Die Life-Sciences-Forschung sieht er an einem schwierigen Punkt, die Basler Pharma sei aber nach wie vor stark – Gerd Folkers, Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrats (Swir), über eine Schweizer Traditionsindustrie im Wettbewerb mit China und dem Silicon Valley.
Gerd Folkers hetzt von einem Termin zum nächsten. Berlin–London–Berlin–Zürich zählt er an den Fingern ab, in gerade mal zehn Tagen. Im Entrecôte Café Fédéral vis-à-vis vom Bundeshaus hat er eben mit einer Ständerätin gesprochen, nun hat er Zeit für ein Interview. Zumindest für den Start, wir werden das Gespräch später im Zug nach Zürich weiterführen.
Der Pharmazeut hat noch einen Lehrstuhl an der ETH Zürich und amtet als Jurypräsident bei der Novartis Forschungsstiftung, doch zum Ende seiner Forscherkarriere hin hat der 63-Jährige noch einen ganz anderen Job gefasst: Als Präsident des Schweizerischen Wissenschafts- und Innovationsrats (Swir) ist er so etwas wie der Cheflobbyist für gute wissenschaftliche Rahmenbedingungen.
Folkers verbringt Stunden im Gespräch mit Politikern, manche mit mehr, manche mit weniger wissenschaftlichem Verständnis, und versucht ihnen klarzumachen, warum man die Unis stärken muss und wie man zu den ominösen Innovationen kommt, die für Wirtschafts- und Bildungspolitiker so verlockend glitzern und leuchten wie Goldnuggets in einem schlammigen Flussbett.
Eben darüber wollen wir reden: Wo sind sie bloss geblieben, die grossen Innovationen? Ist das Erfolgsmodell Pharmaforschung unterwegs aufs Abstellgleis? Sind die grossen Nuggets längst gefunden oder weggeschwemmt?
Herr Folkers, im Zusammenhang mit der Entwicklung neuer Medikamente macht das Wort vom «Innovationsstau» die Runde. Sehen Sie dieses Problem auch?
Ja, durchaus. Die Life-Sciences-Forschung ist an einem schwierigen Punkt angelangt. Sie hat die Vorstellung der Physik übernommen, dass man, einfach indem man die Auflösung erhöht und immer feinere Details betrachtet, auch das Funktionieren des Systems immer besser versteht. Man darf die Frage stellen, ob das für lebende Systeme tatsächlich auch so stimmt.
Wie die Pharma ihr Geschäft mit Scheininnovationen am Laufen hält.
Das hat aber lange ganz gut funktioniert, gerade für die Basler Pharma.
Ja, in den goldenen Jahren war die Pharmaforschung tatsächlich extrem erfolgreich. All die Wirkstoffe, die dem Schlüssel-Schloss-Prinzip folgen – ich bin auch nach wie vor regelrecht erschüttert, wie gut das immer wieder funktioniert hat.
Das müssen Sie als Pharmazeut natürlich sagen.
Natürlich. Aber wir haben wirklich bahnbrechende Erfolge erlebt, und zwar nicht allein bei den Heilmitteln. Nehmen Sie nur die Antibabypille. Vor 30 Jahren hätte ich auch noch gesagt: grossartiges Modell, kein Grund, daran etwas zu ändern. Heute sehe ich das ein wenig anders. Es lag ja auch ein wenig ein Fluch darin, wie erfolgreich sich diese Industrie aus der Chemie heraus entwickelt hat, wie sich diese Moleküle, die eigentlich als Farbstoffe oder Ähnliches gedacht waren, auf einmal auch als heilend erwiesen haben.
Inwiefern ein Fluch?
Weil sich so ein Paradigma etabliert hat, das heute wohl schlicht nicht mehr funktioniert bei komplexeren Krankheitsmechanismen. Dass man bloss ein exakt passendes Molekül zu finden braucht, um das entsprechende Problem im menschlichen Körper zu erledigen. Nun versucht man die Kehrtwende, indem man zum Beispiel an Methoden arbeitet, das Immunsystem zu stärken – oder es gewissermassen wachzurütteln, gegen einen Krebs vorzugehen.
«Es findet derzeit auf verschiedenen Ebenen ein Umdenken statt. Die grossen Firmen sind auf dem richtigen Weg.»
Wenn das Erfolgsmodell nicht mehr funktioniert: Steckt Big Pharma also in einer grundlegenden Krise? Muss sich Basel darauf einstellen, sein industrielles Rückgrat allmählich zu verlieren?
Nein, ganz bestimmt nicht. Es findet derzeit auf verschiedenen Ebenen ein Umdenken statt, die Forschung passt sich an – die grossen Firmen sind auf dem richtigen Weg. Was Basel ausgezeichnet hat, nämlich das exzellente wissenschaftliche Umfeld und die stabilen Rahmenbedingungen, wird auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung sein. Und man darf nicht vergessen, dass das nicht die erste schwierigere Zeit ist, die die Schweizer Pharmabranche meistert.
Woran denken Sie?
In den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als die industrielle Power vor allem aus den USA kam, musste das Geschäft globalisiert, Forschung und Produktion kompetitiv gemacht werden. Als Spätfolge davon begann man in den Neunzigern vor allem die ersten Schritte der Forschungsarbeit auszulagern, indem man diese besonders schwierige und riskante Phase Start-ups überliess – und sie einfach aufkaufte, sobald sich eine Herangehensweise oder eine Substanz als potenziell markttauglich erwies. Aber auch da sehe ich inzwischen wieder einen Wechsel in der Philosophie. Es wird wieder mehr Eigenentwicklungen geben, davon bin ich überzeugt.
Warum?
Weil wir es bei den aktuellen Gesundheitsproblemen eben mit hochkomplexen Systemen zu tun haben. Um Wege zu finden, auf diese Systeme einzuwirken – ohne zu viele Nebenwirkungen notabene –, kommt es mehr denn je auf die schiere Forschungspower an. Und mit der können nur noch die ganz grossen Firmen aufwarten.
«Einen Kontrahenten müssen die grossen Pharmafirmen tatsächlich fürchten: das Silicon Valley.»
Und wie sieht es mit den regulatorischen Rahmenbedingungen aus? Immer öfter ist zu hören, dass China der westlichen Forschung bald den Rang ablaufen könnte, etwa beim Genetical Engineering.
Da sehe ich keine wirkliche Gefahr. Es kann natürlich sein, dass grosse Schweizer Firmen auch in Forschungszentren in China investieren, wenn sich dort interessante Forschung machen lässt – da sind die Firmen durchaus opportunistisch. Aber die politische und juristische Sicherheit in der Schweiz werden bei der Standortfrage auch auf lange Sicht eine entscheidende Rolle spielen.
Also kein Grund zur Aufregung, Innovationsprobleme hin oder her? Basel und die Pharma – und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage?
Nicht ganz. Einen Kontrahenten müssen die grossen Pharmafirmen tatsächlich fürchten: das Silicon Valley. Die Versprechungen kratzen zwar immer am Grössenwahn, aber wenn die Verfahren, die da entwickelt werden, tatsächlich funktionieren, dann wird die ganze Gesundheitsbranche disruptiert, wie es heute ja so schön heisst.
«Das ist vielleicht auch eine Stärke von Basel: das Pflegen der Kontinuität, das Wissen um eine lange Tradition.»
Ein Uber-Effekt in der Pharma? Das könnte tatsächlich passieren?
Könnte. Aber eben nur, wenn die statistischen Methoden tatsächlich grundlegende neue Einsichten möglich machen. Wenn man aus puren Daten Korrelationen herausrechnen kann, die eine konkrete Bedeutung für die Behandlung von Krankheiten haben, dann wird das viel verändern. Und weil die Daten nun einmal in der Hand der grossen Digitalfirmen sind, könnte es dann auch für die grossen Player in der Pharma eng werden. Aber eben, noch sind das vor allem Versprechungen.
Spüren Sie diesbezüglich eine gewisse Nervosität in Basel?
Nein, momentan herrscht da noch eine grosse Gelassenheit. Man verfolgt die Entwicklungen mit Interesse, es würde mich auch nicht wundern, wenn die eine oder andere Forschungskollaboration mit Google und Konsorten am Laufen wäre, um möglichst genau mitzubekommen, was sich da tut. Aber das ist vielleicht auch eine Stärke von Basel: das Pflegen der Kontinuität, das Wissen um eine lange Tradition. Man lässt sich da nicht so leicht aus dem Konzept bringen.