«Diese Lust am Gestalten»

Die Baselbieter Staatsarchivarin Regula Nebiker rennt allen Männern davon – jedenfalls, wenn es um die Wahlen in den Liestaler Stadtrat geht. Sie freut sich auf den zweiten Wahlgang. Kein Wunder.

Regula Nebiker und Regula Nebiker: Überall in Liestal hängt oder steht ihr Konterfei. (Bild: Michael Würtenberg)

Die Baselbieter Staatsarchivarin Regula Nebiker rennt allen Männern davon – jedenfalls, wenn es um die Wahlen in den Liestaler Stadtrat geht. Sie freut sich auf den zweiten Wahlgang. Kein Wunder.

Liestal im September: Das Städtchen ist vollgepflastert mit Wahlplakaten. Drei Männer und eine Frau bewerben sich um den Stadtratssitz der zurückgetretenen Freisinnigen Re­gu­la Gysin. Ein Plakat fällt besonders auf: jenes von Regula Nebiker. Es ist das grösste, es ist das häufigste. Und, wie sich am 23. September gezeigt hat, das erfolgreichste. Die Sozial­demo­kratin Nebiker holte fast so viele Stimmen wie ihre drei männlichen und bürgerlichen Konkurrenten zusammen – eine gute Ausgangslage für den zweiten Wahlgang vom 25. November.

Wer ist diese Frau, die bei einer allfälligen Wahl den Ausschlag gäbe, dass der Baselbieter Kantonshauptort zum ersten Mal von einer links-grünen Mehrheit regiert würde? Sie em­pfängt uns im Staatsarchiv, dem sie vorsteht. Nichts von staubigem Mief, sondern helle, lichte Architektur direkt neben dem Bahndamm.

Was ist Ihre Lieblingszahl, Frau Nebiker?

(studiert lange) Keine Ahnung. 1832? Das Gründungsjahr des Kantons Baselland.

Und die unangenehmste?

Nicht 97?

1997 wurde ich 40 Jahre alt.

97 Stimmen fehlten Ihnen zur Wahl als Liestaler Stadträtin im ersten Wahlgang.

(lacht) Jesses. Da bin ich wohl zu sehr Historikerin, wenn ich hinter jeder Zahl eine Jahreszahl sehe.

Etwas mehr Aufwand im Wahlkampf und Sie wären gewählt.

Hundert Stimmen sind in Liestal kein Pappenstiel.

Und jetzt, vor dem zweiten Wahlgang, gilt es da, nicht überheblich zu werden, oder fühlt es sich an wie eine Ehrenrunde?

Vorläufig freue ich mich einfach. Auch wenn es wegen des hohen absoluten Mehrs nicht gereicht hat: ­Gewinnen ist ein schönes Gefühl.

Darf man das als Linke sagen?

Ja, vielleicht muss ich das als Linke sogar betonen. Meine Kinder fragten mich schon oft, wieso ich in der Politik immer auf der Seite der Verlierer stehe. Jetzt ist es einmal umgekehrt. Und das geniesse ich.

Bei den Nationalratswahlen im letzten Oktober belegten Sie den fünften Platz auf der SP-Liste. Eine Niederlage für Ihre Kinder?

Nein. Damals erklärte ich ihnen, dass ich viele Stimmen gemacht habe, fast so viel wie der Parteiprä­sident, obwohl ich kein politisches Amt bekleide.

Wenn Sie im zweiten Wahlgang gewählt werden, hat Liestal eine rot-grüne Regierung. Das passt doch nicht zu dieser Kleinstadt?

Es ist kein Drama, wenn in Liestal in der Exekutive eine Zeit lang Linke regieren. Sissach ist deswegen auch nicht untergegangen. Sowieso ­spielen in der Exekutive Persönlich­keiten eine stärkere Rolle als die Parteizugehörigkeit.

Aber rot-grün passt nicht zu Liestal.

Natürlich hat Liestal ein klassisches Bürgertum. In der Vergangenheit spielte vor allem die FDP eine wichtige Rolle.

Und die FDP steckt im Tief. ­Vorübergehend?

Es scheint ein Trend zu sein. Der FDP gelingt es im Moment nicht, fähigere Leute für die Politik zu interessieren.

Weshalb nicht?

Es lohnt sich nicht, zahlt sich nicht aus. Wer sich thematisch mehr für das gesellschaftliche Wohl engagiert, wie es die Sozialdemokraten tun, interessiert sich wohl auch eher für ein politisches Amt.

Hat die Schwäche der FDP auch damit zu tun, dass die Politik an Bedeutung eingebüsst hat und heute die Wirtschaft bestimmt, wo es lang geht?

Ja. Das Formtief der FDP ist sicher auch strukturell. Gerade in Liestal, wo die FDP eine grosse Macht hatte, ist sie jetzt wie erstarrt. Es sieht aus, als ob die Partei eine Art «Lame Ducks» im Amt erhalten muss, weil es schlicht an Nachwuchs fehlt. Das war früher anders: In den «guten alten Zeiten» der FDP gab es Königsmacher, wie etwa Alfred Oberer im Baselbiet. Er zog die Fäden ganzer Netzwerke und baute all die Regierungsräte und Ständeräte auf wie Paul Nyffeler oder René Rhinow und andere. Diese Generation zeichnete sich aus durch Augenmass und durch Lust, das Ganze zu gestalten.

Und heute?

Heute ist diese Lust am Gestalten weg.

Aus Selbstzufriedenheit?

Ich war ja früher stolz, wie schlank und rank, neu und anders es im Baselbiet läuft. Dieses Gefühl nahm ich 1991 mit, als ich für zehn Jahre nach Bern zog. Bis dahin nahm ich zum Beispiel Basel-Stadt als schwerfällig und selbstzufrieden wahr. In der Stadt wusste man oft nicht, was aus-serhalb der Stadt los war. In der behäbigen Bundesstadt Bern erlebte ich die Stimmung ähnlich. Als ich Ende 2000 ins Baselbiet, nach Liestal, zurückkehrte, freute ich mich: Jetzt geht alles wieder ein bisschen einfacher. Man ist hier direkter, kennt sich. Und dann kam plötzlich die Ernüchterung: Ich traf auf so vieles, das niemand anpackte und umsetzte: «Projektmanagement» war ein Fremdwort, Konzepte wie «New Public Management» fand man höchstens anrüchig. Oft stiess ich auf Blockaden.

Die Verwaltung war erstarrt?

Es fehlte der Führungs- und Ver­änderungswillen. Die verbreitete Haltung war: Wir geben kein Geld aus, «stricken» die Dinge selbst ­irgendwie. So, wie wir es machen, ist es schon richtig. Und in Bezug auf ­modernere Verwaltungsführung: «Schau nur einmal den Blödsinn an, den all die anderen machen.» Das war überhaupt nicht böswillig, aber fantasielos. Und in dieser Haltung stecken wir noch immer drin. Früher gab es doch auch bürgerliche Köpfe wie den SVP-Regierungsrat Werner Spitteler, der auch einmal für ein Experiment oder etwas Unkonventionelles zu haben war.

Und in einem solchen Kanton verlassen die guten Köpfe die Verwaltung, wenn sie können?

Ich persönlich kann mich gar nicht beklagen. Als Leiterin des Staats­archivs hatte ich sehr viel Gestaltungsfreiheit. Wir konnten das Staatsarchiv neu bauen und sichtbar machen. Aber ich treffe in der kantonalen Verwaltung auf sehr viel frustrierte Angestellte, die das Gefühl haben, sie kämen keinen Schritt weiter.

Sie argumentieren als Angestellte des Kantons keck gegenüber allfälligen Vorgesetzten. Ist das eine weibliche Stärke?

Nein. Aber ich gehöre zur Generation von Frauen, die oft alleine unter Männern auftreten musste. Zur Eröffnung einer Sitzung hiess es oft: «Frau Nebiker, meine Herren».

Jetzt, im Staatsarchiv Baselland, ist das anders.

Nein. Nur die Leitung ist weiblich, meine Stellvertreterin und ich, ebenso Empfang und Sekretariat. Wir haben aber mehr Männer als Frauen. In der Pause lesen die Männer lieber still Zeitung als zu reden. Mir drücken sie dann jeweils auch eine Zeitung in die Hand, vielleicht damit ich ruhig bin.

Sie sind in einem Frauenhaushalt gross geworden, hatten ausschliesslich Schwestern. Ihr Vater, SVP-Nationalrat Hans-­Rudolf Nebiker, klagte manchmal, er habe zu Hause einen schweren Stand.

Ein klassisches Männerwitzchen. Diesen Support, den er hatte, hätte ich manchmal auch gern. Meine Mutter erzog die Kinder, putzte das Haus, bügelte die Hemden. Er musste nichts davon machen. Aber er war ehrlich: Er sagte, dass er mit keiner seiner Töchter als Frau leben könnte, denn diesen Komfort bot keine von uns mehr ihrem Ehemann. Wir erwarten von unseren Partnern, dass sie auch zu Hause mit anpacken.

Sie waren 1985 zwei Jahre Redaktorin beim Radio Raurach, hatten eine Bühne und Zuhörerinnen und Zuhörer.

Das Radio war gut für mich. Ich war damals scheu, unsicher und technisch nicht so geschickt. Ich kippte den damaligen Regierungsrat Paul Nyffeler regelmässig aus der Telefonleitung und erlebte so ziemlich jede Peinlichkeit. Einmal fluchte ich sogar über den Sender. So richtig heftig. Ich musste lernen, meinen Interviewpartnern Fragen zu stellen, ohne dass ich mich zuerst stundenlang vorbreiten konnte. Das tat mir gut. Da merkte ich, dass ich mit Leuten gut reden kann.

Danach gingen Sie ins Staatsarchiv, später ins Bundesarchiv, in die staubigen Keller fernab vom Publikum. Passt das zusammen?

Ich bewege mich in diesen Spannungsfeldern. Auf der einen Seite bin ich eine Leseratte, bin neugierig, will immer noch mehr wissen. Gleichzeitig geniesse ich es, unter Leuten zu sein, bin eigentlich auch eine Selbstdarstellerin. Während meiner Lizentiatsarbeit über den «Loskauf von Zins und Zehnten nach der Helvetik» fand ich grossen Gefallen an der Arbeit im Archiv. Es waren die eher unscheinbaren und oft «schmürzeligen» Schreiben, die es mir angetan hatten: Wenn der Gemeindepräsident von Oltingen 1804 in einfachen Worten schrieb, auch er wolle sich loskaufen vom Bodenzins.

Was gibt Ihnen das Selbstvertrauen, dem politischen Establishment zu sagen, «ihr seid ­eingeschlafen»? Als Leiterin des Staatsarchivs sind Sie ja auch ­abhängig von ihm.

Dieses Vertrauen nahm ich aus den 1980er-Jahren mit. Ich traf während meiner Zeit als Radio-Journalistin nie auf eingeschüchterte Chefbeamte im Baselbiet.

Und heute?

Chefbeamte dürfen doch immer noch ihre Meinung sagen.

Haben sie denn etwas zu sagen?

Es gibt tatsächlich ein paar, die müde, frustriert oder antriebslos wirken.

Ende der 1980er-Jahre traten Sie auch der SP bei.

So bin ich auch aufgewachsen: Neben Familie und Beruf tut man auch etwas für die Allgemeinheit. Ich kandidierte damals für die Liestaler Schulpflege und wollte dies nicht als Parteilose tun. Und weil mir Parteien mit einer eigenen Tradition gefallen – in diesem Punkt bin ich konservativ – , entschied ich mich eben für die SP.

Deshalb waren die Grünen keine Option?

Nein, obwohl ich ökologische Themen wichtig finde.

Bei der Katastrophe in Schweizerhalle waren Sie als eine der ersten Journalisten vor Ort und kehrten mit übel riechenden Stiefeln zurück. Hat Sie das politisiert?

Diese Stiefel bewahrte ich zur Erinnerung zwei Jahre lang auf. Die stanken immer gleich stark. Aber das war trotzdem kein Auslöser. Schon vorher war ich politisch aktiv. Ich half zum Beispiel, die Junge SVP zu gründen mit den späteren SVP-Mitgliedern Dieter Völlmin, Thomas Keller und anderen. Ich war die Sekretärin. Immer wenn wir die Parole fassten, stand ich schräg in der Landschaft. Wirklich geprägt hat mich aber schon davor als Gymnasiastin der Widerstand gegen das geplante Kernkraftwerk Kaiseraugst. Da erlebte ich, dass man seine eigene Meinung haben und vertreten muss. Schliesslich schwenkte sogar mein Vater um.

Was macht Ihnen Mühe im Baselbiet?

Die Staatsfeindlichkeit, die wir hier chronisch pflegen. Die Baselbieter schwächen den Staat, wann immer sie können. Das war nur in der Hochkonjunktur anders. Das hat schon etwas Folkloristisches. Mein Vater sagte immer, Regierungsrat wolle er nie werden, er wolle nicht Staatsangestellter sein. Ich bin stark verwurzelt hier, habe ein intensives Heimatgefühl in diesem Kanton, aber dazu gehört für mich auch der Staat.

Wenn Sie gewählt werden, was ändert sich dann in Liestal?

Sofort wird sich nicht viel ändern. Aber in Liestal ist die Stimmung im Gegensatz zum Kanton, der stagniert, völlig anders. Da hat sich in den letzten Jahren vieles geändert. Als ich vor zwölf Jahren mit meiner Familie nach Liestal zurückkehren wollte, waren mein Mann und ich schockiert, wie trostlos es in diesem Liestal aussieht: stehende Autokolonnen, verkommene Häuser, Industriebrachen.

Sie übertreiben.

Nein, mir fiel es allerdings erst gar nicht auf. Erst durch meinen Mann, der aus den Niederlanden kommt, sah ich Liestal plötzlich mit seinen Augen: Provinz, in der sich jahrzehntelang kaum etwas verändert hatte. Lange sah es so aus, als ob alles an Liestal vorbeiginge: Die Bubendörfer, ja sogar die Frenkendörfer machten es besser. In Liestal aber passierte nichts. Doch in den letzten zwölf Jahren begann sich endlich etwas zu bewegen. Das ist jetzt rund um den Bahnhof sichtbar. Und plötzlich interessieren sich ­Investoren für die Baselbieter Hauptstadt.

Liestal beanspruchte für sich früher oft eine Maximallösung – etwa das Millionen-Projekt eines tief liegenden Bahnhofs – und bekam dann am Ende stattdessen gar nichts.

Liestal musste diese Haltung in den 1990er-Jahren mit ein paar harten Lehrplätzen bezahlen: Bei der Tieflage verrechneten sich die Liestaler. Ich habe dort seinerzeit natürlich auch unterschrieben (lacht). Neben dem Bahnhof ging auch das geplante Parkhaus am Schwieriplatz deshalb bachab. Inzwischen ist Liestal aber auf dem Boden der Realität angekommen. Heute planen wir, was machbar ist, und das kommt dann auch. Jetzt müssen wir nur das Augenmass wahren. Der Widerstand gegen den Quartierplan Ziegelhof hat gezeigt, dass diese Veränderungen für einen Teil der Bevölkerung etwas zu schnell vorangehen.

Ein nächstes Projekt ist ein neuer, nicht tief liegender Bahnhof. Was soll dieser bringen?

Der Liestaler Bahnhof ist gemessen an der Frequenz mit Abstand der hässlichste Bahnhof der Schweiz. Die Südquartiere sind mit schäbigen Fussgängerunterführungen und ­einer gefährlichen Strasse mit dem Zentrum verbunden. Ein neuer Bahnhof wäre doch Anlass, zwei gute, breite und vernünftige Unterführungen für Velofahrer und Fussgänger zu bauen.

Staatsarchivarin und Stadträtin – geht das zusammen?

Ich arbeite achtzig Prozent. Aber natürlich muss ich mich organisieren und wenn ich gewählt werde, muss ich ganz strikt planen. Das wird mich fordern, weil ich ein ­spontaner Mensch bin. Fragen Sie das Männer auch?

Männer würden sagen, das gehe gut, sie arbeiteten sowieso 140 Prozent …

… und brauchten keinen Schlaf. Aber ich brauche Schlaf.

Weshalb engagieren Sie sich für die Fusionsinitiative der Kantone Baselland und ­Basel-Stadt?

Ich will wissen, ob immer noch eine Mehrheit der Bevölkerung den Kanton Basel-Landschaft so haben will, wie er jetzt ist. Als Historikerin fasziniert mich die Gründungszeit des Kantons Baselland. Mich interessiert, was die Leute bei der Kantonstrennung dazu gebracht hat, sich gegen die Verkrustung der Stadt zu wehren. Dieses Thema prägt uns auch heute wieder.

Aber unter umgekehrten Vor­zeichen.

Ja, jetzt ist es die Landschaft, die daran leidet. Ich glaube, dass viele Baselbieter Politiker nicht mehr die Mehrheit der Bevölkerung widerspiegeln oder diese nicht mehr spüren. Es fehlt das Sensorium, wie es der Bevölkerung geht und wie sie lebt. Und dass die grössten Demokraten sich vor einer Abstimmung ängstigen, finde ich am seltsamsten.

Wären Sie bereit, für den Regierungsrat zu kandidieren?

Ich habe das Gefühl, da bin ich schon ein bisschen zu alt. Es gab schon Phasen, da reizte mich die Vorstellung. Aber zu mir gehört auch, dass ich mehrgleisig unterwegs bin: Ich mache gerne verschiedene Dinge nebeneinander und finde meinen Beruf als Archivarin je länger, je spannender.

Regula Nebiker Politik gehörte zum Alltag auf dem Hof Ebnet in Diegten, auf dem Regula Nebiker (55) zusammen mit fünf Schwestern aufgewachsen ist. Schliesslich war ihr Vater ein bekannter Politiker, als Baselbieter SVP-Nationalrat im Amtsjahr 1991/92 sogar höchster Schweizer. Tochter Regula folgte den väterlichen Fussstapfen nicht nur, indem sie sich politisch engagierte, sondern auch, indem sie eine Junge SVP mitzugründen half. Dort fühlte sie sich aber bald nicht am ganz richtigen Ort. 1989 trat sie, damals Stellvertreterin des Baselbieter Staatsarchivars, der SP bei, wo sie während ihrer Zeit als Vizedirektorin des Bundesarchivs sowohl in Berner Sektionen tätig war als auch – nach ihrer Rückkehr ins Baselbiet – in Liestal. Seit 2004 ist sie Einwohner­rätin. Regula Nebiker ist verheiratet und hat zwei Töchter.

 

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 05.10.12

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