Mit Aufgaben wie Impfen und Diagnostik stehen die Apotheker in der Schweizer Grundversorgung neu stärker in der Pflicht. Dieser Schritt sei richtig, sagt Christoph Meier, Chef-Pharmazeut der Uni Basel. Sorgen macht ihm vor allem die allgemeine Kostenentwicklung im Gesundheitssektor.
Herr Meier, seit Anfang Jahr sind die Apotheker gesetzlich stärker in der Pflicht, die medizinische Beratung und Betreuung des Patienten sicherzustellen. Nur: Wie kommt der Apotheker mit einem beratungsresistenten Patienten wie mir klar, der ohne grosses Gerede Aspirin oder ein Antiallergikum kaufen will?
Christoph Meier: Das ist ein wichtiger Punkt. Ich habe es selbst tausende Male erlebt, dass gut gemeinte Ratschläge oder Tipps beim Patienten gar nicht erst ankommen. Die Beratung ist eine Gratwanderung zwischen Überforderung des Patienten und Unterinformation, was uns wiederum auch angreifbar und haftbar machen kann. Es ist die grosse Kunst zu erkennen, was wirklich wichtig ist – und damit auch den Patienten und seine Bedürfnisse zu erfassen. Die zunehmende Reizüberflutung der Menschen ist dabei natürlich auch nicht gerade dienlich, wir werden ja konstant mit Informationen bombardiert. Dann kommt noch der Apotheker und will einem wichtige Informationen geben, wenn ich doch nur mein bestimmtes Produkt oder meine bestimmte Dienstleistung haben will. Das gleiche Problem hat die Ärzteschaft übrigens zunehmend auch.
Und wie schaffen Sie den Spagat zwischen Heilmittelverkäufer und Grundversorger?
Die Apotheker haben das alles schon vor der Revision getan. Mit der Definition des Berufsinhaltes über das Medizinalberufegesetz übernehmen wir nun aber auch ganz klar die rechtliche Verantwortung. Man gibt da nicht nur einen guten Tipp ab, den der Patient entgegennehmen kann oder nicht. Denn mit einer entsprechenden Verordnung wird man haftbar, wenn etwas schief geht oder nicht funktioniert. Die Schweiz hat diesbezüglich glücklicherweise eine pragmatischere Haltung als etwa die USA, die über eine ausgeprägte Juristen- und Prozessmentalität verfügt. Für uns ist in erster Linie also die gesetzliche Verankerung neu. Damit werden wir jetzt erste Erfahrungen sammeln müssen. Aber unter dem Strich ist es ganz gut, dass die Beratungstätigkeit aus der gesetzlichen Grauzone gehoben wurde und jetzt entsprechend anerkannt wird.
Es handelt sich dabei vor allem um ein traditionell ländliches Phänomen, während in den Städten die Zusammenarbeit aufgrund der Dichte zu funktionieren scheint. Was heisst das für die Grundversorgung, die für Stadt und Land gleich gelten soll?
Wenn angesichts einer geringen Bevölkerungsdichte keine Apotheke in akzeptabler Nähe ist, macht es keinen Sinn, wenn der Arzt einer 80-Jährigen ein Rezept ausstellt, für das sie ins Postauto sitzen muss und in den entfernten Ortskern oder die nächstgrössere Ortschaft reisen muss, um es einzulösen. Das ist auch bei den Apothekern unbestritten. Gerade Kantone in der Ost- und Zentralschweiz sind deshalb klassische Hochburgen der Selbstdispensation.
Also Ortschaften ab vom Schuss.
Es gibt auch negative Auswüchse bis in die Stadt Zürich hinein und zwar aus rein monetären Gründen, obwohl es in Zürich praktisch rund um die Uhr ein hervorragendes Angebot an Apotheken gibt. Tatsache ist: Wo ein Arzt die Medikamente selbst verkauft, hat ein Apotheker praktisch keine Chance, Fuss zu fassen. Aber wenn es umgekehrt keine Apotheke gibt, hat der Patient auch keine Chance, seine leichten Befindlichkeitsstörungen einfach und ohne grosse Umstände zu behandeln. Das ist ein Vorwurf an das Modell der Selbstdispensation, den auch Gesundheitsökonomen machen: Es braucht die Apotheke als niederschwellige Anlaufstelle. Das senkt insgesamt die Kosten, der Patient bezahlt das Medikament oft selbst und entlastet damit wiederum die Krankenkassen, was im OTC-Bereich (Over The Counter: rezeptfreie Medikamente) absolut sinnvoll ist.
Die Margen auf den Medikamenten sind doch längst nicht mehr so hoch, dass eine ernsthafte Bereicherung stattfinden könnte.
Klar, es gab Fälle, in denen die Selbstdispensation auf die Spitze getrieben worden war. Generell können wir aber nicht von einer Bereicherung sprechen. Einige Ärzte stellen sich auch auf den Standpunkt, dass es ihnen lieber sei, Medikamente unkompliziert selbst abzugeben, als dass bei Einlösung eines Rezepts dann ein umständlicher Anruf mit Rückfragen aus der Apotheke komme. Wobei auch in so einem Fall nicht sichergestellt ist, dass der Patient das Medikament ordnungsgemäss einnimmt, wenn überhaupt. Insgesamt geht es aber durchaus um eine Verdienstmöglichkeit, bei der man dann lieber mal etwas mehr Medikamente abgibt, so im Stil von «nützts nüt, schadts nüt». Bei den Apotheken ist das anders: Hier spielt es keine Rolle, ob einer ein begnadeter Verkäufer ist oder nicht. Man gibt, was nötig ist, weil es der Patient auch selbst bezahlt und nicht die Krankenkasse, wie bei den verschriebenen Medikamenten.
Und der Patient zwischen den Fronten?
Die Patienten bekommen erstaunlich wenig davon mit. Die Hauptauswirkung für Patienten ist die: Wenn der Arzt das Medikament verschreibt, übernimmt es die Kasse. Wenn man es in der Apotheke auf eigene Faust kauft, bezahlt man es selbst. Der Patient will eine schnelle, saubere, gute und bezahlbare Lösung. Die wenigsten interessiert, wer wie viel womit verdient. Es ist auch nicht die Aufgabe der Patienten, so weit zu denken. Jeder will eine möglichst gute Leistung für die Prämien, die er bezahlt, und dafür habe ich vollstes Verständnis. Am Schluss überwiegt immer der Convenience-Gedanke, also die Annehmlichkeit. Je niederschwelliger die Versorgung, desto besser.
«Man muss nicht mehr zwingend mehrere Tage auf einen Termin in einer Arztpraxis warten.»
Dem kommt der Gesetzgeber entgegen, indem er die niederschwellige Versorgung durch die Apotheken fördert. Was heisst das für den Patienten?
Die Patienten dürfen sich darüber freuen, dass die jungen Apothekerinnen und Apotheker noch stärker und strukturierter darauf ausgebildet werden und auch sehr hohe Ansprüche in der Fort- und Weiterbildungspflicht erfüllen müssen. Die neue Generation wird vermehrt auch in komplexen und teilweise strittigen Fällen Verantwortung übernehmen und Lösungen bieten können. Man muss also nicht mehr zwingend mehrere Tage auf einen Termin in einer Arztpraxis warten, sondern kann eine erste Konsultation dann wahrnehmen, wenn es einem passt. Der gesetzliche Druck ist da: Wir müssen diese Dienstleistung anbieten und das auf garantiert hohem Niveau und dokumentiert. Das führt zu einem bezahlbaren, schnellen und niederschwelligen Angebot.
Dann sind da aber noch die Kosten für die Medikamente. Kaufe ich sie in der Apotheke, bezahle ich sie selbst. Verschreibt sie mir die Hausärztin, zahlt die Kasse.
Ja, das ist ein wunder Punkt. Vor allem bei den hohen Franchisen ist das ein Thema. Da gibt es Stimmen, die fordern, dass die Apotheke das über die Kasse abrechnen kann. Der Berufsverband pharmasuisse ist da aber sehr zurückhaltend. Klar, man hat auch Angst, dass man dann denselben Fehler begeht, den man bei der Selbstdispensation angeprangert hatte: Lieber mal das Säckchen mit den Medikamenten gut füllen, lieber eines mehr mitgeben als eines weniger, die Kasse bezahlts ja. Das Risiko ist natürlich da. Und die Krankenkassen selbst sind auch kritisch. Im gesamten OTC-Bereich werden schliesslich Milliarden wegen Befindlichkeitsstörungen umgesetzt, da können die Kosten für die Kassen schnell explodieren. Deshalb sind wir da sehr vorsichtig, die Situation gilt es jetzt zuerst eingehend zu beobachten. Aber ich bin überzeugt, dass es neue innovative Krankenkassenmodelle geben wird, die das Angebot schaffen. Es wird sich klar zugunsten des Konsumenten entwickeln und das ist auch gut so.
Die Universität Basel ist die grösste Ausbildnerin für Apothekerinnen und Apotheker der Deutschschweiz – und sieht sich einem starken politischen Spardruck ausgesetzt. Wie stellen Sie die Ausbildung angesichts der politischen Anforderungen sicher?
Wir entscheiden ganz klar, was wir im Grundstudium abdecken können und was wir über die Weiter- und Fortbildungspflicht abdecken. Beispiel Impfen: Wir unterrichten Theorie und Praxis auf jeden Fall im Studium. Weitergehende Tätigkeiten wie die Blutentnahme, die jetzt auch gesetzlich zugelassen ist, unterrichten wir allerdings nicht während des Uni-Studiums. Das ginge zu weit und wäre zu teuer. Und natürlich besteht der Spagat zwischen gesetzlichem Auftrag und den zur Verfügung stehenden Finanzen einer Uni, die in unserem Falle von den Kantonen kommen und vom Baselbieter Spardruck beeinflusst werden. Derzeit laufen Bestrebungen, dass bei neuen gesetzlichen Auflagen auch vonseiten des Bundes Geld fliessen soll und nicht nur vonseiten der Kantone. Aber das ist eine hochpolitische Frage, die derzeit gerne herumgereicht wird.
Für den Moment aber muss die Universität Basel erst einmal entscheiden, wer wie viel Geld erhält. Und da haben wir wieder eine Konfliktlinie zur Ärzteschaft, die ebenfalls um ihr Budget kämpft.
Das ist richtig. Aber ich glaube, die Bereitschaft, Budget und Finanzen entsprechend aufzuteilen, ist insgesamt gross. Das Parlament hat sich klar für die Gesetzesrevisionen im Gesundheitsbereich geäussert, das neue Medizinalberufegesetz wurde mit einer grossen Mehrheit verabschiedet. Das soll nicht unter inneruniversitären Grabenkämpfen leiden. Die Frage ist nicht, ob wir die Auflagen umsetzen, sondern wie und wann.
«Ich bin überzeugt, dass sich die Preise neuer Medikamente wegen der Generika eher verteuert haben.»
Basel hat eine ausgeprägte Nähe zur Pharmaindustrie. Wie stark ist deren Einfluss auf den Pharma-Markt, insbesondere mit den Generika?
Man muss nicht darüber diskutieren, ob es Generika auf dem Markt braucht oder nicht. Man muss sich aber die Frage stellen, wie geht Big Pharma, also die forschende Industrie, mit Generika um. Für viele waren Generika ein Segensbringer, weil sie glaubten, dass damit die Medikamentenpreise sinken. Eine Vollkostenrechnung hat bis jetzt aber niemand gemacht, auch kein Gesundheitsökonom. Aber ich bin überzeugt, dass sich die Preise neuer Medikamente wegen der Generika eher verteuert haben.
Das müssen Sie erklären.
Jede Firma muss nach der Milliardeninvestition in ein neues Medikament innert weniger Jahre die Kosten decken. Da nach dem Ablauf des Patentschutzes die Generika den Markt übernehmen, muss die Industrie in einer kürzeren Zeit die Kosten decken und daran etwas verdienen – mit höheren Preisen. Insofern wird sich zeigen, dass sich möglicherweise ein unbeabsichtigter gegenteiliger Effekt eingestellt hat: Die Dynamik hat sich beschleunigt und damit auch der Kostendruck.
Das ist die Sicht der Industrie. Patienten und Krankenkassen begrüssen die Kostenentwicklung.
Generika-Firmen machen eine sehr gute Arbeit und produzieren sehr gute Medikamente. Aber es stimmt, gerade die Kassen glauben, mit der Förderung von Generika viel Geld gespart zu haben. Die Vollkostenrechnung wird aber anders aussehen. Es gibt mittlerweile unzählige Produkte mit demselben Wirkstoff, die teilweise mehrfach verschrieben werden. Wir sehen das immer wieder bei Patienten zu Hause: Bis zu drei Mal genau dasselbe Medikament, einfach mit anderen Namen und für jeweils etwas anderes verabreicht. Diese Komplexität ist nicht nur gefährlich, weil sie zu schwerwiegenden Überdosierungen führen kann. Der Patient bezahlt auch mehrfach für genau dasselbe Produkt. Da befinden wir uns dann schnell in einer Schattenrechnung, die schier nicht quantifizierbar ist, weil keiner mehr den Überblick behalten kann. Wir sehen uns angesichts dieser Lage also ganz neuen Herausforderungen gegenüber: Herausforderungen an Compliance, Sicherheit und Kostenüberblick.
Das grössere Problem ist aus Ihrer Sicht also der Markt?
Im Moment öffnet sich auf dem Markt eine Schere. Die Gesamtsumme der Medikamentenausgaben steigt. Während in den meisten Bereichen die Ausgaben allerdings sinken oder stagnieren, räumen vor allem ein paar wenige, hoch innovative und extrem teure Medikamente für wenige Patienten das Feld ab. Da einige von diesen Therapien auch über die Grundversicherung abgedeckt werden, kurbeln sie die Kassenbelastung stark an. Ein Beispiel ist die Hepatitis-C-Therapie, die ein absoluter Durchbruch war: Eine Therapie eliminiert das Virus komplett, das sonst zu massiven Leberschäden führt. Das gab es vorher noch nie. Doch das kostet – und zwar bis zu 100’000 Franken.
Was trotzdem grossartig für den Einzelnen ist.
Absolut! Aber es führt zu Millionenkosten für die Gesamtheit der Prämienzahler. Wir erleben gerade grossartige Entwicklungen in der Forschung, teilweise regelrechte therapeutische Durchbrüche, aber die Kosten sind enorm. Auf der anderen Seite beobachten wir die Generika-Entwicklung, wo die Preisfrage massiv auf den Markt drückt. Dass diese Schere derzeit immer weiter aufgeht, macht mir Sorgen. Eines muss man sehen: Ohne Medikamente wäre unsere Lebenserwartung um zig Jahre tiefer. Wir wollen als Gesellschaft immer weiter kommen, wir wollen Krankheiten besiegen, in einigen Fällen vielleicht sogar den Tod, und die Forschung geht im Moment in Riesenschritten voran. Aber wir müssen uns auch darüber klar werden, wie wir das als Gesellschaft finanzieren können und wollen.
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Prof. Dr. Christoph Meier ist Vorsteher des Departements für Pharmazeutische Wissenschaften der Universität Basel und seit 2009 Leiter der Apotheke des Universitätsspitals Basel. Er ist auf Pharmakoepidemiologie spezialisiert, also auf die «Lehre von dem, was mit/in der Bevölkerung durch die Arzneimittel geschieht» und steht als Professor der entsprechenden Einheit der Uni Basel vor. Meier arbeitete unter anderem in Basel, Zürich und Boston. Er ist verheiratet und lebt in Riehen.