Marina Abramovic ist die berühmteste und umstrittenste Performancekünstlerin der Gegenwart. Am Theater Basel spielt sie ihre Paraderolle: sich selbst. Die TagesWoche sprach davor exklusiv mit Marina Abramovic.
Als Höhepunkt der diesjährigen Theatersaison zeigt das Theater Basel während der Art-Woche das spartenübergreifende Spektakel «The Life and Death of Marina Abramovic». Regisseur Robert Wilson lässt darin die 65-Jährige Performance-Künstlerin Szenen und Stationen Ihres Lebens und Ihrer Karriere Revue passieren: von ihrer serbischen Kindheit über ihre polarisierendsten und aufsehenerregendsten Kunstprojekte bis hin zur eigenen Beerdigung.
Diese Produktion, die Musik, Theater und Performance-Kunst umfasst, wurde letztes Jahr am Manchester International Festival uraufgeführt und gilt als genauso kontrovers wie Abramovics eigene künstlerische Arbeiten – unter anderem etwa «The Artist is Present», wo sie 2010 im Museum of Modern Art Zehntausenden von Besuchern insgesamt 600 Stunden lang regungslos auf einem Holzstuhl gegenübersass. Das Basler Gastspiel ist mit dem Hollywood-Charaktermimen Willem Dafoe und dem transsexuellen Gesangsvirtuosen Antony Hegarty (Antony & The Johnsons) bis in die Nebenrollen prominent besetzt. Der TagesWoche gelang es, vorab ein exklusives Interview mit Marina Abramovic zu führen.
Frau Abramovic, sind Sie eine Märtyrerin?
Wie kommen Sie darauf?
In Ihren Performances leiden Sie, geisseln und quälen sich. Opfern Sie Ihr Leben für die Kunst?
Oh nein, das ist ein Missverständnis. Ich leide nicht. Im Gegenteil: ich bin ein glücklicher Mensch, denn ich habe die Freiheit, mein Leben der Kunst zu widmen und meine Ideen umzusetzen.
Sie leiden nicht, wenn Sie sich mit einem Messer den Bauch aufschlitzen oder Hunderte von Stunden regungslos auf einem Stuhl verharren?
Ich setze mich Situationen aus, die andere als unangenehm oder beängstigend empfinden. Das scheint vielen Menschen radikal. Für mich sind es wertvolle Erfahrungen.
Was geht Ihnen in diesen Extremsituationen alles durch den Kopf?
Ich versuche, in diesen Momenten so wenig wie möglich zu denken, sondern vielmehr völlig im Jetzt, im Präsens, also der reinen Präsenz aufzugehen.
Gelingt Ihnen das?
Mittlerweile meistens (lacht). Aber dahinter stecken Jahrzehnte Erfahrung und hartes Training.
Das deutsche Magazin «Stern» hat Sie als «härteste Künstlerin der Welt» bezeichnet. Zu Recht?
Über solche Aussagen muss ich schmunzeln. Aber für meine künstlerische Arbeit sind derartige Kategorien absolut irrelevant.
Kritiker halten Sie für eine Masochistin oder Exhibitionistin.
Wer ernsthaft so einen Scheiss behauptet, hat sich in meinen Augen bereits selber disqualifiziert. Auf so vulgäre Aussagen will ich gar nicht näher eingehen. Sind etwa alle Soldaten oder Wächter Masochisten, nur weil sie stramm- oder stillstehen?
Was reizt Sie denn daran, immer wieder neue Grenzen zu überschreiten? Gibt Ihnen das nicht doch einen gewissen Kick?
Das ist zu einfach gesagt. Schliesslich geht es nicht um sportliche Leistungen, sonst könnte ich ja auch einen Marathon laufen. Als Performance-Künstlerin bin ich Subjekt meiner Arbeit. Dahinter steht aber ein klares Konzept: die unbegrenzten Möglichkeiten der Kunst aufzuzeigen, und wie man diese nutzen kann, um Neues zu schaffen.
Unbegrenzt? Gibt es für Sie wirklich keine Grenzen oder Tabus?
Nein, jedenfalls nicht im engeren Sinne. Es geht einzig und allein darum, meine Ideen umzusetzen. Und ich habe noch jede Idee, die mich gefesselt hat, umgesetzt: auch wenn zwischen Gedanke und Verwirklichung zum Teil über ein Jahrzehnt verging.
Haben Sie dabei nie Angst um sich und um Ihren Körper?
Natürlich habe ich Angst, etwa wenn es im Flugzeug starke Turbulenzen gibt. Ich bin ja schliesslich kein Superheld. Das muss man aber klar von meiner künstlerischen Vision unterscheiden. Viele Grenzen existieren nur im Kopf. Wenn man sich sagt: «Ich tue es, koste es, was es wolle», dann kann man diese Hürden plötzlich erstaunlich problemlos überwinden. Es braucht dafür nur Neugierde und einen starken Willen. Wir machen uns viel zu viele Sorgen. Das grösste Problem ist, dass wir gleichzeitig die Konfrontation mit den eigenen Ängsten scheuen. Dabei kann ich Ihnen nach 40 Jahren künstlerischer Arbeit eines sagen: Es lohnt sich! Aus dem Mut entwickelt sich nämlich innere Stärke.
Brennt einen dieses beständige An-das-Limit-Gehen nicht aus?
Im Gegenteil! Es verschafft einem Einblicke in ein höheres Bewusstsein, eine parallele Realität, die einem wiederum ungeahnte Kräfte verleiht.
Also steckt ein religiöser oder spiritueller Kern in Ihrer Arbeit?
Ich mag diese Begriffe nicht so. Ich würde eher sagen, es geht um den Zugang zu einer Art universellen Energie, die sich auch einem meditierenden Mönch oder Asketen eröffnen kann.
Woher kommen eigentlich all Ihre radikalen künstlerischen Ideen?
Überall und nirgendwo her. Es ist eigentlich genau umgekehrt: Weil ich so viele, viel zu viele Ideen habe, bin ich Künstlerin. Für mich ist das so natürlich und notwendig wie Atmen.
Anders gefragt: Was inspiriert Sie?
Oh, viele Dinge. Andere Menschen, andere Länder. Ich habe etwa bei den Aborigines und in Brasilien gelebt – doch grundsätzlich gibt es in allen Kulturen Rituale und Zeremonien, die das Überschreiten einer Grenze beinhalten und somit einen Neuanfang markieren. Aber wenn Sie wissen wollen, was mich beeinflusst oder geprägt hat, dann war es meine Familie. Mein Onkel wurde heiliggesprochen, meine Eltern waren jugoslawische Nationalhelden, militärische Würdenträger. Meine Mutter hat mich eiserne Disziplin gelehrt.
Vom Aufwachen bis zum Einschlafen herrschte daheim also Drill?
Mehr als das: rund um die Uhr. Wenn ich nicht ordentlich geschlafen habe, hat meine Mutter mich geweckt. So lange, bis ich auch im Schlaf die absolute Kontrolle über mich hatte.
Selbstkontrolle scheint auch für Ihre eigene Arbeit absolut zentral. Sind Sie ein Kontrollfreak?
Nein. Kontrolle ist genauso wie Körperbeherrschung sehr wichtig. Genauso zentral ist aber deren Überschreitung, beides bedingt einander. Ich will die absolute Kontrolle über meine Arbeit, nicht aber über mein Leben.
Können Sie Kunst und Leben, Performance und Person überhaupt voneinander trennen?
Nein, nicht wirklich. Das ist schwierig bis unmöglich, da haben Sie recht. In dieser Hinsicht bin ich wohl ein sehr widersprüchlicher Mensch. In gewissem Sinne habe ich aber gar nicht das Bedürfnis nach einer strikten Trennung, ich hatte nie grosses Interesse an einem Privatleben im bürgerlichen Sinne, an Heirat und Kindern. Was ich eben meinte, war eher, dass ich auch loslassen und Kontrolle abgeben kann.
Zum Beispiel die Kontrolle bei «The Life and Death of Marina Abramovic» an Regisseur Robert Wilson abgeben?
Genau. Obwohl es eine Art Biografie ist, ein Stück über meine Person, bin ich hier nur sein Werkzeug. Das ist wunderbar befreiend und verschafft mir gleichzeitig wieder eine ganz neue Perspektive auf mein eigenes Leben.
Und auf Ihren Tod: Im Stück sterben Sie. Nicht seltsam für Sie?
Viel seltsamer scheint mir, dass die meisten Menschen sich so wenig mit dem Tod beschäftigen. Der Tod macht das Leben doch erst einzigartig und lebenswert. Als Konzept und Projektionsfläche schafft er ausserdem eine unglaubliche kreative Energie.
Können Sie als Performancekünstlerin überhaupt vorher aufhören – oder bedeutet erst der Tod das Ende Ihrer Karriere?
Ich glaube nicht, dass ich vorher aufhören kann oder will.
Dann wird auch Ihr Sterben eine letzte grosse Performance?
Das kann ich nicht sagen. Sterben ist für uns schwer vorstellbar, der Tod bleibt erst recht eine Überraschung.
Aber ausschliessen würden Sie dies nicht?
Nein, das sicher nicht. Ich weiss es schlicht noch nicht.
Ihre Beerdigung haben Sie dagegen bereits bis ins Detail geplant.
Ja, das habe ich, wie Sie ja anscheinend wissen. Aber ich will jetzt nicht nochmals alles ausführen. Ich mag es nicht, mich zu wiederholen. Wenn es Sie wirklich interessiert, können Sie es an vielen Orten nachlesen (lacht).
Was steht auf Ihrem Grabstein?
«It’s not to do, it’s to be.» Die letzten drei Worte sind so simpel und doch so entscheidend: Das Sein ist alles.
«The Life an Death of Marina Abramovic», Theater Basel. Premiere: 13. Juni. Weitere Vorstellungen: 14 und 15. Juni, jeweils 20 Uhr auf der Grossen Bühne.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.06.12