Die Bürgergemeinde galt einst als Machtzentrale dieser Stadt. Heute wird sie kaum mehr wahrgenommen. Im Interview erklärt Bürgerratspräsident Leonhard Burckhardt, weshalb dies der Fall ist und wo er die Zukunft der Bürgergemeinde sieht.
Die Bürgergemeinde der Stadt Basel kämpft um ihre Bedeutung. Seit die einst wichtigste Aufgabe der grössten Bürgergemeinde der Schweiz, die Basler Sozialhilfe, 2009 nach einer Referendumsabstimmung in die Kantonsverwaltung transferiert wurde, befindet sich die 1895 gegründete Institution in einer Krise. Ihre Kernaufgaben beschränken sich nur noch auf Einbürgerungen und die Oberaufsicht über Waisenhaus, Bürgerspital, Christoph Merian Stiftung und die Basler Zünfte (siehe Box).
Viermal trifft sich der 40-köpfige Bürgergemeinderat im Jahr. Doch die Themen gehen dem Parlament aus. So standen auf der Traktandenliste der letzten Sitzung am 22. September lediglich zwei Sachen: «Mitteilungen» und «Auftrag zur Prüfung und Umsetzung des Öffentlichkeitsprinzips in der Verwaltung der Bürgergemeinde». Ein kurzfristig eingereichter Vorstoss, der die Unterstützung von Flüchtlingen verlangt und für dringlich erklärt wurde, machte die Sitzung immerhin noch für die Öffentlichkeit spannend.
Bürgerratspräsident Leonhard Buckhardt gehört dem Bürgerrat seit 2005 an . Er ist einer der letzten aktiven Basler Politiker aus einer Daig-Familie. Im Interview spricht er über den schwindenden Einfluss der Bürgergemeinde, die Zukunft dieser Institution und den Daig, der nicht mehr greifbar sei.
Herr Burckhardt, ist Ihr familiärerer Hintergrund mit ein Grund für Ihr Engagement als Bürgerrat?
Nein, das Amt reizte mich. Der familiäre Hintergrund spielte für mich keine Rolle. Zudem gehöre ich ja einer ganz anderen Partei an als mein Vater Martin, der einst – neben anderen Ämtern – auch Bürgergemeinderat und Mitglied der LDP war.
Weshalb haben Sie sich als «Burckhardt» gegen die LDP entschieden?
Ich bin quasi dem Teufel vom Karren gefallen (lacht): Das war ein Teil meiner jugendlichen Rebellion nach 1968. In dieser Nach-68er-Bewegung interessierte ich mich stark für Themen wie Umwelt, soziale Gerechtigkeit und neue Lebensformen. So kam es, dass ich Mitglied der SP wurde und einen anderen Weg einschlug als mein Vater, der zwar Mühe mit meiner politischen Orientierung hatte, sie aber akzeptierte.
Seit zehn Jahren sind Sie nun als Sozialdemokrat in der Exekutive der Bürgergemeinde, der einstigen Machtzentrale dieser Stadt. Die goldenen Zeiten dieser Institution gehören der Vergangenheit an. Die Bürgergemeinde hat in Basel an Bedeutung verloren.
Sie haben nicht ganz unrecht, wir stehen als Bürgergemeinde vor einer Herausforderung. Seit Auslagerung der Sozialhilfe 2009 an den Kanton sind wir unter anderem damit beschäftigt, vor uns selbst Rechenschaft abzulegen, wie wir weiterfahren wollen.
Die Bürgergemeinde befindet sich also in der Sinnkrise?
Das zu behaupten, wäre übertrieben. Zumal die einzelnen Institutionen der Bürgergemeinde wie das Bürgerspital oder das Waisenhaus ausgezeichnete Arbeit leisten und gut aufgestellt sind. Aber die Bürgergemeinde als ganzes Konstrukt beschäftigt sich seit dem Wegfall der Sozialhilfe mit Fragen wie «Wo wollen wir hin? Wie wollen wir wahrgenommen werden? Welche Funktionen haben wir?»
Und wie lautet die Antwort?
Wir sind noch nicht ganz fertig mit dem Findungsprozess. Die erste Strategievorlage erlitt im Parlament leider eine Bauchlandung. Nun versuchen Bürgergemeinderat und Bürgerrat einen zweiten Anlauf. Der Prozess dauert ein bisschen lang und ist schwerfällig, was schade ist, dennoch meine ich, dass wir gut unterwegs sind.
Wie soll sich die Bürgergemeinde denn entwickeln?
Ich kann Ihnen noch nicht viel dazu sagen. Aber klar ist, dass wir als Bürgergemeinde unbedingt daran arbeiten müssen, weniger kompliziert zu sein. Es braucht mehr Flexibilität. Gewisse Entscheidungsprozesse dauern einfach zu lange. Wir müssen zudem unsere Öffentlichkeitsarbeit stärken. Das Bewusstsein, was die Bürgergemeinde ist und macht, ist leider in der Basler Bevölkerung zu wenig verankert.
Das Problem ist doch auch, dass – obwohl sich der Bürgergemeinderat nur vier mal im Jahr trifft – keine Themen mehr zu besprechen sind. Das ist für die Wahrnehmung einer Institution auch nicht gerade hilfreich.
Es ist in der Tat so, dass der Bürgergemeinderat nicht mehr viele Traktanden hat. Dies hat vor allem mit New Public Management zu tun, das bei uns 2005 eingeführt wurde. Viele Aufgaben hat der Rat somit abgegeben. Heute definiert er im Wesentlichen die Leistungsaufträge der verschiedenen Institutionen und kontrolliert jährlich, ob die Aufträge eingehalten werden. Einzelne Geschäfte hat er nur noch sehr wenige. Der Bürgergemeinderat ist vielleicht das Gremium, das am stärksten wahrgenommen wird. Aber der Bürgerrat sitzt zweimal im Monat zusammen und bespricht vielfältige und spannende Fragen; es ist nicht so, dass uns der Gesprächsstoff ausgeht. Am Dienstag hatten wir zum Beispiel eine Sitzung über mehrere Stunden. Trotzdem reichte die Zeit nicht, um über alle Themen zu befinden.
Trotzdem: Der Bürgergemeinderat hat an Einfluss verloren.
Seit der Verwaltungsreform hat der Bürgergemeinderat tatsächlich an Wahrnehmbarkeit eingebüsst. Aber an Einfluss hat er nicht unbedingt verloren. Der Bürgergemeinderat hat es immer noch in der Hand, zu sagen, wo Schwerpunkte gesetzt werden sollten. Theoretisch könnte er durchaus Leistungsvereinbarungen definieren, die für Institutionen wie das Waisenhaus oder das Bürgerspital einschneidend wären, doch das wäre ja nicht sinnvoll, zumal die Institutionen sehr gut arbeiten. Aber es gilt doch auch im Grossen Rat: Von der strukturellen Gewichtung her bestimmt die Regierung, in welche Richtung der Laden läuft, nicht in den formalen Kompetenzen. Der Grosse Rat hechelt hinterher und korrigiert allenfalls gelegentlich.
Dennoch findet im Grossen Rat immerhin noch eine Diskussion statt.
Damit haben Sie Recht, und das Themenspektrum ist natürlich sehr breit. Letzteres ist im Bürgergemeinderat weniger gegeben.
Sprang denn gar nichts heraus?
Hoheitliche Aufgaben und weitere Arbeiten im Basler Wald werden heute von der Bürgergemeinde erledigt. Darüber wurde mit dem Kanton ein Vertrag abgeschlossen. Diskutiert wurde auch intensiv über ein Schwerstbehindertenheim. Aber das wäre für uns finanziell zu riskant gewesen. Ansonsten ist dieser Prozess ins Leere gelaufen. Wir haben deshalb beschlossen, die Strategie, Kantonsaufgaben zu übernehmen, nicht weiterzuverfolgen. Eine Arbeitsgruppe beschäftigt sich nun mit der Frage, wie wir in den Bereichen Integration und Soziales sonst noch wachsen können.
An der letzten Bürgergemeinderatssitzung wurde ein dringlicher CVP-Vorstoss überwiesen. Dieser verlangt, dass die Bürgergemeinde in Basel bei der Unterbringung, Betreuung und Integration von Flüchtlingen unterstützend tätig werden soll. Sehen Sie bei der Flüchtlingshilfe einen neuen möglichen Schwerpunkt für die Bürgergemeinde?
Es ist unbestritten, dass gegen das Leid der Flüchtlinge unbedingt etwas unternommen werden muss. Inwiefern die Bürgergemeinde helfen kann, werden wir prüfen müssen.
Sie klingen zurückhaltend.
Die Frage ist eher, ob wir die Mittel dazu haben. Man darf unsere Kapazitäten nicht überschätzen, selbst wenn es uns gut geht. Das Budget ist limitiert, auch weil wir keine Steuereinnahmen haben. Aber wir werden im Rahmen unserer bescheidenen Ressourcen versuchen, Hilfestellung zu leisten.
Eine wichtige Aufgabe für die Bürgergemeinde stellen die Einbürgerungen dar. Die SVP verlangt mit ihrer Einbürgerungsinitiative, dass künftig keine Einbürgerung mehr von Kriminellen und Sozialhilfeempfängern im Kanton Basel-Stadt möglich ist. Was halten Sie davon?
Kriminelle werden sowieso nicht von uns eingebürgert, da sie einen schlechten Leumund haben. Diese Forderung läuft also ins Leere. Wenn ein Straftäter seine Strafe hingegen abgesessen hat und ein paar Jahre vergangen sind, hat diese Person meines Erachtens durchaus wieder eine Chance verdient. Und was Sozialhilfebezüger betrifft: Wer Sozialhilfe bekommt und sich kooperativ verhält – also versucht Arbeit zu finden oder eine Ausbildung zu machen –, dem soll das kein Hindernis für die Einbürgerung sein. Ich finde es persönlich falsch, Mauern aufzuziehen. Ich wäre auch für eine Lockerung der Fristen. Dass man aktuell 12 Jahre in der Schweiz leben muss, um eingebürgert werden zu können, halte ich für zu lange. Diese Kompetenzen liegen aber nicht bei der Bürgergemeinde, sondern bei Bund und Kanton.
Die Linken haben an Einfluss in der Bürgergemeinde gewonnen. Das ist für die traditionelle Institution nicht unbedingt von Vorteil, zumal die manche Linke der Bürgergemeinde sehr skeptisch gegenüber stehen.
Die Bürgergemeinde war eine zeitlang sehr bürgerlich dominiert. Ich bin froh, dass SP und die Grünen stärker geworden sind und die Bürgergemeinde offener geworden ist, und damit auch Akzeptanz und Repräsentativität in der gesamten Bevölkerung gestiegen sind. So wurden dieses Jahr erstmals auch Jugendliche ohne Schweizer Pass an die Jungbürgerfeier eingeladen. Ich hoffe, dass sich diese Offenheit in weiteren Bereichen der Bürgergemeinde niederschlägt.
Ist die Bürgergemeinde mit ihren Zünften ein «alter Zopf», wie es eine Parteikollegin von Ihnen einmal sagte?
Altmodisch nicht unbedingt, nein. Aber teilweise traditionslastig. Die Bürgergemeinde leidet manchmal etwas darunter, dass gewisse Parteien oder Personen das Gefühl haben, die Institution müsse ein Gegengewicht zur rot-grün dominierten Basler Regierung sein. Dabei kann die Bürgergemeinde gar kein Gegengewicht zum Kanton sein, sondern höchstens ein Sparringpartner.
Die Bürgergemeinde mit ihren Institutionen zählt rund 1400 Mitarbeitende. Sie erbringt vorwiegend soziale und gemeinnützige Dienstleistungen für die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Basel. Einbürgerungen bilden eine zentrale Aufgabe der Bürgergemeinde. Die politischen Organe sind der Bürgergemeinderat (Legislative) und der Bürgerrat (Exekutive). Die 40 Mitglieder des Bürgergemeinderats werden für eine Amtsdauer von sechs Jahren gewählt. Der Bürgerrat hat zudem die Oberaufsicht über die Basler Zünfte und Gesellschaften. Ausserdem stellt die Bürgergemeinde die Oberaufsicht über die Christoph Merian Stiftung sicher.