«Die Menschheit hat 1001 Gründe, Sex zu haben»

Ein Gespräch mit der Sexologin Esther Elisabeth Schütz über den umstrittenen Aufklärungsunterricht in Basel und über das, was ein gesundes Sexualleben von Mann und Frau ausmacht.

Esther Elisabeth Schütz (Bild: Michael Würtenberg)

Ein Gespräch mit der Sexologin Esther Elisabeth Schütz über den umstrittenen Aufklärungsunterricht in Basel und über das, was ein gesundes Sexualleben von Mann und Frau ausmacht.

Die Aufregung um den Sexual­kundeunterricht in den Basler Schulen reisst nicht ab. Angefangen hatte sie mit Medienberichten über die sogenannten Sexboxen, die im Unterricht als Lehrmittel eingesetzt werden sollen. Besonders die Information, dass diese Boxen nebst Büchern auch Holzpenisse und Plüschvaginas enthalten, erregte die Gemüter. Selbst als von den Schulverantwortlichen klargestellt wurde, dass diese Geschlechtsteile ausschliesslich in der Oberstufe zum Einsatz kommen würden, riss die Kritik nicht ab.

Für ebenso grosse Empörung sorgte und sorgt weiterhin der in einem Leitfaden formulierte Beschluss, die Sexual­pädagogik auch in den Lehrplan für Kindergarten und Primarstufe aufzunehmen. Das sei viel zu früh und wenn, dann Sache der Eltern, liessen sich die Gegner vernehmen. Unlängst sind drei Elternpaare vor dem Basler Verwaltungsgericht abgeblitzt, die ihre Kinder vom Sexualkundeunterricht dispensieren lassen wollten. Gemäss einem Bericht des Regionaljournals von Radio DRS 1 sind die Eltern bereit, bis vor Bundesgericht zu gehen.

Wir wollten von der Sexologin Esther Elisabeth Schütz (63) wissen, wie sie diese Auseinandersetzung beurteilt. Schütz war eine der ersten Lehrpersonen in der Schweiz, die in den 1970er-Jahren Sexualkunde unterrichtete, sie schrieb umfassende Bücher zum Thema, unter anderem mit Theo Kimmich das Standardwerk zur Sexual­pädagogik «Sexualität und Liebe».

1998 gründete Schütz gemeinsam mit anderen Fachleuten das Institut für Sexual­pädagogik und Sexualtherapie ISP in Uster – eine Institution, die sich der Forschung und Lehre zur sexuellen Gesundheit verschrieben hat.

Esther Elisabeth Schütz empfing uns im Therapieraum des Instituts – einem stilvoll möblierten Raum mit Blick auf grüne Wiesen. Schütz selber ist eine Frau, bei deren Anblick einem sofort die Attribute «reif und attraktiv» in den Sinn kommen. Oder: So schön kann eine Frau altern.

Frau Schütz, wenn Eltern ihre Kinder aufklären, soll sich die Schule da noch engagieren?

Eltern und Lehrpersonen haben verschiedene Rollen. Eltern sind emotional sehr nah beim Kind und dadurch haben sie eine andere Aufgabe als die Schule – auch in der Förderung der sexuellen Gesundheit. Sie können zum Beispiel von ihrer eigenen Geschichte, als sie verliebt waren, erzählen. Lehrpersonen vermitteln Wissen, reden nicht über die eigene Sexualität und begleiten den Dialog zwischen Mädchen und Jungen.

Was halten Sie davon, dass es Eltern gibt, die nicht wollen, dass ihre Kinder mit dem Thema Sex konfrontiert werden?

Eltern möchten – in jeder Gesellschaft – alles gut machen für ihr Kind. Sie haben es gern und wollen, dass es ihm gut geht. In jeder Gesellschaft haben wir kulturelle Normen, und innerhalb dieser hat jede Familie ihre eigenen Werte. Das gibt dem Kind ein Dach, eine Sicherheit.

Egal welche Norm?

Grundsätzlich vermittelt jede Norm dem Kind eine Orientierung. Es gibt Eltern, die wollen ihre Kinder nicht mit Sexualität und all diesen Geschichten «belasten». Sie wollen ihren Kindern sozusagen eine glückliche, unbeschwerte Kindheit schenken; andere wiederum sagen, es sei wichtig, dass ihre Kinder über ihren Körper Bescheid wissen und sich dadurch schützen können. Das ist wie eine andere Nahrung. Für mich ist nicht per se das eine besser oder schlechter.

Das sagen Sie als eine, die Wissen über Sexualität vermittelt?

Ja, denn auch Eltern, die mit ihren Kindern nicht über Sexualität reden, vermitteln ihnen etwas über Sexualität und Liebe. Wir teilen alle ja viel mehr nonverbal mit als verbal. Über Zärtlichkeiten, wie Eltern dem Kind begegnen, wie Frau und Mann miteinander kommunizieren und so weiter. All dies prägt später den Zugang zu Sexualität und Liebe mehr, als was die Schule an Wissen vermitteln kann.

Das heisst, auch jene, die ihre ­Kinder nicht aufklären, geben ­ihnen deutliche Botschaften zur Sexualität mit?

Natürlich. Letzthin haben vorwitzige Jugendliche eine Liste gemacht mit folgenden Kriterien: Welcher Lehrer, welche Lehrerin in unserem Schulhaus hat guten Sex? Bei der Beant­wortung waren sie sich einig: Alle «vertröchneten Typen» fielen in der Ministudie durch. Die humorvollen, beweglichen, die oft gut drauf sind, erhielten Bestnoten. Interessant ist, dass ihre Bewertungen auf Beobachtungen beruhten, die mit Sex oder Gesprächen über Sex nichts zu tun hatten.

Was schliessen Sie als Sexologin daraus?

Das Beispiel zeigt, dass die Jugend­lichen eine gute Wahrnehmung haben. Sie haben intuitiv festgestellt, dass der Kieferbereich ein Spiegel ist zur Muskelspannung im Beckenbereich. Beim Geniessen der Sexualität ist es zentral, dass das Becken sich bewegt und die Muskelspannung im Beckenboden nicht zu hoch ist.

In den 1970er-Jahren gehörten Sie zu den Ersten, die Weiterbildung für Lehrpersonen in ­Sexualunterricht erteilten. Wurden diese freiwilligen Kurse von vielen belegt?

Ja, sehr viele Lehrpersonen zeigten ­Interesse, Kinder und Jugendlichen Wissen über Sexualität zu vermitteln.

Weshalb sorgt das Thema Sexualaufklärung heute noch für so viel Auf­regung? Sind wir wieder prüder geworden?

Ich sehe das eher als Gegenbewegung, die den Diskurs nochmals eröffnet. Dieser wird zeigen, dass in der heutigen Zeit der medialen Welten ein gros­ser Bedarf an entscheidungskompetenten Jugendlichen besteht. Eine Studie aus Deutschland zeigt zum Beispiel, dass Jugendliche, die Informa­tionen zu Sex an den Schulen erhalten, sich heute viel besser schützen als solche, denen dieses Wissen fehlt.

Wie wichtig ist Sex überhaupt?

Eine gut funktionierende Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau besteht aus zwei Säulen: aus der Liebe und der Sexualität. Ein Liebespaar, das keine Sexualität mehr pflegt, riskiert, dass die Beziehung auseinandergeht. Wenn man Liebe erhalten will, wird sie genährt von der Sexualität, und die Sexualität wird genährt von der Liebe. Es braucht beides.

Was heisst Sex? Geht auch Streicheln als Sex durch?

Wenn ich von Sexualität rede, von Erotik, hat es für mich immer einen Bezug zum Erregungsreflex. Zärtlichkeiten wie Streicheln und Küssen können den Erregungsreflex auslösen, ­sodass das Blut bei der Frau in die Schwellkörper der Klitoris und deren umliegende Schwellkörper fliesst und es beim Mann zu einer Erektion kommen kann.

Haben Männer mehr Lust auf Sex als Frauen?

Hormonell wird das sexuelle Begehren des Mannes täglich sowie in der Nacht etwa im Vier-Stunden-Rhythmus angeregt. Er nimmt es allerdings nicht bewusst wahr. Frauen werden körperlich kurz vor dem Eisprung hormonell angeregt. Also einmal im Monat.

Das ist bedeutend weniger.

Ja, es besteht zwischen den Geschlechtern auf der hormonellen Ebene ein deutlicher Unterschied. Allerdings sind die Lernschritte, die Frauen und Männer für eine erfüllte Sexualität machen können, von zentraler Bedeutung.

Dann stimmt das, was man immer wieder hört: Sex ist für den Mann viel wichtiger als für die Frau?

Sagen wir es so: Die Identität des Mannes ist gekoppelt an seine Potenz. Ein Bub sagt, ich bin ein Bub, weil er ein männliches Geschlecht hat, das er sieht und berühren kann. Der Penis wird steif, und das ist die Formel für Potenz. Ein Mann der Erektions­probleme hat, hat immer ein Identitätsproblem. Er fühlt sich nicht mehr als Mann. Das sagen alle, die wegen Erektionsstörungen zu mir in die ­Beratung kommen.

Ist es denn nicht so, dass die Frau auch Lust haben muss, um erfüllten Sex zu haben?

Aus sexologischer Sicht sind Frauen im Archetyp Gebärende. Um uns fortpflanzen zu können, müssen Frauen nicht zwingend sexuell erregt sein. Bei Frauen, die ein Kind haben wollen und keines bekommen, wird deutlich, wie sehr ihre Identität an die Gebärfähigkeit gekoppelt ist. Selbstverständlich ist es besser, wenn Frauen die Fähigkeit der sexuellen Lust haben.

Wie können sich die beiden so ­unterschiedlichen Geschlechter einander annähern?

Frauen sehen ihr Geschlecht nicht, aus­ser wenn sie einen Spiegel nehmen. Sie sind deshalb gefordert, hineinzuhorchen. Das heisst, über Gefühle einen Zugang zu den Empfindungen zu schaffen. Diese Kompetenz des Einfühlens wird auf die Sexualität übertragen. Deshalb spielen für Frauen ­Gefühle wie die Romantik und die Erotik eine grosse Rolle. Im Gegensatz dazu sehen Männer ihr Geschlecht täglich, was ihnen einen direkten Zugang ermöglicht. Dies ist auch in der sexuellen Erregung so. Für Männer ist deshalb das Visuelle eine wichtige Kompetenz, die sie auch nutzen im ­sexuellen Begehren.

Was heisst das konkret?

Das bedeutet, Frauen haben die Auf­gabe, sich mehr mit ihrem weiblichen Geschlecht auseinanderzusetzen, und Männer sind gefordert, sich mehr mit den Gefühlen zu beschäftigen.

Früher hielten die Frauen einfach hin, wenn der Mann wollte, auch wenn sie selber keine Lust hatten.

Sie sagen dem herhalten, ich bewerte das nicht so. Und die Frauen selbst machten das vielleicht auch nicht. Sie haben vielleicht einfach gemerkt, dass Sex für ihre Männer wichtig ist und haben das aus Liebe gemacht. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass es Urgrossmütter gab, die das aus Liebe zu ihrem Mann gemacht haben.

Dann hat uns Frauen der im Feminismus proklamierte «Orgasmuszwang» keinen Gefallen getan?

Sagen wir so: Das half den Frauen, sich in ihrer Sexualität weiter zu entwickeln.

Aber heute wird Frauen die Wertung vermittelt: Ich mache nur Sex, wenn ich Lust habe. Alles andere empfindet die Frau als Benutztwerden.

Die Menschheit hat auch heute noch 1001 Gründe, um Sex zu haben. Um Kinder zu kriegen, weil die Stimmung schön ist, um etwas zu erhalten? Ich will damit nicht sagen, Ziel sei, dass Frauen wieder herhalten sollten, sondern sich gestatten, dass es eine Vielfalt von Gründen gibt, Sex zu haben. Als Sexologin wünsche ich mir, dass Frauen, aus welchem Grund auch immer, aktiv in die Sexualität einsteigen, die Fähigkeit haben, ihre sexuelle Lust zu geniessen. Und das ist lernbar.

Wie?

Gehen wir zurück zu der Sexualpädagogik, das war ja der Anlass zu diesem Interview. Zuerst zu den Mädchen. Sie wissen eher wenig über ihr eigenes Geschlecht, und nicht wenige Mädchen haben ihr erstes Mal Sex ohne Kenntnis von ihrem eigenen weiblichen Körper. Deshalb ist wichtig, dass sie über Lernschritte einen achtsamen Bezug zu ihrem Geschlecht erhalten. Im Sinne von: Was ich schätzen kann, das kann ich auch schützen. Wie ich vorhin erklärt habe, ist der visuelle Reiz für männliche Jugendliche und Männer sehr bedeutend. Heute wachsen Jugendliche mit den vielen Möglichkeiten im Internet auf und haben nebst spannenden Informationen auch leichten Zugang zu expliziten Darstellungen von sexuellen Handlungen.

Finden Sie das nicht schlimm?

Ich mache gerne den Vergleich mit der Vielfalt der Angebote in Supermärkten. Als ich Kind war, hatten wir zwei Äpfel, einen zum Kochen und einen zum Essen. Als grosse neue Errungenschaft kam die Kokosnuss; mein Grossvater wusste zunächst nicht, wie man sie aufmacht. Heute ist das Angebot an Früchten derart gross, dass wir oft vieles gar nicht kennen. Immer wieder kommen neue Sachen aus fernen Ländern dazu. Ähnlich wie bei den Früchten ist es auch völlig normal in unserer Zeit, dass es im Internet auch zu Sex immer mehr Angebote gibt. Deshalb rede ich von der Vielfalt an Möglichkeiten, ohne Bewertung. Allerdings braucht es im Dschungel der Sex-Angebote dringend entscheidungskompetente Jugendliche und Männer. Vor allem auch, weil ihnen auf diesem Gebiet kein Label zur Verfügung steht im Sinne von Fairtrade.

Sind die Pornokonsumenten eher männlich?

Ja, Buben, männliche Jugendliche und Männer. Sie sehen Bilder, und das fasziniert und erregt sie. Sie wachsen mit diesen Möglichkeiten auf. Das heisst, ihre Selbstbefriedigung wird von Anfang an an diese Bilder gekoppelt. In der Sexologie stellen wir uns heute die Frage, welche Wirkung das auf ihr späteres Sexualleben hat.

Und, gibt es schon Erkenntnisse?

Generell gilt: Bilder in hohen emotionlen Zuständen wie Freude und Trauer werden nachhaltiger gespeichert. Wir wissen, das dies auch in der hohen sexuellen Erregung geschieht. Wenn nun männliche Jugendliche oder Männer in der Selbstbefriedigung immer vor dem Netz sitzen, koppeln sie die Bilder an ihre Fähigkeit, die Erregung zu steigern. Da dies heute in der Regel vor Filmen passiert, wird ihre eigene sexuelle Fantasie nicht mehr oder viel weniger aktiviert. Bei häufigem Pornokonsum im Internet besteht die Gefahr, dass Männer später in einer Liebesbeziehung ohne diese programmierten Reizquellen viel ­weniger sexuell erregt werden und ­allenfalls der Sex mit der Partnerin langweilig wird.

Haben bereits junge Männer ­sexuelle Probleme deswegen?

Es gibt heute junge Männer, die bereits früh entdecken, dass sie eine Art Sucht entwickelt haben. Aber es freut mich, dass inzwischen junge Männer auch den Mut haben, in die Sexual­therapie zu kommen.

Was sagen Sie ihnen?

Sie lernen über die Wahrnehmung ­ihrer Sinnesempfindungen im Geschlecht viel Neues über ihre Männlichkeit kennen und sie neu zu definieren. Langsam nutzen sie wieder vermehrt ihre eigenen Fantasien nebst den ­visuellen Reizen. Und sie werden ihre sexuelle Selbstsicherheit stärken. Das wird den Männern auch Neues ermöglichen im Austausch mit ihren Part­nerinnen. Werden kleine Lernschritte und Informationen bereits in der ­Sexualpädagogik vermittelt, unterstützt das Jungen und Mädchen als zukünftige Männer und Frauen, ihre Liebesbeziehungen erfüllt zu gestalten. Ich gehe davon aus, dass es der Wunsch aller Eltern ist, dass ihre ­Söhne und Töchter dereinst in einer glücklichen Beziehung leben.

Esther Elisabeth Schütz (63) ist eine echte «Sexpertin»: Sie ist klinische Sexologin ISI, Sexualtherapeutin und ­Sexualpädagogin und leitet das 1998 von ihr mitgegrün­dete Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie ISP in Uster. Das ISP ist ein parteipolitisch und konfessionell neutraler Verein und gemäss eigener Beschreibung ­«humanistischen und demokratischen Wertvorstellungen verpflichtet». Schütz publizierte mehrere Bücher zum Thema Sexualpädagogik und Sexualität.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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