noch grosse Einschränkungen?
Das Problem ist der rechte Fuss. Da fehlt noch die Wahrnehmung, da ist die Tiefensensibilität gestört. Wenn ich an den Haaren ziehe, spüre ich das. Aber wenn ich zum Beispiel mit beiden Beinen in die Höhe springe, dann gibts ein Missverständnis. Die Ärzte sagen, dass sich das legen wird.
Sie haben am Anfang auch über Konzentrationsstörungen geklagt.
Es fällt mir noch immer schwer, die Aufmerksamkeit zu behalten. Vor allem an Tagen, an denen es von früh bis spät durchgeht. Da bin ich abends körperlich zwar fit, liege aber vor dem Fernseher und kriege nichts mit.
Und wie funktioniert das Skifahren?
Im Moment würde ich das eher noch als Genussskifahren bezeichnen. Der Kopf kommt mit dem Tempo noch nicht so mit, ich muss erst eine Sicherheit kriegen, bevor ich wieder durch Tore fahren kann. Das Ziel ist immer noch, über den Winter so fit, so gesund zu werden, dass ich in der nächsten Saison ganz normal ins Training einsteigen kann. Das Ziel ist, irgendwann wieder am Start zu stehen.
Der Kopf müsste doch eigentlich sagen: Nein!
Es ist jedenfalls ein Wunsch von mir, ein Ziel. Aber es ist nicht so, dass für mich eine Welt zusammenbrechen würde, wenn es nicht klappen sollte. Ich hätte kein Problem, damit zu sagen: «Schluss, es geht nicht mehr.»
Ganz ehrlich: Rentiert sich der ganze Aufwand, das ganze Risiko für einen, sagen wir, 28. Platz?
Genau das ist die Frage. Wenn ich nächstes Jahr zum Beispiel in Lake Louise 28. werden würde, ganz ehrlich: Für mich würde es das schon bringen. Das ist jetzt sicher egoistisch, aber mich würde schon interessieren zu sehen: Was ist noch möglich?
Als Ihre Mutter, als Freundin müsste man Ihnen eigentlich sagen: «Spinnst du, weiterzufahren, nach all dem, was passiert ist?»
Das haben sie ja eh gesagt. Im Ernst: Ich habe mit der Ingrid lange geredet, und wir haben uns darauf geeinigt: Für sie ist es okay, wenn es geht. Für sie ist wichtig, dass ich hundertprozentig fit bin, körperlich und geistig in der Lage, das zu machen. Dann ist sie einverstanden. Sie ist nicht begeistert, aber sie akzeptiert und versteht es.
Und wenn Ihre Familie Sie auf Knien bitten würde, nicht mehr zu fahren?
Diesem Wunsch hätte ich wahrscheinlich nachgegeben. Wenn die Ingrid gesagt hätte, sonst müsste sie mich verlassen, dann hätte ich aufgehört. Und wenn die Ärzte gesagt hätten, dass es keinen Sinn macht, dass es gefährlich ist, dann hätte ich es sowieso gelassen.
Haben Sie denn im Hinterkopf einen Plan B, oder ist alles auf das Comeback ausgerichtet?
Nein, es gibt keinen Plan. Natürlich habe ich im Sommer viel überlegt, was ich machen könnte. Aber im Moment ist das noch kein Thema: Wenn ich ein Formular ausfüllen muss, steht bei Beruf «Rennläufer» drin.
Was kann, was reizt Hans Grugger denn sonst noch?
Sicher wäre irgendwas mit Skifahren interessant. Aber was ich zum Bei-spiel gerne mache, ist Kochen: Das interessiert mich, deswegen waren die ersten Wochen nach dem Sturz auch so hart.
Warum?
Weil auch meine Geschmackssachen was abbekommen haben. Am Anfang war alles grauslig, was ich gegessen habe, alles war zu süss. Das war arg, weil ich sehr gerne was Gutes esse. Und dann beisst du in irgendwas rein, und es schmeckt furchtbar.
Sie haben die ersten Wochen angesprochen: An was können Sie sich noch erinnern?
Bei der Therapie in Hochzirl war ich so mit mir beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekommen habe, was rund um mich los ist. Erst in der letzten Woche ist mir richtig bewusst geworden, was für Glück ich gehabt habe.
Inwiefern Glück?
Da kommen Leute rein, die nur den kleinen Finger bewegen können. Wo die Ärzte, die Angehörigen dann schon happy sind, wenn ein zweiter Finger dazukommt. Mir sind dann zwangsläufig die Gedanken gekommen: Warum der? Warum hatte derjenige so ein Pech und ich so ein Glück?
Hatten Sie ein schlechtes Gewissen?
Kein schlechtes Gewissen, aber du verstehst es halt nicht. Es ist unverständlich, warum der daliegt und nichts tun kann. Und ich nach vier Wochen als ein relativ Gesunder wieder aus dem Krankenhaus rausgehen kann. Das beschäftigt einen auch.
Haben Sie also nie gehadert: Warum musste mir dieser Sturz passieren?
Diese Gedanken sind sicher irgendwann einmal gekommen, aber das war nicht sehr ausgeprägt. Ab und zu schiesst es mir durch den Kopf: «Ah, es ist schon blöd zugegangen.» Aber es überwiegt die Dankbarkeit, dass ich hier sitzen und ein normales Leben führen kann.
Was haben Sie gelernt im letzten Jahr?
Sehr viel. Ich hab gehen gelernt, laufen, springen, viele Bewegungen. Und ich weiss jetzt wieder, wie schön wirs in Österreich haben. Das ist mir bewusst geworden, wo ich das erste Mal am Radl gesessen bin. Das weisst du ja nicht immer zu schätzen: Früher hatte ich einen Schleim (Österreichisch für «genervt sein»; Anm. d. Red.), wenn ich am Radl trainieren hab müssen: Und jetzt bin ich gefahren, habe nur die Gegend angeschaut und mir gedacht: «Boah, ist das lässig, mir gehts gut. Ich bin glücklich, ich habe eine tolle Familie, ich bin gesund.» Und eines ist mir heute auch klar: Dass das alles nicht selbstverständlich ist.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 20/01/12