«Durch die Wanderschaft kann ich vieles besser akzeptieren»

Abenteurer, Neo-Hippies, Freigeister. Gesellen auf Wanderschaft werden gerne mit allerlei stereotypen Assoziationen versehen. Die Gesellen Madeleine und Karl erzählen von ihrer Motivation und ihrem Leben auf Wanderschaft.

(Bild: Fanny Oppler)

Abenteurer, Neo-Hippies, Freigeister. Gesellen auf Wanderschaft werden gerne mit allerlei stereotypen Assoziationen versehen. Die Gesellen Madeleine und Karl erzählen von ihrer Motivation und ihrem Leben auf Wanderschaft.

Samstag Abend in einer Kleinbasler Bar. Einer schrummt auf einer Gitarre, man unterhält sich über Zürcher Demonstrationen und den Nikotingehalt von Marlborozigaretten. Madeleine spricht über etwas Anderes. Sie ist hier mit ihrem Kollegen Karl, sie sagt: «Schöner Fussboden, Eiche, oder?»

Karl und Madeleine sind Handwerkergesellen auf der Walz. Karl ist Zimmermann, Madeleine Schreinerin. Sie kommen aus der Nähe von Karlsruhe und tragen beide die typische Wanderkluft: schwarze Weste, Leinenhemd, Hose mit Schlag. Fluch und Segen sei diese Kleidung, sagt Karl, «im Sommer zu heiss, im Winter zu kalt. Dafür hat in den Taschen alles Platz – diese Kluft ist unsere Wohnung.»

Die typische Kluft der Wandergesellen ist mit zahlreichen Merkmalen versehen, die von Schacht zu Schacht (Bezeichnung für Gesellenvereinigung) leicht variieren können. Die Knöpfe haben dabei eine besondere Bedeutung. Die acht Knöpfe an der Weste stehen für acht Stunden Arbeit am Tag, sechs Köpfe an der Jacke für sechs Arbeitstage (mittlerweile noch fünf), je drei Knöpfe am Revers für drei Lehr- und drei Wanderjahre.

Ich verabrede mich mit den beiden am nächsten Morgen in einem Café. Die Wirtin spendiert Gipfeli aufs Haus «für die jungen Reisenden», wie sie sagt. Das Erscheinungsbild meiner Begleiter bringt offensichtlich einige Vorzüge mit sich, dennoch würden wohl die wenigsten Altersgenossen mit Madeleine und Karl tauschen wollen.

Die Walz ist zum einen das, was landläufig mit der grossen Freiheit assoziiert wird. Der Wandergeselle ist sein eigener Chef, er zieht den Hut vor keinem Herrn, so bestimmt es die Tradition. Mit dieser Freiheit geht allerdings auch eine grosse Verantwortung einher, Madeleine und Karl erfahren das auf ihrer Reise am eigenen Leib.

Ihr seid beide bereits seit über drei Jahren unterwegs. Ist die Walz für Euch vor allem eine Liebeserklärung an euren Beruf oder die bewusste Abkehr von der alltäglichen Bequemlichkeit?

Karl: Bei mir wars beides. Ich wollte weg von zuhause, wollte die Welt kennenlernen. Ich wollte mich abkapseln, erwachsen werden. Das geht nicht so gut mit Mamas Herd und Waschmaschine nebenan.

Madeleine: Welche Wirkung die Wanderschaft auf einen hat, kann man vorher ohnehin nicht absehen. Ich war früher kritischer, skeptischer gegenüber allem. Aus dem Grund wollte ich auch auf die Wanderschaft gehen. Heute sehe ich vieles gelassener, ich kann besser akzeptieren. Die Verschiedenheit der Menschen zum Beispiel.

Ihr müsst auf vieles verzichten, alles was ihr besitzt, passt in ein Bündel. Was fehlt euch am meisten?

Madeleine: Am Anfang hab ich nicht viel vermisst, mittlerweile wünsche ich mir manchmal einfach eine Tür mit einem Zimmer dahinter.

Karl: Ja, ein Bett, eine Dusche, einen Kühlschrank. Das sind Dinge, die man immer für selbstverständlich hält, bis man merkt, dass sie nichts Selbstverständliches sind.

Madeleine: Wenn ich mal vorübergehend ein Bett habe, dann liebe ich es, morgens das Bett zu machen. Das ist einfach was Schönes.

Woran hab ihr hier in Basel gearbeitet?

Madeleine: Wir haben jemandem ein Klappbett gebaut. Als Gegenleistung hat er uns ein Tattoo gestochen.

Karl: Wir waren schon im letzten Jahr hier und haben einige Freunde in Basel. Da kommen wir gerne immer wieder vorbei.

Ist Basel ein gutes Pflaster für Wandergesellen?

Karl: Die Schweiz insgesamt ist super, die Leute unterstützen die Tradition, und es gibt viel Arbeit. Ausserdem haben die Betriebe Geld, das macht es für uns auch einfacher, eine temporäre Stelle zu finden. In Basel spürt man deutlich den deutschen Einfluss. Ich war in einer Zimmerei, in der nur Deutsche gearbeitet haben. Ausser dem Praktikanten, der war Schweizer.

Madeleine: Ich hatte Mühe, hier eine Arbeit zu finden. Aber das mag auch daran liegen, dass Basel eine Stadt ist. In der Stadt ist es meistens schwerer, Arbeit zu finden.

Als Wandergesellen lebt ihr stark von der Begegnung mit fremden Menschen. Gleichzeitig haben gesellschaftliche Berührungsängste mit Unbekannten Konjunktur. Welche Erfahrungen macht ihr in dieser Hinsicht?

Karl: Die Leute, die offen sind und nicht in ihrem sozialen Autismus leben, die helfen uns weiter. Und das ist immer noch der Grossteil. Manche kommen aber nicht einmal damit klar, wenn man sie auf der Strasse anspricht, um nach dem Weg zu fragen. Die wissen auch nicht, dass wir ja kein Handy oder Ähnliches benutzen dürfen.

Madeleine: Aber manchmal ist es auch krass, wie offen die Leute zu mir sind. Da passieren die unglaublichsten Dinge im Alltag. Viele temporäre Anstellungsverhältnisse entstehen über spontane Gespräche.

Ihr lernt viele Menschen kennen, müsst aber auch oft Abschied nehmen. Stumpft das mit der Zeit auch ab?

Karl: Am Anfang empfand ich immer alle Bekanntschaften gleich als neue Familie. Mittlerweile dauert es länger, bis ich jemanden nahe an mich heranlasse.

Madeleine: Umso schöner ist es, wenn man auf bekannte Gesichter trifft, denen man nicht die immergleichen Geschichten noch einmal erzählen muss. In Basel fühlt es sich für mich so an, als würde ich zu einer Familie zurückkehren.

Wandergesellen dürfen nicht länger als drei Monate an einem Ort verweilen. Ihr Zeitkontingent in Basel haben Madeleine und Karl bald aufgebraucht. (Bild: Fanny Oppler)

Wie oft seid ihr mit eurer Familie und Freunden in Kontakt?

Madeleine: Ich versuche, meine Familie zweimal im Jahr zu sehen. Dazwischen telefonieren wir manchmal oder ich schicke Karten.

Karl: Ich habe meine Mutter am Anfang zweieinhalb Jahre nicht gesehen. Erst als ich sie dann wieder getroffen habe, habe ich gemerkt, wie sehr ich sie eigentlich vermisst hatte. Ich rufe zu Ostern oder Weihnachten zuhause an.

Wie haben eure Eltern reagiert, als ihr ihnen von euren Plänen erzählt habt?

Karl: Mein Vater konnte das gar nicht verstehen, aber er ist auch Amerikaner (lacht). Meine Mutter fands super, aber sie nahm es mir gleichzeitig auch übel, weil ich so lange weg sein würde.

Madeleine: Mamas sind so, die muss man immer bisschen beruhigen.

Frauen sind auf der Walz eher selten anzutreffen…

Madeleine: …und das ist auch nicht immer ganz leicht. Manche Typen fühlen sich in ihrer Ehre gekränkt, wenn auf dem Bau plötzlich eine Frau dazustösst. Dann markieren sie den Macker und machen blöde Sprüche. Am Anfang hat mich das gestört, mittlerweile stehe ich da drüber. Ich weiss, was meine Arbeit wert ist.

Karl: Diejenigen, die sich über die Frauen lustig machen, tragen meistens selber grosse Komplexe mit sich rum. Die muss man reden lassen, da hilft nichts.

Was macht ihr als erstes, wenn ihr wieder zuhause seid?

Karl: Ich grabe die Flasche Schnaps aus, die ich im Garten vergraben habe und mach mit Freunden erst mal einen drauf. Danach: Keine Ahnung.

Madeleine: Die Kleider loswerden. Schlafen.

Die Tradition der Wanderschaft oder Walz reicht zurück bis ins Mittelalter, als Handwerker ihren Sold als Wanderarbeiter auf verschiedenen Baustellen verdienten. In nachmittelalterlicher Zeit wurde die Wanderschaft fester Teil der Ausbildung und Voraussetzung für die Zulassung zur Meisterprüfung.
Dass nur Zimmerleute auf die Walz gehen, ist ein Irrglaube, tatsächlich gibt es etwa 30 verschiedene Handwerksberufe, deren Lehrlinge auf die Walz gehen. Die Walz dauert mindestens drei Jahre und einen Tag, während dieser Zeit darf der Geselle nicht näher als 50 Kilometer an seinen Heimatort herankommen. Alles, was der Reisende besitzt, muss in einem zum Bündel geknüpften Tuch, genannt Charlottenburger, Platz finden.

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