«Die Situation war menschlich fast nicht mehr ertragbar»

Die Eröffnung der neuen Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenkonsumenten auf dem Dreispitz-Areal löst wenig Widerstand aus. Ganz anders präsentierte sich die Situation in den Achtzigerjahren. Der ehemalige Gassenarbeiter Klaus Meyer erklärt, wie der Heroinkonsum auf der Gasse und die Verelendung der Konsumenten einst seinen Arbeitsalltag dominierten.

«Es war schon verrückt, mitten in dieser Szene zu stehen. Die Leute lagen uns täglich ab», sagt der ehemalige Gassenarbeiter Klaus Meyer. (Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Eröffnung der neuen Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenkonsumenten auf dem Dreispitz-Areal löst wenig Widerstand aus. Ganz anders präsentierte sich die Situation in den Achtzigerjahren. Der ehemalige Gassenarbeiter Klaus Meyer erklärt, wie der Heroinkonsum auf der Gasse und die Verelendung der Konsumenten einst seinen Arbeitsalltag dominierten.

Am Samstagnachmittag, 9. November 2013, wird auf dem Dreispitz-Areal, in unmittelbarer Nähe zum Friedhof Wolfgottesacker und dem Club Hinterhof, eine neue Kontakt- und Anlaufstelle (K+A) eröffnet. Die einstigen Gassenzimmer an der Spitalstrasse und der Heuwaage verschwinden. Gegen das 2,65 Millionen teure Projekt auf dem Dreispitzareal wehrten sich zwar Familiengärtner, Anwohner und Mitglieder der kantonalen Friedhofskommission. Doch verglichen mit früher fiel die Opposition eher bescheiden aus.

Klaus Meyer, ehemaliger Gassen­arbeiter des Schwarzen Peters, setzte sich an vorderster Front und gegen massiven Widerstand für die Schaffung von Fixerstuben in der Stadt ein. Im Interview blickt der heute 62-jährige Angestellte der Abteilung Kantons- und Stadtentwicklung zurück und sagt, wie 1988 das erste «Sprützehüsli» am Lindenberg 1 entstanden ist.

Herr Meyer, am Samstag wird die Kontakt- und Anlaufstelle auf dem Dreispitzareal eröffnet. Gegen das Projekt gab es nur geringen Widerstand. Anders war es Ende der 1980er- Jahre, als das inoffizielle Fixerstübli am Lindenberg 1 seinen Betrieb aufgenommen hatte – und 1991, als das erste offizielle Gassenzimmer an der Spitalstrasse eröffnet wurde. Auf was ist der heute minime Widerstand zurückzuführen?

Grund für den damaligen massiven Widerstand gegen Gassenzimmer war sicherlich, dass die Drogenszene im oberen Kleinbasel sehr in den Köpfen der Menschen präsent war. Die Leute hatten extrem Angst davor, dass die Drogenkonsumenten in ihr Quartier kommen. Das war aber auch verständlich. Heute gibt es keine derart grosse Szene mehr. Möglicherweise ist deshalb die Angst der direkten Anwohner weniger gross.

Sie hatten als Gassenarbeiter des Schwarzen Peters grossen Anteil daran, dass es in Basel heute überhaupt Kontakt- und Anlaufstellen gibt. Wie kamen Sie zum Schluss, dass solche Einrichtungen notwendig sind?

Wir stellten als Verein für Gassenarbeit zwei Probleme fest. Erstens gab es keine sauberen Spritzen. Daher steckten sich die Leute mit HIV an. Damals ging man noch davon aus, dass der Virus tödlich sei. Wir mussten teilweise zusehen, wie sich bis zu 20 Personen am Oberen Rheinweg eine Spritze teilten. Das war nicht auszuhalten. Die Szene war gross damals, etwa 2000 Drogensüchtige gab es in Basel. Allein ein paar hundert Personen hingen am Oberen Rheinweg herum. Wir mussten zuerst dafür sorgen, dass die Betroffenen saubere Spritzen bekamen.

Und das zweite Problem?

Obwohl wir saubere Spritzen verteilten, mussten wir feststellen, dass die Leute auf die Gasse gingen, Spritzen austauschten und an einer Überdosis starben. So starben in der öffentichen Toilette hinter dem Arbeitsamt an der Utengasse innert kurzer Zeit etwa zehn Personen an einer Überdosis. Das war eine verrückte, menschlich fast nicht mehr ertragbare Situation. Insbesondere für die Konsumenten selber, aber auch für die Anwohner. Es entstand eine breite Diskussion darüber, wie man mit dem Thema umgehen sollte. Wir kamen zum Schluss, dass sie einen Ort zum Fixen brauchen – unter möglichst hygienischen Bedingungen. Dann haben wir das Fixerstübli am Lindenberg 1 eröffnet.

«Es war schon verrückt, mitten in dieser Szene zu stehen. Wir mussten immer dafür sorgen, dass die Leute überlebten.

Die Eröffnung sorgte für heftige Kontroversen.

Ja, sehr schnell meldeten sich Anwohner bei uns und meinten, dass wir durch unser Angebot die Drogenszene stabilisieren würden. Und auch Jörg Schild, damals oberster Drogenstaatsanwalt, meinte: «Ich stecke Herrn Meyer ins Gefängnis.»

Davon liessen Sie sich nicht einschüchtern?

Nein, er musste so etwas sagen. Zumal wir den Leuten ermöglichten, Drogen zu konsumieren und damit gesetzeswidrig handelten. Es gab aber auch viele namhafte Personen – Richter, Anwälte und Pfarrer –, die zu uns hielten. Ich will im Nachhinein nicht den Helden spielen, aber: Wir haben das Risiko bewusst in Kauf genommen. Denn es war völlig klar, dass es eine solche Einrichtung brauchte und wir es machen mussten. Heute würde ich diesen Job aber nicht mehr machen wollen.

War es denn so schlimm?

Es war schon verrückt, mitten in dieser Szene zu stehen. Die Leute lagen uns täglich ab, hatten epileptische Anfälle, atmeten nicht mehr. Wir mussten immer dafür sorgen, dass die Leute überlebten. Das ist uns auch gelungen: Ein Jahr lang starb niemand. Einmal starb jemand, der vor dem Fixerstübli ein Messer in den Bauch bekommen hatte und seltsamerweise an den Rhein ging, um zu sterben. Aber in unserem Raum gab es keine Todesfälle. Es war eine intensive Zeit. Es gab täglich Zeitungsberichte – sogar die BBC kam, um ‹the fixerstübli› zu begutachten.

Wie muss man sich den damaligen Widerstand vorstellen?

Die Anwohner wehrten sich heftig dagegen – zu Recht auch. An Veranstaltungen des Drogenstammtisches standen sie auf und verliessen auch den Raum. Aber wir haben immer versucht, das Gespräch mit ihnen zu suchen und eine Lösung zu finden, die für alle einigermassen erträglich ist. Wir mussten den Anwohnern klar machen, dass wir den Drogensüchtigen helfen müssen – und diese Hilfe für kranke Menschen auch dem Wohle und der Entlastung der Anwohner dient.

Das war sicher keine einfache Aufgabe, zumal die Fronten extrem verhärtet waren.

In der Tat. Ich weiss noch ganz genau, wie der Kantonsarzt uns unterstützen wollte, indem er einen Stop-Aids-Bus mit Spritzen ausrüstete und diese an die Konsumenten vor Ort verteilen wollte. Anwohner der Utengasse haben den Bus dann blockiert, es kam beinahe zu einer Schlägerei. Der Kantonsarzt wurde daraufhin versetzt. Trotz der aufgeladenen Stimmung: Ich habe nie mehr in meinem Leben so eine engagierte und kontroverse Diskussion erlebt wie damals. Es war eine schwierige Zeit. Aber gerade weil es so anspruchsvoll war, wussten alle, dass wir zusammenstehen mussten. Für mich war das eine wunderbare Erfahrung. Sie zeigte mir, wie Menschen in Situationen, in denen eigentlich nichts mehr zusammen geht, trotz unterschiedlicher Optik noch miteinander reden können.

Obwohl sich Anwohner heftig dagegen wehrten, doppelte man mit weiteren Fixerstübli-Standorten nach.

Wir kamen schnell zum Schluss, dass es mehr solche Orte braucht. Dies, um die Leute in der ganzen Stadt zu verteilen und die Anwohner zu entlasten. Zumal es Leute gab, die 50 Junkies vor der Haustüre hatten. Das Fixerstübli strapazierte schon die Geduld der Anwohner – auch wenn es am Schluss zur Entschärfung der ganzen Situation führte. Um unser Anliegen nach mehr Standorten zu untermauern, haben wir mit Hilfe von Handwerkern und Anwohnern der Rheingasse einen Container neben der Elisabethenkirche aufgestellt. Der damalige LDP-Regierungsrat Peter Facklam wollte den Container am Anfang einzäunen, liess aber nach Gesprächen davon ab. Bevor 1991 das erste offizielle Gassenzimmer an der Spitalstrasse aufging, gab es eine vorübergehende Lösung am Picassoplatz. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Peter Facklam bei einer Veranstaltung am Picassoplatz von vornehmen Anwohnern des Dalbenlochs bedroht wurde. Er meinte aber, er müsse diesen Weg mit den Gassenzimmern gehen. Obwohl Herr Facklam nicht die gleiche politische Linie vertrat wie ich, finde ich: Er hat damals sehr mutig entschieden und viel ausgehalten. Bei den nächsten Wahlen wurde er nicht wiedergewählt. Ich gehe davon aus, dass dies auch auf sein Gassenzimmer-Engagement zurückzuführen war.

«Das Fixerstübli strapazierte schon die Geduld der Anwohner – auch wenn es am Schluss zur Entschärfung der ganzen Situation führte.»

Die Standorte Spitalstrasse und Heuwaage werden geschlossen. Finden Sie es richtig, dass die Drogenkonsumenten aus der Innenstadt verbannt werden?

Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Ich weiss nicht, wie viele Drogensüchtige es heute noch in Basel gibt und in welchem Zustand sie sind. Früher hätten wir uns bestimmt dagegen gewehrt. Aber früher war die Situation ganz anders, es gab mehr Verwahrloste. Wir wollten sie deshalb nahe bei der Gesellschaft haben – unter der sozialen Kontrolle. Heute gehe ich davon aus, dass die Menschen mehr sozial eingebettet und institutionell betreut sind.

Mit den Standorten Dreispitzareal und Wiesenkreisel verschwindet die Szene jedoch in der öffentlichen Wahrnehmung. Aus den Augen, aus dem Sinn…

Als ich Drogendelegierter war, gab es vor den Gassenzimmern häufig Probleme. Wir entschieden uns dann, einen Vorraum einzurichten, damit die Drogenkonsumenten einen geschützten Ort haben und die Anwohner und Schulkinder solche Situationen nicht mehr sehen müssen. Das war eigentlich auch «aus den Augen, aus dem Sinn». Klar, der Wiesenkreisel und das Dreispitzareal befinden sich etwas weiter weg vom Zentrum. Ob der neue Standort Dreispitzareal aber deswegen weniger ideal ist, kann ich nicht beurteilen.

Bereits heute sind Drogenkonsumenten weniger in den Köpfen der Menschen präsent als früher. An was liegt das?

Ich glaube, dass die Drogenszene damals so im Zentrum stand, weil hunderte meist noch junge Menschen mitten unter uns im öffentlichen Raum sichtbar am Sterben waren. Und der ganze HIV-Aspekt war sicher noch ein wesentlicher Grund dafür, dass man offener über dieses Thema sprach. Heute ist es doch so, dass die Drogensüchtigen viel besser versorgt sind und deshalb im öffentlichen Raum gar nicht mehr so auffallen – ausser vielleicht ein paar einzelne, die betteln. Und weshalb sollte sich die Gesellschaft mit etwas beschäftigen, wenn sie nicht gestört wird dadurch?

Heute machen Sie etwas ganz anderes und sind im Präsidialdepartement für Bewilligungen zuständig. Hatten Sie genug von der Thematik, oder wieso haben Sie das Fachgebiet gewechselt?

Dafür gibt es verschiedene Gründe. Letztendlich aber hat es sich einfach so ergeben.

Vermissen Sie das Thema nicht ein bisschen?

Ich erinnere mich – wie Sie vielleicht schon festgestellt haben – gerne an diese Zeit zurück. Es war eine intensive Zeit, zumal man mit den Betroffenen immer sehr nahe am Leben und Tod gewesen ist. Wir konnten aber auch immer aktiv etwas zur Verbesserung beitragen. Ich möchte diese Erfahrung nicht missen. Aber ich bin froh, dass es vorbei ist. Man ist nicht in jeder Lebensphase dafür geeignet, derart an der Front zu stehen.

Klaus Meyer

Klaus Meyer (62) gilt als einer der Pioniere der im Kanton Basel-Stadt praktizierten Vier-Säulen-Drogenpolitik (Prävention, Therapie, Schadensminderung, Repression). Von 1985 bis 1995 war er als Gassenarbeiter beim Verein Schwarzer Peter tätig. Er gehört zu den Initianten der Gassenküche und des Drogenstammtisches. Auch war Meyer als Geschäftsleiter für das Unternehmen Jugend und Prävention (Wake Up) und als Drogenbeauftragter für den Kanton Basel-Stadt tätig. Heute leitet Klaus Meyer im Präsidialdepartement die Koordinationsstelle Bewilligungswesen in der Kantons- und Stadtentwicklung.

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