Die amerikanische Sängerin Amanda Palmer hat ihr neues Musikalbum über die Crowdfunding-Plattform «kickstarter» finanziert. Ihre Fans spendeten über eine Million Dollar. Wie hat sie das geschafft?
Die Frau ist entfesselt. Das merkt man ihrer Performance auf der Bühne an. Und ihren Antworten in der Garderobe. Amanda Palmer aus Boston hat sich von den Fesseln der Musikindustrie befreit, nachdem sie deren Macht zu erdrücken drohte.
Auf eigene Faust produzierte die Sängerin und Pianistin, die mit dem Duo Dresden Dolls in Liebhaberkreisen bekannt geworden war, in diesem Jahr ihr drittes Soloalbum. Im April rief sie via Internet dazu auf, sich an den Kosten zu beteiligen. 300 000 Dollar brauchte die Musikerin, innert 30 Tagen sicherten ihr fast 25 000 Fans auf der Crowdfunding-Site kickstarter.com 1,2 Millionen Dollar zu. Im Gegenzug ergatterten die Spender Sammlerstücke des Albums «Theatre Is Evil», VIP-Einladungen oder gar Hausbesuche der Sängerin.
Wie gelang ihr dieser Coup? Das wollten wir von der 36-Jährigen vor ihrem Konzert im Zürcher Abart Music Club wissen.
Amanda Palmer, wann fällten Sie den Entscheid, Ihr Glück selbst in die Hand zu nehmen?
Vor drei Jahren, als mir klar wurde, dass meine Plattenfirma und ich völlig unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was für eine Künstlerin zählt. Die Plattenfirma sah nicht ein, weshalb meine Website und meine Myspace– und Facebook-Seiten ständig betreut werden sollten. Sie war der Ansicht, dass das nur in jener Zeitspanne nötig sei, in der man eine Platte bewirbt.
Die Firma fand: kein Promo-Budget ohne aktuelles Produkt?
Genau. Da wurde mir klar, dass die Plattenfirmen überhaupt nichts verstanden haben, ist es doch genau in dieser vordergründig «ereignislosen» Zeit wichtig, Fragen der Fans zu beantworten, sie bei Laune zu halten, für sie da zu sein. Damit überhaupt eine Basis da ist, wenn dann ein neues Album erscheint.
Und jetzt sind Sie Ihre eigene Chefin. Glücklich?
Ja. Jetzt habe ich zwar mehr Arbeit, aber weniger Frust am Hals. Ich führe mein eigenes Label, habe ein eigenes Management, beschäftige drei Leute. Lag ich früher gefesselt im Kofferraum der Musikindustrie, so habe ich heute das Steuer als Fahrerin im Griff. Die ganze Maschinerie dient mir – und nicht ich als Künstlerin der Maschinerie.
Aber Sie gingen ein Risiko ein: Sie mussten die Kosten Ihrer neuen Platte selber tragen. Wie gingen Sie vor?
Zuerst bettelte ich in meinem Freundeskreis einige Hunderttausend Dollar zusammen. Leute, die an mich glaubten, schossen mir das Geld für Plattenaufnahmen vor. Dann ging ich ins Studio und überlegte mir verschiedene Angebote, mit denen ich das geliehene Geld via Crowdfunding reinholen könnte: Die Leute konnten sich ein digitales Album für einen Dollar sichern, aber auch eine Hausparty für 5000 Dollar, bei der ich singen würde. Die Rechnung ging voll auf.
Und wie! Nach 30 Tagen hatten Sie weit mehr als eine Million Dollar beisammen. Überrascht?
Ehrlich gesagt: Nein. Meine Karriere dauert schon 13 Jahre, die Fans verfolgen mein Leben, mein Tun, sie wissen, was ich mache, wer ich bin. Das zählt. Ich vertraute auf meine starke Beziehung zu den Fans.
Als Sie realisierten, dass die Spenden übers Ziel hinausschossen: Beschlich Sie da nicht das Gefühl, dass Sie den Leuten auch mehr schuldig seien?
Schon, ja. Als dieses Projekt so viele Spenden und Aufmerksamkeit erhielt, schloss ich mich mit der Produktionsfirma kurz und setzte bei jedem Produkt eins drauf. Ich schmückte zum Beispiel die LPs kunstvoll aus und gestaltete sie wunderschön, denn ich wollte von keinem Einzigen der fast 25 000 Unterstützer hören, dass ich mich bei den Angeboten lumpen liess. So habe ich das ganze Geld wieder investiert, die Million ausgegeben. Ehrlich gesagt, bin ich im Moment sogar im Minus, weil die laufenden Tourkosten so hoch sind.
Die britische Band Radiohead liess vor einigen Jahren ebenfalls mit einem ungewöhnlichen Geschäftsmodell aufhorchen: Sie überliess es den Fans, wie viel diese für den Download des neuen Albums zahlen wollten.
Ja, diesen Weg wähle auch ich: Man kann mein neues Album gratis runterladen und selber entscheiden, welchen Preis man dafür zahlen will. Ich finde das ein faires Geschäft. Warum soll ich darauf beharren, Geld zu verlangen für etwas, das im Internet sowieso gratis erhältlich ist? Ich sehe nicht ein, warum ich Piraten bestrafen sollte.
Ihr Geschäftsmodell basiert also wesentlich auf Loyalität.
Ich sage: Vertrauen. Ich vergleiche das mit der Arbeit einer Strassenkünstlerin: Die Leute, die an dir vorbeigehen und kein Geld geben, sind ja keine Arschlöcher. Sie sind einfach nicht involviert. Als Strassenkünstlerin renne ich doch niemandem nach und sage: Gib mir einen verdammten Dollar, ich hab genau gesehen, dass du gelacht hast! Selbst wenn dir jemand 30 Minuten lang zuschaut, ohne Geld zu geben, ist das nicht ohne Wert – denn mit seinem Interesse veranlasst er andere Passanten dazu, ebenfalls anzuhalten. Ich konnte als Strassenkünstlerin leben, einfach zwar, aber es ging. Man muss das Vertrauen haben, dass die eigene Kunst auch anderen Leuten gefällt und man dafür honoriert wird. Diese Mentalitätsverschiebung macht sich jetzt auch im Internet bemerkbar.
Sie arbeiteten nicht nur als Strassenkünstlerin, sondern auch schon als Stripperin. Wo ziehen Sie eine Grenze, wenn es darum geht, sich zu verkaufen?
Ich mache all die Erfahrungen freiwillig. Sie reizen mich. Hauspartys sind eine spannende Herausforderung: Man spaziert in das Haus einer fremden Person hinein und muss herausfinden, wo man ist, bei wem und wie man es schaffen kann, dass am Ende alle glücklich sind.
Waren alle Erfahrungen positiv?
Ja! Natürlich geriet ich auch schon in Situationen, in denen ich von seltsamen Typen umgeben war. Aber ich betrachte das Ganze als eigene Kunstform, bei der es nicht nur darum geht, ein Haus voller Fremder zu unterhalten, sondern auch die Kontrolle zu übernehmen, ohne dass man den Gastgeber desavouiert. Eine komplexe Angelegenheit zwischen Psychologie und Performance.
Zurück zu den Grenzen: Was würden Sie nicht verkaufen?
Hm. Kürzlich las ich, dass eine Brasilianerin ihre Jungfräulichkeit für rund 700 000 Dollar an einen japanischen Geschäftsmann verkauft hat. Da fragte ich mich, was das Schlimmste daran wäre.
Ja, was denn?
Vermutlich die Peinlichkeit, wenn man später mal im Freundeskreis sitzt und erzählt, wie man seine Jungfräulichkeit verloren hat. Aber: Sie erhielt dafür sehr, sehr viel Geld. Ob das richtig oder falsch ist, dürfen wir nicht aus Distanz beurteilen, finde ich. Denn es gibt immer einen Kontext. Vielleicht ist ja ihre Schwester todkrank und sie braucht das Geld für eine lebenserhaltende Operation? Ist es dann moralisch verwerflich? Und wer hat das Recht, darüber zu entscheiden? Ich würde das nicht aus der Ferne verurteilen. Ich habe viele Formen des Austauschs gemacht in meinem Leben: Ich war eine Stripperin, eine Domina, Strassenkünstlerin, Partyveranstalterin. Ich bin eine Mischlerin. Aber voller Mitgefühl. Ich mache es nie nur des Geldes, sondern immer auch der Erfahrung wegen.
Was raten Sie einer jungen Band: Soll sie auf einen Plattenvertrag zielen oder via Crowdfunding auf das Do-it-yourself-Prinzip setzen?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Hat die Band eine Fanbasis? Wenn sie das hat und ihre Unabhängigkeit bewahren möchte, sollte sie Konzerte geben, die Karrierre eigenständig vorantreiben. Aber das ist nicht nur angenehm. Sie wird viel Zeit in miefigen Garderoben verbringen, um eine langfristige Karriere aufzubauen. Will sie einfach nur berühmt werden, sollte sie wohl bei einer Plattenfirma unterschreiben: Take the money and run.
Haben Sie selber auch schon Projekte via Crowdfunding unterstützt?
Ja. Meist sind mir die Künstler vertraut, Freunde oder Bands, die etwas Cooles, Kreatives machen. Ich suche selten aktiv nach unterstützungswürdigen Projekten. Kürzlich sah ich aber einen Filmausschnitt im Netz: Leute suchten Geld für einen Dokfilm über einen Mann, dessen Familie im Holocaust umkam. Er wurde Maler und hat diesen Verlust sein Leben lang in seiner Kunst verarbeitet. Der Clip brachte mich zum Weinen. Ich spendete Geld, weil ich will, dass dieser Film gedreht wird.
Unterstützen Sie Künstler auch auf anderen Wegen?
Ja, via Twitter. Ich habe mehr als eine halbe Million Follower. Hin und wieder weise ich mit einem Tweet auf ein tolles Projekt hin. Das bringt mehr als meine Spende von 50 Dollar. Ich kuratiere dabei sehr sorgfältig, trompete nicht ständig etwas heraus. Denn zu viel Gedöns hätte zur Folge, dass es die Leute ermüden würde. Das wäre kontraproduktiv.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.11.12