«Der Tod fasziniert mich nicht, aber er gehört zum Leben»

Ursula Vogt (60) ist seit zehn Jahren Sterbehelferin bei Exit. Im Interview erzählt sie, wie sie auf die Idee kam, Menschen in den Suizid zu begleiten und welche Gefühle sie hat, wenn sie jemandem das tödliche Medikament reicht.

Wenn Ursula Vogt todkrank wäre, wäre der assistierte Suizid der richtige Weg für sie.

(Bild: Alexander Preobrajenski)

Ursula Vogt (60) ist seit zehn Jahren Sterbehelferin bei Exit. Im Interview erzählt sie, wie sie auf die Idee kam, Menschen in den Suizid zu begleiten und welche Gefühle sie hat, wenn sie jemandem das tödliche Medikament reicht.

Ursula Vogt, wie lange ist es her seit Ihrer letzten Sterbebegleitung?

Drei Wochen.

Geht Ihnen das nahe?

Ja, vor allem, wenn es jüngere Leute sind. Da fehlt einfach ein Stück Lebensgeschichte. 

Über Suizid zu berichten, ist heikel
Exit-Mitarbeiter bestehen darauf, die Suizidhilfe «begleiteten Freitod» zu nennen. Die TagesWoche zitiert sie entsprechend, distanziert sich aber von dieser Wortwahl. Berichte über Suizide provozieren Nachahmungstaten. Der Presserat fordert Journalisten deshalb auf, zurückhaltend zu berichten. Dazu gehört, auf den Begriff «Freitod» zu verzichten. Er impliziert, Menschen würden aus freien Stücken Suizid begehen. Das ist aber fraglich, da suizidale Personen meistens in existenziellen Krisen stecken.

Begleiten Sie viele junge Leute in den Suizid?

Nein, das Durchschnittsalter liegt bei 76 Jahren, die älteste Person war 103. Diese Leute sagen: «Ich habe mein Leben gelebt.» Und jetzt sind sie schwer krank. Bei Jüngeren ist das natürlich anders, die hätten noch Pläne gehabt.

Weshalb wollen Sie diesen Leuten in den Suizid helfen?

Ich bin ausgebildete medizinische Radiologieassistentin und habe früher im Basler Unispital gearbeitet. Als ich Kinder hatte, hörte ich auf. Später suchte ich eine Beschäftigung, die mit Medizin zu tun hat und bei der ich Menschen helfen kann.

Und da bietet sich Sterbehilfe als Erstes an?

Ich sah einen Film über Exit im Fernsehen. Sie zeigten vier Fälle von Schwerkranken, die sterben wollten. Das hat mich sehr beeindruckt. Nach dem Film setzte ich mich an den Computer und fragte bei Exit Schweiz an, ob sie Bedarf an Freitodbegleitern hätten. Kurz danach durfte ich mich vorstellen und begann mit der Ausbildung.

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Ich kann den Wunsch, sterben zu wollen, verstehen. Aber wie kommen Sie dazu, eine Rolle beim Tod fremder Menschen spielen zu wollen?

Wenn ich krank wäre und keine Hoffnung hätte, wäre der Freitod für mich auch der richtige Weg.

Sie sagen, Sie möchten Leuten helfen. Aber Sie könnten ja auch Mütter mit frischgeborenen Kindern unterstützen. Warum wählen Sie den Tod und nicht das Leben?

Ich sah bei meinem Vater, wie schön es ist, daheim sterben zu können, im Kreis der Familie. Er hatte Darmkrebs, wir pflegten ihn zwei Jahre lang zu Hause. Der Tod ist etwas ganz Natürliches, das erlebte ich schon als Kind. Ich sah, wie mein eigener Grossvater in meinem Bett aufgebahrt wurde.

In Ihrem Bett?

Ja, das hat mich damals geschockt. Er war der erste Tote, den ich sah, und ich konnte nachher nicht mehr in meinem Bett schlafen, das wurde auch respektiert.



Ursula Vogt redet gerne von Selbstbestimmung.

Ursula Vogt redet gerne von Selbstbestimmung. (Bild: Alexander Preobrajenski)

Das war trotzdem nicht sehr einfühlsam von Ihren Eltern.

Ich war nicht mehr so klein, und man wusste ja, dass es bald einen Toten gibt. Heute denkt man, Medizin rettet alles. Aber irgendwann hilft eben Medizin auch nicht mehr.

Fasziniert Sie der Tod?

Nein, aber er gehört zum Leben.

Gilt das nicht auch für Krankheit und Leid, gerade gegen Ende des Lebens?

Es gibt Menschen, die sehr leidensfähig sind, und andere weniger. Deshalb finde ich es schön, dass bei uns in der Schweiz jeder entscheiden kann, welchen Weg er gehen will. Und ich begleite ja nicht alle meine Patienten in den Tod. Ein grosser Teil lebt weiter.

Wollen diese Menschen plötzlich nicht mehr sterben?

Vielen hilft schon ein Gespräch. Sie wollen aus ihrem Leben erzählen, wie es ihnen geht. Viele Patienten sind traurig, als Folge ihrer Krankheit. Oft sagen sie mir, der Arzt habe keine Zeit, um darüber zu reden.

Das kritisiert auch Psychiaterin Gabriela Stoppe. Im Interview sagte sie, wenn sich die Gesellschaft mehr um einsame, ältere Menschen kümmerte, würden weniger Menschen sterben wollen.

Ich glaube, dass viele jüngere Menschen bereit wären, sich um ihre älteren Angehörigen zu kümmern. Mich erstaunt, dass viele ältere Leute gar nicht wollen, dass ihre Kinder ihnen helfen. Aber in ein Alters- und Pflegeheim wollen sie auch nicht. Sie haben das schon beim Partner miterlebt oder bei Freundinnen.

 Gabriela Stoppe im Interview: «Viele alte Menschen wollen kein Leben im Pflegeheim.»

Also sterben sie, weil sie keine Aufgabe mehr haben im Leben?

Nein, wohlgemerkt: Bei Exit können gemäss Statuten nur Menschen sterben, die «unerträgliche Schmerzen, eine tödliche Krankheit oder eine schwere Behinderung haben». Die Hauptgründe sind Erblindung, Verlust der Mobilität und unerträgliche Schmerzen, die gehen im Pflegeheim ja nicht weg. Viele benötigen starke Medikamente, um ihre Schmerzen zu ertragen. Sie wollen nicht im Dämmerzustand in einem Hospiz auf ihren Tod warten.

Dagegen hilft reden auch nicht mehr.

Doch, und der Gedanke, sterben zu können, hilft auch.

Ursula Vogt ist seit zehn Jahren Sterbehelferin.

Mischen Sie das Todesgetränk für den Sterbewilligen?

Ja, ich löse das Medikament auf im Wasser und gebe ihm das Glas.

Gibt Ihnen das ein Gefühl von Macht?

Nein, an so etwas habe ich noch nie gedacht.

Wie fühlt sich das an?

Wenn ich das Glas in der Hand habe, frage ich mindestens zwei Mal nach, ob der Patient sicher ist, dass er das wirklich trinken will, und weise ihn darauf hin, dass es danach kein Zurück gibt.

Das fragen Sie zwei Mal?

Die Patienten nerven sich manchmal sogar. Aber ich muss sicherstellen, dass der Mensch das wirklich will und sich der Konsequenzen bewusst ist.

Hoffen Sie jeweils, dass er einen Rückzieher macht?

Hoffen kann man immer, aber es hat noch nie jemand «Stopp» gesagt. Sie sagen jeweils eher: «Endlich sind Sie da.» Aber die Angehörigen hoffen oft bis zuletzt, dass der Patient es sich anders überlegt.

Müssen Sie weinen?

Der Abschied ist sehr emotional und berührt mich.

Reden die Menschen über das Danach?

Ja. Viele Patienten machen mit ihren Kindern ab, dass sie sich nach dem Tod wiedersehen. Kürzlich vereinbarte eine Mutter mit ihrer Tochter einen Code. Die Mutter sagte der Tochter, sie solle damit nach einem halben Jahr zu einer Wahrsagerin gehen. Wenn diese den Code errate, gebe es ein Nachher und sie könnten Kontakt halten.

Und?

Ich habe noch nie Rückmeldung bekommen.

In Belgien wurde kürzlich ein Kind in den Suizid begleitet. Was halten Sie davon?

Das ist bei uns kein Thema, die Zeit ist nicht reif. Aber auch ein 12-Jähriger, der sehr krank ist, kann sagen, er wolle das nicht mehr ertragen und lieber sterben. Das muss man ernst nehmen.

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