Je weniger man ein Produkt braucht, desto mehr Marketing braucht das Produkt. Die Pharma-Riesen entwickeln kaum noch wirklich neue Medikamente. Stattdessen modifizieren sie Bestseller, deren Patent abläuft und forcieren die Vermarktung.
Es ist das ewige Mantra der Pharmaindustrie: Nur wenn sie laufend Milliarden in die Entwicklung neuer Wirkstoffe pumpt, kann sie wiederum Milliardenumsätze generieren. Getrieben von der unerbittlich rieselnden Sanduhr des Patentschutzes – nach zehn bis zwanzig Jahren ist auch mit dem besten Produkt kaum mehr Geld zu verdienen. Weil dann Generika auf den Markt kommen, überlebt die Branche nur durch Innovation, Innovation, Innovation.
Aber ist das wirklich so?
Schon vor bald zehn Jahren hat der Bremer Pharmakologe Peter Schönhöfer in einer Polemik gefragt, wie es zur «zunehmenden Innovationsunfähigkeit der pharmazeutischen Industrie» kommen konnte. Und er rechnete vor, dass zwischen 1990 und 2005 weltweit etwa 460 neue Wirkstoffe auf den Markt kamen, wovon «nur sieben echte Durchbrüche im Sinne neuer Behandlungsmöglichkeiten in der Breitenmedizin» gewesen seien und «etwa 420 (90 %) Scheininnovationen, die zwar die Therapie verteuern, aber nicht verbessern oder bereichern».
Scheininnovationen? Darunter verstehen Kritiker der Branche Medikamente, die nur so tun, als brächten sie eine Neuerung, die von Vorteil für den Patienten ist. Es gibt verschiedene Strategien, wie man zu solchen Scheininnovationen kommt – die beliebteste läuft unter dem Begriff «Me-too drugs». Solche Wirkstoffe sind Nachahmungen bereits zugelassener Arzneimittel, die sich nur unwesentlich von ihren Vorgängern unterscheiden, in einem kleinen molekularen Detail oder in der chemischen Struktur.
Neuer Stoff, alte Wirkung
Im Kulturbereich würde man von einem Selbstplagiat sprechen, hier aber wird, sobald die Sicherheit des neuen Moleküls festgestellt worden ist (und ein knackiger Name für die Pillenpackung gefunden), ein neuer Patentschutz gewährt – auch ohne dass der neue Wirkstoff gegenüber dem alten Vorteile hätte.
Ein Beispiel sind die beiden Präparate Nexium und Antra, die auf dieselbe Weise als Protonenpumpenhemmer wirken, beispielsweise gegen Magengeschwüre. Einziger Unterschied: Die Wirkstoff-Moleküle sind spiegelverkehrt aufgebaut. Antra war in den 1990er-Jahren ein Kassenschlager für AstraZeneca. Kurz nachdem das Patent im Jahr 2000 abgelaufen war, brachte die Firma Nexium auf den Markt.
Nicht immer sind solche «Me-too drugs» Mogelpackungen, kleine strukturelle Veränderungen können durchaus einen Unterschied machen, etwa beim Metabolismus, bei der Aufnahme des Stoffs im Verdauungstrakt oder bei der Dosierung. Fachleute sind sich aber einig, dass die Pharmafirmen das Verfahren gezielt ausnützen, um weit über die eigentlich geplante Schutzfrist hinaus schöne Umsätze zu erzielen.
Mitunter gelingt es der Industrie sogar, einen langsam abflauenden Absatz wieder anzukurbeln, indem sie ein neues (altes) Präparat auf den Markt wirft und mit einer entsprechenden Marketingkampagne begleitet, die eine Verbesserung der alten Rezeptur suggeriert. Man kennt das von Frühstücksflocken oder Süssgetränken, da wird das auch gerne gemacht.
Geld fliesst ins Marketing
Ohnehin stutzt man, wenn man sich ein wenig mit den Gepflogenheiten der Branche vertraut macht: Marketing – ist das nicht eigentlich etwas für Turnschuhe oder elektronische Gadgets? Medikamente sollten sich doch verkaufen, weil die Fachwelt ihren Nutzen erkennt und der sich herumspricht – viel Werbung wäre da doch gar nicht nötig?
Die Zahlen erzählen eine andere Geschichte: Tatsächlich haben im Jahr 2014 sämtliche grossen Pharmafirmen auf der Welt deutlich mehr für Marketing ausgegeben als für Forschung. Einzige Ausnahme (und Bestätigung der Regel) ist Roche, da halten sich die beiden Posten etwa die Waage.
Man könnte auch sagen, dass Big Pharma mehr Aufwand betreibt, um ein Medikament gut aussehen zu lassen, als ihm gute Eigenschaften zu verpassen auf der pharmakologischen Ebene.
Am erfolgreichsten wäre es natürlich, den neu zugelassenen Wirkstoff direkt bei den Patienten zu bewerben, die ihn dann bei den Ärzten einfordern – aber das ist in der Schweiz glücklicherweise verboten. Doch mit dem entsprechenden Aufwand schafft man es, ihn bei Ärzten als unumgänglichen Dernier Cri in der Behandlung einer Krankheit anzupreisen. Auch wenn die harten Daten oft keine bessere Wirkung zeigen als bei einem Mittel, das schon auf dem Markt ist.
Zur Zulassung reicht nämlich der Nachweis, dass ein Mittel mehr kann als ein Placebo – da kann es verglichen mit einem allfälligen Vorläufer sogar schlechter abschneiden. So werden regelmässig neue Blockbuster generiert, deren medizinischer Nutzen gleich null ist.
Etwas überspitzt könnte man sagen: Es ist umso mehr Marketing notwendig, je weniger man ein Produkt braucht. Dass richtig gutes Marketing Kaufanreize schafft, wo eigentlich gar keine wären. Und die Pharma weiss, wie richtig gutes Marketing geht – auch Ärzte lassen sich von den Kampagnen leicht blenden.
Die Marketingabteilungen der Pharmafirmen arbeiten auch auf der Ebene klinischer Forschung.
Die Methoden der Industrie sind so subtil wie raffiniert und gehen mitunter so weit, ehrliche Wissenschaft zu pervertieren. «Marketing Based Medicine» haben das zwei Forscher in einem kritischen Artikel im «Journal of Bioethical Inquiry» genannt – eine Abwandlung von «Evidence Based Medicine» (EBM), um die es eigentlich gehen würde: mit akribisch geführten Studien und einer gesunden Portion Skepsis den Nachweis erbringen, dass eine Behandlung wirklich wirkt. Oder oftmals eben auch: aufzeigen, dass sie keinen Nutzen bringt.
Die Marketingabteilungen der Pharmafirmen machen längst nicht nur Hochglanzwerbung. Sie arbeiten auch auf der Ebene klinischer Forschung, mit selbstfinanzierten Studien, mit Ghostwritern, mit gesponserten oder gleich selbst organisierten Konferenzen.
Denn auch sie wissen: Eine überzeugende Datenlage ist die beste Werbung, die ein Medikament bekommen kann. Und wenn die Daten nicht so überzeugend aussehen, dann gibt es allerlei statistische Tricks, um ein wenig nachzuhelfen. Solche halbseidenen Methoden sind in zahlreichen Fällen dokumentiert.
Kommen die Zeiten zurück, als effektive Medizin nur für Reiche verfügbar war?
Die Kritik an diesen Geschäftspraktiken wird lauter – sowohl aus dem Feld der unabhängigen Forschung als auch zunehmend von Seiten der Krankenkassen, die immer teurere Medikamente abgelten müssen. Jährliche Therapiekosten im sechsstelligen Bereich sind noch Einzelfälle, nehmen aber zu, gerade in der Krebsmedizin.
Kann die Gesellschaft sich das leisten? Und umgekehrt: Könnte sie es sich denn leisten, eine wirkungsvolle Therapie nicht zu finanzieren? Erste Fälle gibt es, bei denen die Kassen die horrenden Kosten für Medikamente nicht übernehmen wollen – der Patient muss dann selber schauen, ob und wie er zum Heilmittel kommt. Kommen die Zeiten zurück, als effektive Medizin nur für Reiche verfügbar war und sich alle anderen mit einer Basis-Behandlung begnügen mussten?
Ein Medikament, das bestenfalls ein paar Wochen eingenommen werden muss, wird kaum zu einem Blockbuster.
Apropos Basis-Medizin: Gerade die therapeutischen Felder, in denen Innovationen den grössten Nutzen bringen könnten, sind für eine marketing-zentrierte Business-Philosophie wenig interessant. Antibiotika zum Beispiel: Immer wieder als Vorzeigebeispiel der Innovationsfähigkeit der Industrie genannt (auch in der aktuellen Ausstellung «Wirk.Stoffe» im Historischen Museum Basel wird das Beispiel Penicillin breit thematisiert), sind sie unterdessen zum echten Sorgenkind der Forschung geworden.
Ein wirksames neues Antibiotikum würde zwar mit Sicherheit einen guten Absatz versprechen, doch paradoxerweise steht dem Business gerade die Wirksamkeit im Weg: Ein Medikament, das bestenfalls ein paar Wochen eingenommen werden muss, wird kaum zu einem echten Blockbuster. Die Pharmafirmen setzen da lieber auf «chronische» als auf «akute» Pillen, am liebsten auf solche, die über Monate oder Jahre eingenommen werden müssen. Und so sind die Anreize für die privaten milliardenschweren Forschungslabors oft gering, sich um die akutesten Probleme zu kümmern.
Auch die Weltgesundheitsorganisation WHO ist diesbezüglich in Sorge. Kees de Joncheere, Verantwortlicher für die sogenannt unentbehrlichen Arzneimittel (Wirkstoffe, die benötigt werden, um die dringlichste medizinischen Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten), meinte 2014 gegenüber BBC, das System habe früher gut funktioniert, um bedeutende Wirkstoffe zu entwickeln. Doch in den letzten zehn bis zwanzig Jahren habe es nur sehr wenige Durchbrüche bei den Innovationen gegeben. Und auch er meint, dass «von den vielleicht 20 oder 30 neuen Medikamenten, die jedes Jahr auf den Markt kommen, üblicherweise gerade mal drei eine wirkliche Neuerung und einen echten Nutzen für den Patienten darstellen».
Das Umdenken hat eingesetzt
Was diesen Innovationsstau verursacht, ist umstritten. Manche sind schlicht der Überzeugung, dass die «Low hanging fruits» alle abgeerntet sind und man sich für die Entwicklung interessanter Wirkstoffe immer mehr strecken muss.
Andere Kritiker sehen eine fatale Umorganisation der Branche als Grund, die es versäumt habe, ihre Forschungsabteilungen auf die Herausforderungen unserer Zeit einzustellen, und sich stattdessen viel zu sehr auf das einfache Geld von Scheininnovationen ausgerichtet habe. Das räche sich nun, da die Branche nur mehr vereinzelt mit Blockbustern aus den eigenen Forschungslaboren aufwarten könne.
Inzwischen scheint in der Branche allerdings ein Umdenken eingesetzt zu haben, die Forschungsabteilungen werden wieder gestärkt. Aber die medizinischen Herausforderungen werden nicht kleiner – bei Alzheimer zum Beispiel geht kaum mehr jemand davon aus, dass eine einzelne Zauberpille die Heilung bringen könnte.
Womöglich ist die Zeit der grossen Blockbuster überhaupt vorbei, wenn tatsächlich eine personalisiertere Medizin vor der Tür steht und der Markt zusehends fragmentiert wird. Dann käme nach der Zeit der Scheininnovationen eine der Kleininnovationen.