Noch setzt Europa ganz auf das Sparen als Rezept gegen die Finanzkrise. Doch jetzt kippt die Stimmung. Selbst die Vertreter der Kapitalmärkte haben gemerkt, dass Europas Probleme nicht dort liegen, wo sie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel vermutet. Statt zu wenig werde zu viel gespart, mahnen Kritiker.
Egal was geschieht, es bestärkt Europa in seinem Sparwillen. Mitte Januar stufte die US-Ratingagentur Standard & Poor’s (S&P) die Kreditwürdigkeit von Frankreich, Italien, Spanien, Portugal und Österreich herab. Dieser Entscheid, liess die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel postwendend verlauten, zeige, dass Europa noch einen langen Weg bis zur Wiederherstellung des Vertrauens vor sich habe. Doch endlich würden die richtigen Massnahmen beherzt vorangetrieben.
Die Mahnung der Sparkanzlerin wurde erhört. In Madrid bekräftigte Premier Mariano Rajoy unverzüglich seine Entschlossenheit, «die Arbeitsmarktreformen entschieden umzusetzen» und «auf allen Ebenen den Gürtel enger zu schnallen». Österreichs Finanzministerin Maria Feketer warnte, dass «Wien die Haushaltskonsolidierung doch wesentlich ernster nehmen» müsse. Und selbst das ferne Japan reagierte: Angesichts der Senkung der Bonitätsnoten in Europa müsse das Land seine Schulden in den Griff bekommen, wolle es nicht das nächste Opfer der Ratingagenturen werden, sagte Ministerpräsident Yoshihiko Noda.
Vorauseilender Gehorsam
Auch die Medien übten sich in vorauseilendem Gehorsam. Es räche sich nun, dass Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy die Tugend der Haushaltsdisziplin zu spät entdeckt habe, kritisierte die «Frankfurter Allgemeine Zeitung». Und die «Financial Times Deutschland» mahnte zur Eile: «Eine echte Stabilitätsunion ist noch weit weg. Die Euro-Zone hat keine Minute zu verlieren.»
Dumm nur, dass niemand die Begründung für den Rating-Entscheid gelesen hatte. In dieser stand nämlich, dass S&P die Kreditwürdigkeit der erwähnten Euro-Staaten nicht trotz, sondern wegen der rigiden Sparmassnahmen herabgestuft hat. Das wahre Problem der Euro-Zone sei nämlich «nicht die fiskalische Sorglosigkeit», sondern «die zunehmenden externen Ungleichgewichte und die Unterschiede in der Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Euro-Kernländern und der sogenannten Peripherie». Deshalb, so die S&P-Experten, «glauben wir, dass ein nur auf Ausgabendisziplin beruhender Reformprozess auf Dauer selbstzerstörerisch ist, weil die zunehmende Sorge um die Arbeitsplätze den Konsum dämpft und sinkende Steuereinnahmen die Staatsfinanzen belasten».
Als Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble im «Deutschlandfunk» darüber aufgeklärt wurde, wie die Warnung von S&P wirklich gemeint war, reagierte er gereizt: «Ich glaube nicht, dass S&P wirklich begriffen hat, was wir in Europa schon zustande gebracht haben. Ich habe manchmal den Verdacht, dass die Ratingagenturen, die ja im Wettbewerb untereinander stehen, vor allem um öffentliche Aufmerksamkeit ringen.»
Doch auch in Deutschland gibt es nachdenkliche Stimmen. Die Tageszeitung «Die Welt» etwa rät Schäuble, einmal in Ruhe über die «grundlegenden Unterschiede des ökonomischen Denkens zwischen Angelsachsen und Deutschen» nachzudenken. Konkret geht es um die Frage, ob die EU-Krise durch mangelnde Ausgabendisziplin des Staates – deutsche Version – oder durch «externe Ungleichgewichte» – angelsächsische Version – zustande gekommen ist.
Gegen die deutsche Version spricht laut S&P die Tatsache, dass die Krisenstaaten Irland und Spanien von 1999 bis 2007 deutlich solidere Staatsfinanzen mit geringeren Budgetdefiziten oder gar Überschüssen aufwiesen als Deutschland. Dass staatliche Sparmassnahmen die Krise noch zusätzlich verschärfen, zeigen auch die Beispiele von Griechenland, Spanien und Portugal – oder das Gegenbeispiel von Island, das gar nicht erst versucht hat, die Staatsschulden wegzusparen.
Wenn aber nicht die Staatsausgaben, sondern die Ungleichgewichte das Problem sind, gibt es nur eine Lösung: Die Defizitländer müssen ihre Schulden gegenüber Deutschland abbauen. Dies aber ist nur möglich, wenn Deutschland aufhört, Exportweltmeister zu sein und sogar Importüberschüsse zulässt. Dies wiederum setzt ein paar Jahre kräftige Lohnsteigerungen und entsprechende Inflationsraten voraus.
Man kann Schäuble verstehen, dass er über eine solche Möglichkeit «noch nicht einmal nachdenken» will. Denn wenn sich die Meinung durchsetzt, dass die externen Ungleichgewichte und nicht die Staatsfinanzen Europas Hauptproblem sind, dann wird Deutschland blitzschnell vom Musterland zum Sündenbock.
Kritik an Deutschland wächst
Dass es zu diesem Meinungswandel kommen wird, scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Die einst geschlossene Front hinter Angela Merkel zeigt Risse. Italiens Premierminister Mario Monti warnt, dass weitere Sparanstrengungen politisch nicht durchzusetzen seien. Zuerst wolle Italien Ergebnisse sehen, insbesondere tiefere Zinsen. «Dafür muss Deutschland jetzt etwas tun.»
Monti fürchtet das Volk offenbar mehr als Merkel und die Märkte. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, hat vor dem Europa-Parlament dringend «mehr Wachstum und Beschäftigung» gefordert – auch wenn «einige gefährdete Länder» weiterhin sparen müssten. Im Klartext: Ungefährdete Länder – also vor allem Deutschland – sollen endlich Gas geben. Auch Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy setzt sich ab und hat einen gemeinsamen Auftritt mit Angela Merkel in Rom kurzfristig abgesagt. Offenbar merkt er, dass ihm der demonstrative Schulterschluss mit der Sparkanzlerin aus Berlin politisch mehr schadet als nützt.
Und vor allem haben Merkel und Schäuble ihren bisher wichtigsten Verbündeten verloren: Auch die Kapitalmärkte haben sich auf die Seite des europäischen Volkes geschlagen und verlangen Wachstum statt Sparen. Berlin steht zunehmend isoliert da, was Europa nur guttut.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.01.12