Arbeiten ist kreativ, arbeiten macht Spass. Darum braucht es keine klare Abgrenzung mehr zur Freizeit. So reden moderne Wirtschaftsführer. Die Realität ist etwas profaner.
Soll die Arbeitszeit möglichst genau erfasst werden? Eine schwierige Frage, auch für die betroffenen Arbeitnehmer. Eine Frage auch, bei der es immer wieder überraschende Wendungen gibt. Bestes Beispiel dafür: die Laboranten bei Novartis. Als die Unternehmensleitung bei ihnen in den 1980er-Jahren die Stempeluhr einführen wollte, war die Empörung gross. Genau gleich wie die Fabrikarbeiter kontrolliert zu werden – davon wollten die stolzen Laboranten damals noch nichts wissen. Die Leitung setzte sich aber durch.
Zwanzig Jahre danach hatten sie es sich wieder anders überlegt. Nun wollte Forschungschef Mark Fishman die Zeiterfassung im Labor wieder abschaffen – und wieder war der Protest gross. Die Laboranten hatten in der Zwischenzeit offenbar gemerkt, wie viele Überstunden sie leisten. Diesmal waren sie mit ihrem Widerstand sogar erfolgreich.
Vorerst zumindest. Der Konflikt wird weiterbestehen, weil der Konzern ohnehin daran ist, die beiden Sphären von Arbeit und Freizeit zusammenzuführen. Ein Sinnbild für diese Unternehmensphilosophie ist der «Campus des Wissens», wie der Basler Soziologe Peter Streckeisen in einer seiner Arbeiten über den Wandel der Industriearbeit aufzeigt. Darin zitiert er neben vielen Mitarbeitern von Novartis unter anderem auch den früheren COO Jörg Reinhardt. «Work is life», sagte dieser. Darum werde den Mitarbeitern eine Umgebung geboten, in der sie sich wohlfühlten und gerne ihre Zeit verbrächten. Das sei gut für sie und damit auch gut für die «Performance» des Unternehmens.
Diese Stadt in der Stadt ist eine Revolution
Damit das gute Gefühl im Campus auf dem ehemaligen Industriegebiet St. Johann auch tatsächlich aufkommt, leistet sich Novartis nicht nur die besten Architekten für die Neubauten, sondern auch ein aufwendiges Multi-Space-Raumkonzept mit Restaurants, Cafés, Parks, Einkaufsläden und Kunstinstallationen.
Diese kleine Stadt in der Stadt ist eigentlich ein ziemlich modernes Konzept – ein Denkmal für die heutige Leistungsgesellschaft und gleichzeitig auch eine Revolution im eigentlichen Sinne des Wortes. Ein Rückgriff auf ein altbewährtes Konzept, in dem es noch keine Trennung zwischen Arbeit und Freizeit gab. Als Jäger und Sammler ging der Mensch nur dann rund um seine Höhle jagen und sammeln, wenn er gerade Hunger hatte. Und auch später, als Bauer, arbeitete er noch daheim auf seinem eigenen Hof und jeweils so lange, wie ihn die Arbeit eben in Anspruch nahm. Grundlegend änderte sich das alles erst im 19. Jahrhundert, als in den neuen Fabriken nicht nur Massen produziert wurden, sondern auch Massen arbeiteten.
Es waren Menschen, die sich nicht endlos ausnutzen lassen wollten. Nebem dem Lohn verlangten sie auch gewisse Rechte. Der soziale Sprengstoff war beträchtlich. Im Vergleich zu den anderen Ländern reagierte die Schweiz früh. Nach einer Reihe von kantonalen Erlassen trat 1877 das erste eidgenössische Fabrikgesetz in Kraft, das die tägliche Arbeitzeit für Erwachsene auf elf Stunden und an Samstagen auf zehn Stunden beschränkte. Für Jugendliche ab 14 Jahren wurden zudem spezielle Regelungen eingeführt; Kinder durften ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in den Fabriken arbeiten.
Damit waren die Unternehmer nicht mehr uneingeschränkt Herr im Haus, was nicht allen passte. Dafür fiel es den Bossen dank der Erfassung der Arbeitszeit und den entsprechenden Kontrollen leichter, die Betriebsabläufe zu rationalisieren und die Effizienz zu steigern. So arrangierten sich in der Schweiz schliesslich alle mit den neuen Verhältnissen, die während Jahrzehnten ziemlich stabil blieben. Auch in der Privatwirtschaft gab es fast so etwas wie eine Beamtenmentalität. «Einmal Ciba, immer Ciba», sagten die stolzen Laboranten damals.
Unsicherheit gehört heute immer auch dazu
Erst nachdem sich der Kapitalismus Ende der 1980er-Jahre endgültig durchgesetzt hatte, nahm die Dynamik in der Arbeitswelt beträchtlich zu. Heute soll sich der Mensch auch bei der Arbeit entfalten, möglichst autonom und möglichst kreativ – selbst in der Fabrik, wo ebenfalls von «prozessorientierter Organisation» und «flachen Hierarchien» die Rede ist. Bei Novartis zum Beispiel wurde die Funktion des Vorarbeiters abgeschafft und durch einen nicht weisungsbefugten «Koordinator» ersetzt.
Das tönt zwar alles verheissungsvoll, das Problem ist aber, dass die eigentliche Arbeit nur wegen all der schönen Umschreibungen nicht unbedingt interessanter wird. Bei den Laboranten scheint sogar eher das Gegenteil der Fall zu sein. In Gesprächen mit dem Basler Soziologen Peter Streckeisen beklagten sich diese jedenfalls über die «zunehmende Vorschriftendichte und Bürokratisierung in der Pharmaentwicklung». Die Forschung werde immer mehr zum «Fabrikbetrieb», indem es in erster Linie um «Massenarbeit und Massenproduktion» gehe. Was ein Unternehmen wie Novartis in einem Billiglohnland sehr viel günstiger erreichen könnte.
Darum gehört zur schönen neuen Arbeitswelt mit ihren grossartigen Raumkonzepten immer auch die Unsicherheit und die Angst vor einem Jobverlust. Mit ein Grund vielleicht, warum sich die Laboranten an die Sicherheiten halten, die sie noch haben. Und eine von ihnen ist die Stechuhr.
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Peter Streckeisen: Unsichtbar in der Campus-Welt. Kontrapunktische Lektüre eines Vorzeigeprojekts der Wissensgesellschaft, in: Claudine Burton-Jeangros und Christoph Maeder (Hrsg.): Identität und Wandel der Lebensformen. Zürich, Seismo 2011, S. 137–152
Quellen
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12