«Er war der grösste Schweizer Realist des 20. Jahrhunderts»

Friedrich Glauser (1896–1938) führte ein verrücktes Leben und schuf zeitlose Literatur. Schriftsteller Hansjörg Schneider hat sich intensiv damit beschäftigt.

Oft eingesperrt, diente das Schreiben als Befreiungsschlag: Friedrich Glauser (Bild: Filmcoopi/Verleih)

Friedrich Glauser (1896–1938) führte ein verrücktes Leben und schuf zeitlose Literatur. Schriftsteller Hansjörg Schneider hat sich intensiv damit beschäftigt.

Ein filmreifes Leben: Friedrich Glauser, Sohn einer Österreicherin und eines Schweizers, kam 1896 zur Welt. Als er vier Jahre alt war, starb seine Mutter. Der Junge wurde herumgeschoben, abgeschoben, später eingeliefert, immer wieder. Er schlug sich als Fremdenlegionär, Morphinist, Gärtner, Irrenhäusler durchs Leben. Und er schrieb. Denn dieser Friedrich Glauser war vor allem ein grosser Schriftsteller. Seine Bücher wie «Der Chinese» oder «Matto regiert» und sein Wachtmeister Studer: Klassiker.

Zu Glausers Bewunderern gehört Hansjörg Schneider. Im Kinofilm von Christoph Kühn, der Leben und Werk von Glauser Revue passieren lässt, schwärmt der Basler Schriftsteller: «Glauser hat mit den Augen geschrieben.» Das könnte man auch über Schneider sagen. Anlass für ein Gespräch über Hunkeler und Studer, über Glauser und Kritiker, über Schweizer Krimis und deren Bedeutung.

Hansjörg Schneider.

Hansjörg Schneider. (Bild: Keystone)

Hansjörg Schneider, als Friedrich Glauser 1938 starb, kamen Sie gerade zur Welt. Sind Sie mit seiner Literatur aufgewachsen?

Nein, dem Namen Glauser bin ich erst begegnet, als ich 1958 nach Basel kam, um Germanistik zu studieren. Hier kam mir zu Ohren, dass es mal einen «wilden Siech» gegeben habe, der in der Fremdenlegion gewesen sei und Krimis schrieb.

Also kauften Sie sich in der nächsten Buchhandlung ein Buch von Glauser?

Das hätte ich gerne. Aber Glausers Bücher waren vergriffen. Erst Jahre später, als ich auf einer Fahrt ins Emmental einen Halt einlegte, fiel mir in einem Brockenhaus «Matto regiert» in die Hände. Ich las den Krimi. Später, um 1970, brachte ein Freund von mir – der Journalist Hugo Leber – Glausers Bücher neu heraus. Ich verschlang sie alle und wurde zum Fan.

Das sind Sie bis heute geblieben?

Ja. Glauser ist ein grossartiger Autor, seine Texte sind ergreifend. Und, was phänomenal ist an seinen Büchern: Sie werden nicht alt.

Warum? Weil er so genau beobachtet hat?

Ja, schon. Glauser ist für mich der grösste Schweizer Realist des 20. Jahrhunderts. Er fasziniert mit seiner scheinbar unpoetischen Literatur. Seine Kenntnisse der Menschen, wie er die Welt durchschaute und die dunklen Seiten aufzeigte, all das ist zeitlos grossartig. Dass es sich dabei um Kriminalromane handelt, ist für mich nebensächlich. Das Gleiche gilt für Dürrenmatt: Abgesehen vom «Besuch der alten Dame» haben dessen Theaterstücke die Zeit nicht gut überstanden. Dürrenmatts Prosa aber, zum Beispiel «Das Versprechen» oder «Der Verdacht», ist heute noch phänomenal. Wie bei Glauser kommt alles scheinbar einfach daher, als wäre es Alltagsliteratur. Im Vergleich dazu wirken die Bücher von Max Frisch ziemlich verstaubt.

Dennoch wird Glauser nie im gleichen Atemzug genannt.

Was ich sehr bedaure. Er hat halt nicht im vordergründigen Sinn Kunst gemacht. Und er passte den Intellektuellen deshalb nicht. Als ich studierte, war Glausers Werk kein Thema, stattdessen rieb man uns anderes unter die Nase, Meinrad Inglin etwa. Ihn sollten wir verehren, hiess es, er sei ein Jahrhundertautor. Aber wer liest heutzutage noch Inglin, ausserhalb der Innerschweiz? Dieser schrieb am Ende ja immer, dass die Obrigkeiten recht hatten, biederte sich so bei der Aristokratie an – und damit auch bei den einflussreichen Professoren und Zürcher Feuilletonchefs. Glauser tat das Gegenteil, er wühlte im Dreck, war unbequem.

Und fand doch sein Publikum. Die Geschichten mit Wachtmeister Studer wurden mit Heinrich Gretler verfilmt und populär.

Aber das half ihm nicht, bei der grossbürgerlichen Literaturkritik in Zürich anzukommen. Diese bestimmte damals, was gut war und was nicht. In diesen Kreisen war auch Robert Walser nicht sehr beliebt – ausgerechnet jene zwei Weltklasse-Autoren, die die Schweiz in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hatte. Der berühmte Zürcher Literaturwissenschaftler Emil Staiger fragte einmal abschätzig: «In welchen Kreisen verkehren diese Leute?»

Mitten im Leben.

Ja. Und genau das gefällt mir so an Glauser: Seine Geschichten sind nah am sogenannt einfachen Volk, sie spielen bei den kleinen Leuten, in einem Milieu, in dem auch ich mich heimisch fühle.

Ein Milieu, in dem sich auch Ihr Kommissär Hunkeler oft bewegt. Wer steht eigentlich wem näher: Schneider dem Glauser oder Studer dem Hunkeler?

(lacht und winkt ab) Der Studer ist der Studer. Ich wüsste jetzt nicht, was dieser mit dem Hunkeler zu tun haben soll. Beide sind zwei verschiedenen Köpfen entsprungen. Glauser führte ja auch ein ganz anderes Leben als ich. Ich wuchs wohlbehütet auf, habe studiert, dann geheiratet und zwei Kinder mit aufgezogen. Natürlich, ich habe mir Glauser als Autor zu meinem Freund auserkoren. Davon weiss dieser aber nichts.

Dennoch sind Parallelen auszumachen, auch Sie schreiben mit den Augen, auch Ihr Hunkeler ist ein gütiger Kommissar. Hat Sie Glauser inspiriert?

Ob mich dieser gross beeinflusst hat, weiss ich nicht. Das ist Theorie. Man muss ja selbst erfinden, wenn man schreibt, sonst ist es nichts wert. Aber klar, man kann da eine Kontinuität herauslesen, wenn man Kommissare wie Simenons Maigret, Dürrenmatts Bärlach und Glausers Studer mit meinem Hunkeler vergleicht; es sind alles ältere, melancholische Männer und nicht taffe, schneidige Polizisten.

Auch Glausers eigene Biografie scheint voller Dramatik. Ein Traumatisierter, der vom Vater pathologisiert und verstossen wurde.

Das hat was, ja. Glauser versuchte einmal, eine Autobiografie zu schreiben. Der Anfang heisst «Mensch im Zwielicht», darin beschreibt er die zwei Pole seiner Kindheit: Die Mutter stand für Liebe, für Wärme, Zärtlichkeit und Fantasie. Sein Vater verkörperte das Gegenteil. Seine Mutter starb, als er sehr jung war, was für ihn ein Schlüsselerlebnis war. Das war bei mir ziemlich ähnlich.

Inwiefern?

Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, wie die Rollenverteilung damals aussah: Die Frauen hatten zu jener Zeit, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, absolut nichts zu sagen. Die Männer befahlen, schrien und schlugen auch mal drein. Für die Männer von damals, sei es mein Vater oder die Lehrer, schien ein Bub in erster Linie mal frech, dumm und blöd zu sein. Und den musste man daher einfach mal …

… disziplinieren?

Jawohl. Die Frauen fanden einen herzig, waren lieb. Die schlugen nicht. Das Muster von Glauser fand sich bei vielen Kindern dieser Zeit. Man kann nun behaupten, er habe die Liebe und die Zärtlichkeit sein Leben lang gesucht. Aber ich würde den Glauser nicht dermassen psychologisieren. Man darf nicht vergessen, dass er schon sehr früh ein Morphinist, ein Lügner und ein Dieb war. Er machte alles, was Gott verboten hat, um einigermassen durchzukommen. Zum Glück ist er dann einem Psychiater in die Hände gelaufen, der ihm auf die Beine half. Daraufhin begann Glauser richtig zu schreiben.

Und doch kam er von seiner Abhängigkeit nicht los. Er schrieb einmal: «Ohne Opium wird man den eigenen Sachen gegenüber so kritisch eingestellt.» Dann beschleiche ihn das Gefühl, er schreibe wie ein Gymnasiast. Er war wohl sehr unsicher.

(Verwirft die Hände) Ach, wer hat schon keine Selbstzweifel? Mir scheint, das wird überbewertet. Natürlich, er war süchtig. Und ich kenne die Wirkung von Opium nicht. Aber er war auch ein unglaublich fleissiger Schreiber. Ich bin überzeugt, dass er wusste, was er leistete. Er stellte sein Licht immer unter den Scheffel und war bescheiden. Aber er muss gewusst haben, was er leistete.

Und schien doch darunter zu leiden, dass er nicht akzeptiert wurde. Er träumte immer vom ganz grossen Roman.

Das muss man aber auch relativieren: Glausers Bücher wurden Ende der 1930er-Jahre in für diese Zeit sehr hohen Auflagen gedruckt, zehntausend Exemplare und mehr. Natürlich gab es da auch einige Kollegen, die eifersüchtig waren und ihm den Erfolg übel nahmen. Er war nie Teil dieses Literaturkuchens, ging seinen eigenen Weg.

Haben Sie selbst auch Ressentiments erlebt?

Ja, aber das ist normal. Die echten Kollegen gratulierten mir immer. Peter Bichsel etwa sagte mir einmal: «Dein letzter Hunkeler ist so gut wie ein Glauser.» Das fand ich ein wunderschönes Kompliment. Er hat es eben nicht nötig, neidisch zu sein. Andere sagen mir hingegen: «Hör endlich auf mit den Krimis!»

Immerhin werden Kriminalromane heute im Literaturbetrieb stärker wertgeschätzt als noch zu Glausers Zeiten, nicht wahr?

Leider nein. Und das, obschon ein wichtiger Teil der grossen Schweizer Literatur Krimis sind, denken wir eben nur an Dürrenmatt oder Glauser. Für mich ist selbst Dostojewskis «Schuld und Sühne» ein Krimi – und zugleich einer der besten Romane, die je geschrieben wurden. Ich mache da keine Unterschiede, für mich gibt es einfach spannende und langweilige Literatur. Die Kritik aber tut sich noch immer schwer mit Krimis: Von meinen acht Hunkeler-Büchern wurde jedenfalls noch keines im Literaturclub des Schweizer Fernsehens diskutiert. Auch auf die Short List des Schweizer Buchpreises hat es keiner geschafft. Aber ich habe mich längst daran gewöhnt und lebe gut ausserhalb dieses Literaturbetriebs. Glauser ging es wohl gleich.

Was Sie ebenfalls mit Glauser verbindet: Auch er kürte Basel zur Wahlheimat. So arbeitete er eine Zeit lang als Handlanger in einer Liestaler Gärtnerei. Und kam 1938 in die Klinik Friedmatt zu einer Entziehungskur. Vergeblich versuchte er hier auch seine langjährige Partnerin Berthe Bendel zu heiraten.

Ja, eine verrückte Geschichte. Bendel war Deutsche. Und zu dieser Zeit hätte sie Glauser nur heiraten können, wenn sie einen Ariernachweis vorlegte. Doch diesen zu beschaffen, war ein mühsames Unterfangen. Weshalb die beiden nach Nervi reisten, bei Genua – denn im faschistischen Italien wäre es einfacher gewesen zu heiraten. Einen Tag vor der Hochzeit fiel Glauser ins Koma. Und wachte nicht mehr auf.

Im Film wird suggeriert, dass sein Tod die letzte Flucht war. Die Flucht vor der grossen Bindung.

Ja, darüber wird viel gerätselt. Eine Mutmassung, die in meinen Augen zur Mythologisierung gehört.

Wie erklären denn Sie sich seinen frühen Tod? Er starb 42-jährig.

Glauser hatte zuvor schon Schwächeanfälle. Er führte kein gesundes Leben, war nicht nur Morphinist, er rauchte auch wie ein Schlot und trank gerne. Dann schrieb er auch noch bis zu 14 Stunden am Tag. Ich glaube, er lebte einfach so intensiv, dass sein Herz nicht mehr mithalten konnte.

Eine verrückte Geschichte, die jetzt verfilmt worden ist.

Was mich freut. Es existiert ja noch immer wenig Sekundärliteratur über Glauser, er wird unterschätzt – so wie zwei weitere Zeitgenossen, der Schaffhauser Jakob Bührer und der Berner Carl Albert Loosli. Diese Autoren sind vergessen und unter den Teppich gewischt worden. Ich musste sie auf schwierigen Umwegen entdecken. Daher ist es grossartig, dass jetzt dieser Film erscheint. So wird Glauser einer neuen Generation bekannt gemacht.

«Glauser», der Film von Christoph Kühn, läuft im Kult.Kino Camera, Basel.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06/01/12

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