Das Mass der Arbeit

Das Prinzip «Zeit gegen Geld» ist veraltet. Noch fehlt aber ein besseres Modell zur Messung der Arbeitsleistung.

In der Frühzeit der Industrialisierung schützte das Messen der Arbeitszeit die Arbeiter vor Ausbeutung. Im Bild: Angestellte eines Industriebetriebs passieren die Stechuhr (1902). Foto: Firma Bürk

Das Prinzip «Zeit gegen Geld» ist veraltet. Noch fehlt aber ein besseres Modell zur Messung der Arbeitsleistung.

Das Dach muss auf die Hütte: Für morgen ist schlechtes Wetter angesagt. Aber Balz Stückelberger steht irgendwann am frühen Abend auf dem Robinsonspielplatz und beantwortet telefonisch die Anfrage eines Journalisten. «Das Geschäft» hat ihn bei der Freizeitarbeit eingeholt.

Noch vor 15 Jahren wäre es nicht dazu gekommen, denn damals gab es keine Mobiltelefone. Stückelberger hätte entweder in seiner Freizeit völlig unbehelligt am Dach der Robi-Hütte arbeiten können. Oder er hätte am Arbeitsplatz frei genommen und den Job tagsüber erledigt. So oder so aber wäre seine Arbeitszeit als Geschäftsführer des Arbeitgeberverbands der Schweizer Banken klar auszuweisen gewesen – anhand seiner Präsenzzeit im Büro.

Heute kann Stückelberger überall und fast jederzeit arbeiten. Allerdings müsste er als Angestellter die Zeit theoretisch fein säuberlich notieren: So will es das Schweizer Arbeitsgesetz. Es verpflichtet die Betriebe, jederzeit über die mit Arbeit verbrachte Zeit ihrer Arbeitnehmer Auskunft erteilen zu können – den Behörden, wenn sie stichprobenweise vorbeischauen, wie auch dem Gericht im Streitfall.

Dass viele Firmen dies schlicht nicht mehr erfüllen, ist allen Beteiligten wohlbekannt. Schätzungen gehen laut NZZ davon aus, dass für 30 Prozent der Schweizer Angestellten keine wie auch immer geartete Zeiterfassung existiert. Das liegt weniger am fehlenden Willen oder gar Wissen um die Schutzregelung als ganz einfach an radikalen Veränderungen der Arbeit in vielen Branchen namentlich des wachsenden Dienstleistungssektors. Neue Technologien und Methoden haben Arbeitszeit- und Familienmodelle ermöglicht, auf die das Arbeitsgesetz nicht ausgerichtet ist.
Denn die zugrunde liegende Basis hiess «Zeit gegen Lohn», und sie sollte für alle gelten.

Eine rudimentäre Differenzierung nach Sektoren oder Branchen ist zwar vorhanden. Aber sie widerspricht mit den Obergrenzen von 45 Wochenstunden für Büro- und Industrieangestellte und das Verkaufspersonal der Grossverteiler gegenüber 50 Wochenstunden für das Gewerbe, zu dem körperlich anstrengende Berufe im Bausektor gehören, dem gesunden Menschenverstand. Es handle sich um einen «guteidgenössischen Kompromiss» aus der politischen Situation der Entstehungsgeschichte des Gesetzes, sagt Arbeitsrechtsprofessor Thomas Geiser von der Universität St. Gallen. «Man wollte damals ganz einfach dem Gewerbe keine 45 Stunden zumuten.»

Dabei hatte der Gesetzgeber den Schutz der Arbeitnehmer im Auge. Mit «Zeit» war Präsenzzeit am Arbeitsort gemeint. Dass die Patrons aus­serdem in eine Fürsorgepflicht eingebunden waren und ein erträgliches Arbeitsklima zu garantieren hatten, war ihnen angesichts der Einheit von Zeit und Ort noch problemlos zumutbar.

Arbeits- und Privatleben vermischen sich

Heute ist vieles anders. Nicht nur der Ort, auch die Art der Arbeit hat sich durch Technologie in vielen Branchen verändert. Arbeit und Privatleben gehen immer mehr ineinander über; Angestellte erledigen im Büro nebenbei private Onlinegeschäfte, oder sie sitzen zu Hause am PC und arbeiten für den Betrieb. Die Belastung des Arbeitnehmers, vor welcher er geschützt werden muss, besteht längst nicht mehr in erster Linie in der schieren Stundenzahl, sondern in den komplexeren Anforderungen – von ständiger Erreichbarkeit bis zu nicht einhaltbaren Fristen für spezifische Zielsetzungen. Von Gesetzes wegen gemessen werden müsste aber die «Zeit».

Ein Ansatz zur Lösung des Problems heisst «Vertrauensarbeitszeit». Einigen sich Sozialpartner auf dieses Modell, dann kann der Arbeitgeber von seiner Aufzeichnungspflicht befreit werden – ohne dass dadurch die Arbeitszeitbeschränkung und die staatliche Limite für 170 Stunden Überzeit im Jahr aufgehoben sind. Ein kleines Paradoxon in sich, denn Überzeit lässt sich ja erst messen, wenn zuvor die Arbeitszeit gemessen wurde. Die vermeintlich «lange Leine», fürchten Arbeitnehmervertreter, führt einerseits zum Ausfransen der eigentlichen Arbeitszeit und zur Beweisumkehr im Streitfall.

Balz Stückelberger sitzt in der Arbeitsgruppe des Staatssekretariats für Wirtschaft und Arbeit Seco, welche mit einem Pilotprojekt Lösungen für den Bankensektor eruieren sollte. «Das Arbeitsgesetz ist sehr industrielastig. Wir haben in vielen Bereichen deswegen eine gute Work-Life-Balance, weil das Gesetz, das die Arbeitnehmer schützen sollte, nicht eingehalten wird.» Eigentlich, merkt Stückelberger an, geht es um mehr als um Erfassung der Arbeitszeit – es geht um die Definition der Arbeit selber.

Die Gefahren für «Wissensarbeiter»

Darauf will sich aber niemand hinauslassen. Stückelbergers Gegenüber, Hans Furer, Anwalt und Präsident des Bankpersonalverbandes Nordwestschweiz, sieht wenig Grund für eine Lockerung der Zeiterfassungspflicht. Ein Arbeitsvertrag regle nach Obligationenrecht ganz einfach das Verhältnis der zur Verfügung zu stellenden Zeit gegen einen Lohn. «Völlig unabhängig vom Vertrag ist die Freude oder Befriedigung an dem, was Sie tun», sagt Furer.

Hierin allerdings liegt vielleicht die Kernfrage – nämlich, ob dem Schutz des Arbeitnehmers mit dem Schwerpunkt Arbeitszeit noch Genüge getan wird. So mancher ist inzwischen bereit, für spannendere Aufgaben, mehr Spielraum und mehr Freiheit allenfalls höhere Arbeitszeiten in Kauf zu nehmen. Der Schutzgedanke aus dem Fabrikgesetz, das vor körperlichen Schäden in schlecht gelüfteten Fabrikhallen bei 16-stündiger Fliessbandarbeit bewahren sollte, setzt unter modernen Arbeitsbedingungen auf einen zu einfachen gemeinsamen Nenner.

Moderne «Wissensarbeiter» sind weniger dem Risiko von giftigen Dämpfen, fallenden Ziegelsteinen oder auch ganz einfach dem körperlichen Zusammenbruch aufgrund physischer Überlastung ausgesetzt. Eine grosse Gefahr, die sie im Zusammenhang mit der Belastung durch die Arbeit bedroht, heisst «Burn-out» – und das habe mit langen Arbeitszeiten wenig bis gar nichts zu tun, sagt Nico Rubeli. Der Theologe berät im Auftrag von Firmenkunden in Basel Burn-out-Opfer. «Das Problem ist noch nicht einmal einfach Stress. Gelegentliche positive Stressmomente sind notwendig – unsere Vorfahren erlebten sie einmal oder zweimal täglich auf der Jagd.» Dieser sogenannte Eustress ist ein ­Motivator und sorgt nach der Bewältigung, medizinisch betrachtet, für die Ausschüttung von Endorphinen – Glückshormonen.

Das Arbeitsgesetzt schützt nicht vor Burn-out

Gefährlich, hemmend und schliesslich zum Zusammenbruch führend ist hingegen chronischer negativer Stress. Und dessen Ursachen liegen in anderen Faktoren als der Arbeitszeit oder überhöhten Forderungen des Arbeitgebers. «Wenn Sie alle paar Minuten eine E-Mail oder Anrufe von Leuten aus ihrem Arbeitsumfeld erhalten, die Sie hassen oder fürchten», sagt Rubeli, «ist das ausgesprochen schädlicher Stress.»

Dass die neue Arbeitsrealität mit ständiger Erreichbarkeit und hohem Erwartungsdruck diesen Faktoren Vorschub leistet, ist kaum zu bezweifeln. Das geltende Arbeitsrecht aber bietet wenige Instrumente gegen solche Auswüchse: Schlechte Stimmung, intransparente Abläufe und intrigante Kollegen lassen sich nicht verbieten, und der Arbeitgeber kann die Rolle des Patrons, der für ein erträgliches Klima sorgen muss, angesichts der in alle Winde verstreuten Arbeitnehmer und unkalkulierbaren Arbeitszeiten niemals so wahrnehmen wie der einstige Fabrikbesitzer.

Rubeli entlastet die Zeit mit zwei weiteren Argumenten vom Nimbus, Ursache von Stress zu sein: Für das Wohlbefinden von Arbeitnehmern sei die Sinneserfahrung von grösster Bedeutung. «Wer sich mit den Zielen seines Arbeitgebers und vor allem den erarbeiteten Produkten identifizieren kann, läuft weit weniger Gefahr, ein Burn-out zu erleiden, als, sagen wir, ein Pazifist, der bei einem Waffenhersteller arbeitet.» Aus dem gleichen Grundsatz leitet er auch den Umstand ab, dass Selbstständigerwerbende, obwohl von den Arbeitszeitbeschränkungen ausgenommen und vielfach überhöhte Arbeitsbelastungen auf sich nehmend, trotzdem viel weniger Burn-outs er­leiden als fremdbestimmte Angestellte.

Die einfachste Schlussfolgerung daraus wäre, dass man zumindest in jenen Berufsfeldern und Umgebungen, in denen sich die Einheit von Ort und Zeit in der Arbeit durch die neuen Technologien am stärksten auflöst, eine Lockerung der gesetzlichen Zeitobergrenze und der Erfassungspflicht im Tausch gegen andere, neue generelle Kontrollfaktoren und Regulierungen einführt.

In einigen Details trägt sogar das geltende Arbeitsgesetz mit seinen vielen Ausnahmen diesem Umstand Rechnung. So sind etwa Kadermitarbeiter von der Erfassungspflicht ausgenommen. In Arbeitnehmerkreisen wird behauptet, dass deswegen in ganzen Branchen eine Inflation von Kaderpositionen stattgefunden habe – was die Rechtspraxis mit Bundes­gerichts­entscheiden korrigiert hat, wonach für die Ausnahme nur Positionen im direkten Umfeld eines CEO qualifizieren.

Bei guten Jobs spielt Arbeitszeit keine Rolle

Und obwohl Streitfälle um Arbeitszeiten die Mehrheit der Arbeitsprozesse ausmachen – weil sie am eindeutigsten geregelt ist –, gibt es Branchen, in denen sichtbar wird, dass die Arbeitszeit längst nicht mehr der schützenwerteste Teil eines Arbeitsvertrages ist. In ganzen Berufsgattungen nehmen Menschen zugunsten von Flexibilität, Verantwortung und anderen Vorteilen längere Arbeitszeiten und sogar vergleichsweise tiefere Löhne in Kauf – etwa in der Medienbranche, wie Stephanie Vonarburg, Zentral­sekretärin der Gewerkschaft Syndicom, bestätigt. Umso mehr bedauert sie den Verlust des Gesamt­arbeitsvertrags zwischen Verlegern und Journalisten, der anderweitige Ausgleichsleistungen wie zusätzliche Ferienwochen garantiert habe.

Die neue Gewichtung der Qualitäten eines Jobs wird aber zunehmend generell erkennbar. Im ­Human-Resources-Barometer 2010 der ETH Zürich zeigte sich, dass Arbeitszeitmodelle besser ab­schnitten, je mehr Flexibilität sie bieten; und in jenen bessergestellten und -bezahlten Jobs, die über Headhunters besetzt werden, nehmen Bewerberinnen und Bewerber den ­Begriff «Arbeitszeit» schon gar nicht mehr in den Mund. Sie versichern vielmehr explizit, zu langen Arbeitszeiten und Wochenendarbeit bereit zu sein, wie ein ­Vermittler für Spezialisten zu Pro­tokoll gibt. Im Gegenzug allerdings fordern sie ausnahmslos ein transparentes, intrigenfreies Umfeld und Gestaltungsmöglichkeiten für die optimale «Work-Life-Balance».

Work-Life-Balance statt klarer Arbeitszeitabgrenzung – Geschwätz einer Schicht privilegierter Angestellter? Nicht, wenn man der Initiative «Better Life» der OECD Glauben schenkt. Demnach liegt die Schweiz mit der durchschnittlichen Arbeitszeit europaweit im Spitzenfeld. Zugleich liegt sie aber auch bei der Bemessung eben dieser «Work-Life-­Balance» auf dem guten sechsten Rang: Die Menschen hierzulande scheinen im Vergleich mit den umlie­genden Ländern trotz grösserem Arbeitseinsatz zufriedener zu sein.

Das impliziert, dass «Arbeit» heute mehr ist als eine bestimmte Stundenzahl, die jemand gegen einen ausgehandelten Lohn zur Verfügung steht. Um aber diesen einfachen Massstab umfassend und nicht nur branchenabhängig an die Realität der Wissensberufe anzupassen, müsste das Arbeitsrecht angepasst werden – und das ist ein politisch hochexplosives Unterfangen. Auch oder gerade in einem Land, das einen Vorstoss der Gewerkschaften für generelle Arbeitszeitkürzungen (auf 36 Stunden) 2002 mit einer Dreiviertelmehrheit haushoch verworfen hat. Umgekehrt werden sich die Gewerkschaften gegen jeden Versuch, an den geltenden Bestimmungen zu rütteln, mit aller Macht wehren.

Gesetz mit absurden Ausnahmeregeln

Entsprechend vorsichtig gehen die Mitglieder der Banken-Vertrauensarbeitszeitskommission mit dem Thema um. Die Ergebnisse des Pilotprojekts stehen noch unter Verschluss. Besonders überzeugende Lösungen scheinen denn auch nicht herausgekommen zu sein. Einer der weitestgehenden Vorschläge, ist der NZZ zu entnehmen, liegt in der Festlegung einer Salärobergrenze für die Zeit-Erfassungspflicht bei 200 000 Franken. Hans Furer hat dafür nichts übrig: «Das ist nicht mehr als ein untauglicher Kompromissversuch des Seco.»

Mehr Kredit gibt dem Ansinnen der Arbeitsrechtsprofessor Thomas Geiser – wenn auch nicht mit dem genannten Betrag: «Man muss in diesen Fragen keine weiteren Zahlen ins Spiel bringen. Man könnte die Obergrenze der Unfallversicherung von 126 000 Franken anwenden.»

Geiser sieht im Arbeitsrecht durchaus einige revisionsbedürftige Details. Die Ausnahmeregelungen hält er für teilweise nichts weniger als «absurd». «Wussten Sie, dass Lehrer an öffentlichen Schulen von der Arbeitszeiterfassungspflicht ausgenommen sind, an privaten nicht?» Oder dass für Mitarbeiter der elektronischen Medien für Sportanlässe die Wochenendarbeit explizit erlaubt ist, «ebenso für Mitarbeiter von Sicherheitsdiensten, weil Fussballspiele ja eine so gefährliche Sache sind – man aber ausgerechnet die Spieler selber, de facto Angestellte, vom Sonntagsarbeitsverbot auszunehmen vergessen hat»?

«Die Schutzbestimmungen im Arbeitsgesetz sind dennoch im Grundsatz sinnvoll, von den Maximal­arbeitszeiten über Pausenvorschriften bis zu Sonntagsarbeitsverbot. Wie flexibel sie ausgelegt werden, ist eine andere Frage.»
Wegen Einzelanliegen wie der Zeiterfassung will Geiser nicht das Kind mit dem Bade ausschütten. «Natürlich wären Regelungen und Kontrollen in vielen anderen Punkten sinnvoll. Das ist aber komplizierter; es setzt voraus, dass die Kontrolleure weitgehende Einsichtsrechte kriegen und eine höhere Sachkompetenz haben, wodurch die Kontrolle teuer wird.» In vielen Branchen bestünden Detailregelungen durch Gesamtarbeitsverträge.

«Wenn Sie beispielsweise Menschen mit hohem Einkommen aus dem Arbeitsschutz ausnehmen – bis auf die Ebene des Obligationenrechts –, dann haben Sie mit einer massiven Verschärfung des Arbeit­nehmerschutzes in den folgenden Jahren zu rechnen.» Denn das liberale Schweizer Arbeitsrecht sei dem Umstand zu verdanken, dass es buchstäblich für alle gelte. Kündigungsschutz und Lohnfortzahlungen im Krankheitsfall sind von der Putzfrau bis zum ­Ge­neraldirektor anwendbar. Das, sagt Geiser, sei ein Unikum, und es sorge dafür, dass keine Seite das ­Gesetz politisch angreift – «denn jede Verschlechterung oder Verbesserung gälte immer auch für die ‹Gegenseite›».

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12

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