«Es ist gut, wenn meine Kinder nicht alles sehen»

Mark van Bommel ist die Antithese zum Klischee des holländischen Fussballers. Aber gerade deswegen ist er an der Euro 2012 Captain der «Oranje», die sich schon an der WM 2010 vom schönen Spiel verabschiedet hat.

Ein Herz für Kinder. Mark van Bommel bei einem Anlass für die kleinen Fans in Krakau. (Bild: Keystone/KOEN VAN WEEL)

Mark van Bommel ist die Antithese zum Klischee des holländischen Fussballers. Aber gerade deswegen ist er an der Euro 2012 Captain der «Oranje», die sich schon an der WM 2010 vom schönen Spiel verabschiedet hat.

Es gibt Länder, die irgendwann in ihrer Geschichte Mannschaften erleben durften, die einen so prägenden Fussball gespielt haben, dass sich die Menschen bis in die Gegenwart danach verzehren. Holland zum Beispiel mit dem «Totaalvoetbal» von Mitte der Sechziger- bis Mitte der Siebzigerjahre. Ajax Amsterdam und das Nationalteam, Johan Cruyff und Johan Neeskens, Angriffslust und Technik. Das ist das Ideal, an dem jede Ausgabe der «Oranje» gemessen wird.

Mark van Bommel verkörpert in fast allem das Gegenteil dieser von Fussballromantik geleiteten Sehnsucht. Der Mittelfeldspieler ist kein begnadeter Techniker, er lebt von seinem Willen. Er steht nicht für offensives Spektakel, haut dafür schon mal dem Gegner auf die Socken, wenn er glaubt, dass sein Team einen Weckruf benötigt. So wie im Jahr 2010 im (trotzdem verlorenen) Final der Weltmeisterschaft gegen Spanien, als er erst Carles Puyol und danach Andres Iniesta unsanft zu Fall brachte.

Es ist kein Zufall, dass van Bommel die Holländer als Captain an die Euro 2012 führt. 2006 war er aus dem Natio­nalteam zurückgetreten, weil der damalige Bondscoach Marco van Basten für einen Kämpfer wie ihn keinen Platz im Team finden wollte. Doch seit sein Schwiegervater Bert van Marwijk die Auswahl trainiert, ist van Bommel zurück. Im Zwiespalt zwischen Romantik und Realismus neigt sich unter van Marwijk die Waage klar zu Letzterem.

Mark van Bommel, wie dürfen wir uns einen Kaffeenachmittag vorstellen, wenn van Bommels bei Oma und Opa van Marwijk sind?

Wir haben Teller, Tassen, Löffel und Gabeln auf dem Tisch.

Und die Oma hängt ein Schild an die Tür: «Fussball-Diskussionen verboten»?

Das kann sie gerne versuchen, aber sie wird es nicht schaffen. Ich habe zwei Söhne und ein Mädchen. Da geht nichts ohne Fussball. Wenn sie es ­jemals vorhatte, hat sie es längst aufgegeben.

Der Opa spielt mit?

Wenn wir uns mal sehen schon. Aber die letzten Jahre, als ich in München und Mailand war, haben wir uns eher selten gesehen. Die letzten sieben Jahre eigentlich nur im Urlaub. Dann gibt es weniger gemeinsamen Fussball.

Ist das nicht ein komisches Gefühl, mit dem Schwiegervater am Tisch zu sitzen, der gleichzeitig Nationaltrainer ist?

Beim Kaffee ist das weniger komisch, ich habe meine Frau ja geheiratet, bevor er Nationaltrainer wurde. Unter Nationalcoach Marco van Basten hatte ich aufgehört, in unserem Nationalteam zu spielen. Ich kam erst mit meinem Schwiegervater zurück.

Und gab es keine öffentliche Diskussion, weil der Schwiegersohn vom Schwiegervater aufgestellt wird und wieder spielt?

Ich kann mich an keine langen Debatten erinnern.

Sie selbst hatten kein schlechtes Gefühl?

Ich vielleicht viel mehr als alle anderen. Ich habe schon Druck gespürt. Vielleicht kann man sagen, ich musste die ersten fünf bis zehn Spiele nachweisen, dass die Mannschaft mit mir stärker sein kann. Diesen Druck habe ich gespürt, obwohl im Nationalteam immer ein gewisser Druck da ist, aber dieser war neu und anders.

Sie haben die Prüfung bestanden?

Die anderen Spieler haben mich schnell akzeptiert. In den ersten zwei, drei Spielen habe ich Rafael van der Vaart ein Tor aufgelegt, dann gegen Norwegen selbst eines geschossen. Ich habe gezeigt, dass ich es ernst meine und hier etwas bewirken will. Es ist ein Kompliment für uns, dass wir normal mit der Sache umgegangen sind.

Welcher Job ist für Bert van ­Marwijk denn schwieriger: Ihre Kinder zu bändigen oder die niederländische Auswahl?

Hm, Fussballspieler und selbst Nationalspieler sind manchmal auch wie Kinder. Aber ich denke, es sind alle drei van Bommels, die am Ende doch etwas mehr Mühe bereiten.

Ihre Söhne haben das Talent des Vaters?

Beim Kinderturnier hier im Teamhotel waren sie dabei. Thomas kann den Ball in der Bewegung schon gut mitnehmen und hat eine gute Technik.

Kann ein Spieler wie Sie Vorbild sein? Sie gelten als Aggressiv­leader und als Grossmeister des taktischen Fouls.

Es ist schon gut, wenn meine Kinder nicht alles sehen. Wenn es hitzig ­zugeht, finden Dinge auf dem Rasen statt, die du sonst nicht machst.

Sie denken als Vater und Profi über so etwas nach?

Ja, sicher. Die Kinder sollen das auf dem Trainingsplatz nicht auch so ­machen. In der Hektik auf dem Platz denkst du da nicht drüber nach, aber später schon.

Neben dem Ruf, ein hervorragender Stratege und Teamplayer zu sein, sind Sie auch der Rüpel, der schon mal hinlangt?

Jede Mannschaft hat solche Spieler. Aber ich habe noch nie einen aus den Schuhen getreten.

Geht es darum, mal ein Zeichen zu setzen, wenn es nötig ist?

Man ist für seine Mannschaft da und die braucht wie jede andere auch manchmal einen Push, wenn wir ein Spiel noch drehen wollen. Um das einmal klarzustellen: Ich bin kein bösartiger Spieler. Aber es gab Situationen, die hätte ich im Nachhinein gerne ­anders gelöst.

So wie eben, als Sie für das Fernsehen auf Campingstühlen vor ­einem orangefarbenen Zelt sassen und witzig und charmant wirkten?

Das war fürs Kinderfernsehen. Die lassen sich für jede Sendung etwas anderes einfallen. Bei uns zu Hause ist das Programm ein Hit. Alle schauen das.

Und gleichzeitig bedienen Sie schräge Klischees, etwa dass alle Niederländer Camping lieben und ganz Europa mit Wohnwagen und Fritteusen überfluten?

(Lacht.) Ich verrate Ihnen was: Ich war noch nie beim Camping. Ich mag es einfach nicht.

Und wie steht es mit dem Klischee, dass die Holländer einfach schön spielen …

… und nichts gewinnen? Das hängt auch mit unserer Kultur zusammen. Bei uns in Holland heisst es, du musst schön ­spielen und gewinnen, dann sind die Leute zufrieden. Wenn du nur gewinnst, sind sie das nicht.

Von daher kommt also die Dis­kussion, ob im holländischen Spiel derzeit zu viel Sicherheitsdenken vorhanden ist?

Es hat sich einiges geändert. Wir wollen immer angreifen und nach vorne spielen. Wie gesagt, das ist unsere Kultur. Aber wir haben viele Spieler, die im Ausland unter Vertrag sind. Und dort geht es zuerst einmal darum zu gewinnen. Egal wie. Wir versuchen, die beiden Dinge zu kombinieren, wenn wir uns treffen. Aber Sie haben recht, es bleibt ein Zwiespalt zwischen den Realisten und den ­Romantikern im Land.

Gilt das auch für die holländische Mannschaft, die an der Euro an den Start gehen wird?

Viele Spieler haben auch das andere Gen. Wir wollen Zauberfussball spielen, wenn es geht, keine Frage. Aber primär wollen wir gewinnen. Und das mit einer Taktik, die uns die grösste Chance dazu bietet.

Es ist lange her, dass Holland den letzten Titel gewonnen hat.

Das stimmt. 1988, das sind 25 Jahre. Oder fast. Trotzdem sagen wir, dass es okay ist, im Halbfinal auszuscheiden, wenn wir dafür mit unserem Fussball die Welt verändern. Natürlich wollen wir den Titel. Aber keiner verlangt das von uns.

Sie haben Arjen Robben geraten, zumindest darüber nachzudenken, Bayern München zu verlassen, weil er im Testspiel im Trikot der Niederlande gegen die Bayern ausgepfiffen wurde.

Ich war sehr enttäuscht. Ich habe viereinhalb Jahre in München gespielt und so etwas noch nie erlebt. Ich habe das sicher aus der Emotion heraus gesagt. Aber Arjen ist eine starke Persönlichkeit, und wir helfen ihm, das zu vergessen. Wir schauen auf uns und nicht auf andere. Wir brauchen an der Euro einen guten Start gegen Dänemark, weiter denken wir erst einmal nicht.

Könnten die Pfiffe damit zu tun haben, dass er im nieder­ländischen Trikot spielte?

Na, das wäre dann wirklich ein Kindergarten.

Sie haben Ihren Abschied an­gekündigt, wenn Holland die Euro 2012 gewinnt. War das ernst gemeint?

Das habe ich gesagt. Aber jetzt lasse ich mir das doch lieber offen.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 08.06.12

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