Emel Mathlouthi: «Uns blieb nur der Untergrund»

Während der Jasminrevolution wurde sie in Tunesien zur Symbolfigur der Jugend. Heute ist Emel Mathlouthi ein Role-Model für Künstlerinnen mit arabischen Wurzeln. Wir haben mit ihr über ihre Rolle beim Sturz des Ben-Ali-Regimes, ihre aktuellen Songs und die alte Heimat nach den Anschlägen gesprochen.

Eine Sängerin mit vielfältigen Einflüssen: Emel Mathlouthi.

(Bild: Sylvain Gelineau)

Emel Mathlouthi war einst Leadsängerin einer Metalband. Heute vermischen sich in ihrer Musik arabische Wurzeln, Rock und Elektro. Im Interview erzählt sie, wie es zum Wandel kam – und wie der politische Wandel in ihrem Heimatland Tunesien sie beeinflusste.

Während der Jasminrevolution wurde sie in ihrer Heimat Tunesien zur Symbolfigur der Jugend. Heute steht Emel Mathlouthi an der Spitze der selbstbestimmten Künstlerinnen mit arabischen Wurzeln. Während in ihrer Heimat Terrorattacken die Demokratisierung bedrohen, hat sich die einstige Rebellin in Paris und New York ein neues Leben geschaffen, will über Tunesien gar nicht mehr viel sprechen. Am «Stimmen»-Festival eröffnet sie die Konzertreihe im Rosenfelspark. Wir haben mit ihr über ihre Rolle beim Sturz des Ben-Ali-Regimes, ihre aktuellen Songs und die alte Heimat nach den Anschlägen gesprochen.

 

Emel Mathlouthi, in Ihrer Musik begegnen sich arabische Stile, Rock und elektronische Musik. Was waren Ihre ersten musikalischen Einflüsse?



Mathlouthi: Von klein auf habe ich die arabische Musik durch ganz verschiedene Interpreten entdeckt. Ich mochte Cheikh El Afrit, einen jüdisch-tunesischen Künstler aus den 1930ern, der sehr frei über Liebe, Beziehungen und Sexualität sprach. Ausserdem hörte ich Cheikh Imam, einen Vorläufer des engagierten ägyptischen Chansons, auch den Erneuerer der libanesischen Musik Marcel Khalifé. Es ging bei diesen Interpreten immer um Rebellentum, um die Probleme der Gesellschaft. Die rein klassische arabische Musik dagegen war nie mein Ding.



«Die Regierung hat die Initiativen der Jugend ignoriert und war so dumm, zu glauben, dass wir keinen Einfluss hätten.»

Man kennt hierzulande die tunesische Musik eher durch Jazzer wie Anouar Brahem oder Dhafer Youssef. Ihr Stil ist ein ganz anderer, rockorientierter. Man sieht Sie im Internet sogar mit einem Cover von Rammstein. 



Meine erste Band an der Uni, so um 2000 herum, war eine Metalband, und ich war in diesem Umfeld eine der ersten Sängerinnen überhaupt. Danach habe ich mich entschieden, Gitarre zu lernen und kritische Texte zu schreiben, auch da war ich als Frau eher die Ausnahme. Ich habe alte Musik von der arabischen Laute auf die Gitarre übertragen, so konnte ich zwei Generationen versöhnen. Revolte und Freiheit, das waren meine Themen, und ich habe in meiner Poesie keine gedrechselten Worte verwendet, meine Sprache war sehr spontan. Es fiel den Journalisten und dem Publikum nicht leicht, das zu akzeptieren. Was Rammstein angeht: Eine ganze rockbegeisterte Generation hat die in Tunesien gehört. Was uns mit Deutschland verbindet, ist eine Sprache, die schwierig zu populärer Musik zu setzen ist. Bei Rammstein finde ich eine Sensibilität, die mich sehr berührt. Gerade im Song «Frühling in Paris», der auch eine Hommage an meine neue Heimat ist. 


Ich kann mir vorstellen, dass Sie mit Ihrer Einstellung unter dem Ben-Ali-Regime Probleme bekommen haben …

Die Regierung hat damals die Initiativen der Jugend ignoriert, ohne sie zu bedrohen oder ins Gefängnis zu stecken, war aber zugleich so dumm, zu glauben, dass wir auf die tunesische Gesellschaft keinen Einfluss hätten. Dabei haben wir letztendlich geholfen, das Regime zu stürzen. Die grössten Zwänge bestanden für uns darin, keinerlei Unterstützung zu bekommen, weder finanziell noch moralisch. Wir hatten keine Instrumente, keine Übungsräume, keine Strukturen, keinen Zugang zu professionellen Karrieren. Uns blieb nur der Untergrund. Doch ich glaubte an mich, und ich war verrückt genug, meinen Weg in Frankreich weiterzugehen, wo es genug Rückhalt gab, um an meinem Debütalbum zu arbeiten und Auftritte in kleinen Clubs zu bekommen. Gleichzeitig wollte ich in Tunesien immer präsent bleiben mit meiner Arbeit und habe die Franzosen aufgefordert, das Regime zu boykottieren und den Aufstand zu unterstützen.

«Das erste Album habe ich quasi mit den Tränen einer Emigrantin geschrieben.»

Als 2011 der Diktator entmachtet wurde, haben Sie auf der Avenue Bourguiba in Tunis das Lied «Kelmti Horra» («Meine Rede ist frei») angestimmt. Auf YouTube kann man sehen, wie Sie da in einem leuchtend roten Mantel mit einer Kerze in der Hand stehen und für Meinungsfreiheit singen. Was ging in diesem Moment in Ihrem Kopf vor?



Wir fanden uns an diesem Tag im Januar 2011 auf der Avenue ein, um den Märtyrern der Revolution unseren Respekt zu erweisen. Ich hatte keinerlei Ahnung, was geschehen würde. Einige Leute dort ermutigten mich, das Lied zu singen. Es hat viele Leute begleitet während ihres Kampfes ums Überleben, hat ihnen Hoffnung gegeben, gerade Künstlern und Schauspielern. Ich bin also aufgestanden, obwohl ich grosse Angst hatte, aber ich habe aus vollem Herzen gesungen. Heute bin ich natürlich glücklich, dass das Lied diesen grossen Tag erleben durfte.

Ihr Debütalbum war geprägt von melancholischen Melodien, die mit fast kalten Industrialkängen kombiniert wurden. Wie unterscheidet sich davon die neue Platte, die Sie in Lörrach vorstellen werden?



Das erste Album habe ich quasi mit den Tränen einer Emigrantin geschrieben, denn ich war sehr traurig, dass ich meine Leute in Tunesien in einer so schwierigen Lage zurücklassen musste. Meine neue Arbeit entstand unter anderen Voraussetzungen: Ich habe an sieben Orten produziert, von den Sevennen über New York bis Reykjavík. Es war mir ein Anliegen, durch verschiedene Produzenten verschiedene Farben einzufangen. Die rhythmische Basis besteht aus arabischen und afrikanischen Rhythmen und Perkussion, die wir dann durch einen Computer geschleust haben, um Elektro-Beats zu kreieren. Ich habe auch sehr viel mit der Stimme experimentiert und sie durch Effekte verändert.



Sind die Texte beeinflusst durch die jüngeren Ereignisse in Ihrer alten Heimat?



Ich verbringe nicht mehr viel Zeit in Tunesien. Auf diesem zweiten Album sind die Lyrics literarischer, abstrakter. Es sind Improvisationen über Worte, reine Poesie, es geht um die Suche nach sich selbst, nach der Identität. Ein paar Songs drehen sich noch um die Aktualitäten in der arabischen Welt, um die Leute, die unter Bombardements leiden müssen, Kinder, die in Massakern sterben. Der Rest ist eher persönlich, taucht in die Seele, in die Psyche ein.  



«Ich habe noch keine einzige politische Partei in Tunesien gesehen, die ein Programm zur Kulturarbeit hätte.»

Wie nehmen Sie die aktuellen Veränderungen in Tunesien wahr? Gibt es noch die Aufbruchstimmung von damals, hat sich für die Künstler etwas bewegt? Oder droht nach den Attentaten in Tunis und Sousse ein Rückfall, nachdem nun auch vorübergehend der Ausnahmezustand verhängt wurde?



Wie ich schon sagte, ich kann das nur aus der Ferne beurteilen. Nach allem, was ich beobachten kann, haben die Anschläge keine dramatischen Auswirkungen auf die Gesellschaft. In Tunis gibt es immer mehr junge Leute, die kreativ sind, Festivals und Projekte auf die Beine stellen, die vielversprechend sind. Auf dem Land ist natürlich noch nicht viel von der Kultur angekommen. Dort würde ich gerne mitarbeiten, Workshops aufbauen in den entlegenen, armen Regionen. Denn von Regierungsebene fliessen wie früher keinerlei Gelder für kulturelle Belange.



Trotz des Wahlsieges der säkularen Koalition über die islamistische Ennahda-Partei?



Das ist eher eine Frage der Mentalität. Ich habe noch keine einzige politische Partei in Tunesien gesehen, die ein Programm zur Kulturarbeit hätte. Das sind immer dieselben Cliquen, die zuständig sind für Subventionen und keine Ahnung von Kunst haben. Die Veränderungen müssen die Künstler selbst herbeiführen. Wir brauchen also mehr junge Leute in den Ministerien, die am Puls der Zeit sind, über Verbindungen zur Szene verfügen und Visionen haben. 


Was können Sie da von Ihren neuen Standorten Paris und New York aus bewegen?



Es ist nicht wichtig, ob ich in Tunesien oder im Ausland bin. Das Wesentliche ist, dass ich den Weg, den ich angefangen habe, weitergehe, dass ich eine lebendige Zeugin bleibe, die keine Angst hat und nicht nur das beobachtet, was in Tunesien, sondern auch in der Welt vor sich geht. Denn Tunesierin zu sein, bedeutet auch, ein Teil der Welt zu sein. Dadurch, dass ich reise, singe ich überall von unserer Geschichte, aber ich kreiere mit meiner modernen Musik auch eine Brücke zwischen der tunesischen Jugend und der anderer Völker und ihrer Situation. 


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Emel Mathlouthi spielt am «Stimmen»-Festival am Dienstag, 21. Juli, 20 Uhr.

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