Anne-Sophie Mutter, wenn man sich auf YouTube den Matchball des Wimbledon-Finales von 2009 zwischen Roger Federer und Andy Roddick anschaut, hört man beim ersten Aufschlagfehler von Roddick einen kurzen Schrei. Das waren Sie.
Ja, das ist lustig. Gott sei Dank ist meine Stimme ja nicht bekannt. Ich bin ein sehr lauter Fan, ich bin auch so im Kino, ich bin immer die Einzige, die weint oder laut aufschreit vor Schreck. Und dieses Wimbledon-Finale werde ich nie vergessen, das Match war episch. Roger Federer gewann nach über vier Stunden Spielzeit im fünften Satz 16:14. Es war einfach unfassbar. Federer war absolut im Flow, es gelang ihm einfach alles, und das zu sehen ist einfach ein grossartiges Erlebnis. Da geht dann schon mal das Temperament mit mir durch.
Der Matchball 2009 und der Schrei:
Sind Sie ein grosser Fan von Roger Federer?
Ja. Ich kann gar nicht verstehen, wie man Fan von einem anderen lebenden Tennisspieler sein kann, wenn man Roger Federer gesehen hat. Man muss doch dieser Ästhetik, dieser Eleganz, dieser ganz wunderbaren poetischen Spielweise einfach verfallen. Ich habe selbst nie Tennis gespielt, aber mich schon als Teenager für Tennis interessiert. Ich war auch ein grosser Fan von Björn Borg und John McEnroe, und natürlich war ich auch im Boris-Becker-Fieber, als er als junger Mann Wimbledon gewann. Irgendwann liess mein Interesse am Tennis dann etwas nach – bis Roger Federer auftauchte.
Wimbledon 2017
» Der Spieplan
» Wimbledon bei srf.ch
Sie würden sich aber nicht selbst als Groupie bezeichnen, oder?
Doch, doch! Ich hatte auch schon Tickets für Finalevents, wo Federer dann doch nicht gespielt hat, das war natürlich besonders schmerzhaft. Ich habe zum Beispiel 2014 Konzerte in Australien so gelegt, dass sie eine Woche nach den Australian Open anfingen. Als ich in den Flieger stieg, war das Halbfinale zwischen Federer und Nadal, und als ich ankam, erfuhr ich, dass Federer verloren hatte und im Finale Wawrinka auf Nadal traf. Zwei grossartige Tennisspieler, aber die Enttäuschung war natürlich trotzdem riesig.
«Ich würde vielleicht nicht göttlicher Funke sagen, aber in seinem Spiel ist sehr viel Künstlerisches dabei.»
Auch der US-Autor David Foster Wallace hat für Federer geschwärmt und das Betrachten von Federer auf dem Court als religiöse Erfahrung («religious experience») beschrieben. Steckt etwas Göttliches im Spiel Federers?
Es ist die Raffinesse seines Spiels, die für mich den Reiz ausmacht – seine überraschenden Schläge, etwas, das nicht machbar, nicht trainierbar scheint, etwas, das nicht nur aus Muskelkraft und Fitness resultiert. Ich würde vielleicht nicht sagen, es sei ein göttlicher Funke in seinem Spiel, aber es ist sehr viel Künstlerisches dabei. Für mich ist sein Spiel in der Tat vergleichbar mit der Kunst und mit der Musik: Auch wir Musiker trainieren hart, aber dieser Flow, der zu aussergewöhnlichen musikalischen Klangfarben führt, ist nicht komplett trainierbar, sondern da geht es um das Gefühl, den perfekten Treffpunkt auf der Geige zwischen Steg und Griffbrett zu finden.
Tennis und Geigenspiel sind sich ähnlich?
Auch beim Geigenspiel kommt es auf den «Sweet Spot» an, auf diesen ganz kleinen Punkt auf dem Geigenbogen, den man treffen muss, damit der Klang seine wunderbare Wirkung entfalten kann. Diesen Punkt gibt es auch auf dem Tennisschläger. Vor allem bei der einhändigen Rückhand, deren Bewegung ja der Bogenführung beim Geigenspiel ähnelt. Bei Federer ist es diese Leichtigkeit, dieses «effortless», was seine einhändige Rückhand so wunderbar macht. Aber das gesamte Spiel Federers zeichnet sich nicht durch schiere Kraft aus, sondern durch die Fülle der Möglichkeiten – und die Fülle der Möglichkeiten, eine bestimmte Phrase auf der Geige zu spielen, das ist ähnlich.
Der Schriftsteller Ilija Trojanow beschrieb einmal einen Traum, in dem sein Tennisschläger eine Art Fortsatz der Hand war, fast so, als wüchse der Schläger aus dem Arm heraus. Ist das ein passendes Bild für den besonderen Touch, das ausserordentliche Gefühl beim Tennis sowie beim Geigenspiel?
Man weiss aus neurologischen Studien, dass sowohl der Tennisschläger als auch der Geigenbogen durch genügend Repetition als Teil des Körpers angesehen wird. Und wenn ich diese wunderschöne Schlagtechnik von Roger Federer sehe, muss ich immer an Jascha Heifetz, den berühmten Geiger, denken.
«Die Entwicklung geht eindeutig zu teutonischer Kraft und zum schnellen Punkt.»
Um noch einmal David Foster Wallace zu zitieren: Er schrieb, Federer sei «Metallica und Mozart in einer Person».
Das könnte von mir stammen. Federers druckvolles und zugleich elegantes Spiel ist ästhetisch ein Riesengenuss. Aber im Profi-Tennis ist ganz klar auch zu sehen, dass die Spieler immer grösser werden und einen körperlichen Vorteil haben gegenüber dem kleinen, wuselschnellen Spieler. Das Spiel wird schneller, kraftvoller, es wird mehr draufgedroschen. Ich finde, es verliert dadurch an Eleganz. Die Entwicklung geht eindeutig zu teutonischer Kraft und damit weg von der Breite der variationsfähigen Schläge hin zum schnellen Punkt. Es ist ja auch so ein schnelles, anstrengendes Spiel, sodass man diese langen Ballwechsel, diese langen Dialoge der Bälle physisch gar nicht schafft. Da wird der Punkt ganz schnell gemacht, möglichst schon mit dem Aufschlag. Es findet alles im Schnelldurchlauf statt.
Rafael Nadal hat kürzlich gefordert, Tennis müsse wieder langsamer werden.
Ja, die Athletik rutscht in die Nähe einer Superpower. Die Frage ist offenbar: Wie kann ich meinen Körper noch weiter pushen? Es sind Geschwindigkeiten im modernen Tennis, die für den Zuschauer fast nicht mehr erlebbar, nicht mehr nachvollziehbar sind. Es ist oft nur noch ein Abrufen einer gewaltigen Kraft und ein Niederdreschen des Gegners. Viele Spiele entscheiden sich schon beim Aufschlag: Aufschlag und Ass, oder Aufschlag, und der Return ist unmöglich. Dabei geht die Fähigkeit, flexibel auf den Gegner einzugehen, das Schachspielartige verloren. Und bei uns Musikern ist es die Glätte des Spiels und der Fokus auf das rein Technische, das dann auch leider die Musik etwas erstarren lässt. Man ist entzückt über die Technik, aber es fehlt die künstlerische Komponente.
Entwickelt sich die Musik also ähnlich weiter wie das Tennis?
Ich glaube, es gibt da durchaus eine Parallele. Natürlich haben sich auch die Instrumente – die Geige weniger als das Klavier – über die Jahrhunderte verändert, und sie haben sich den Ansprüchen der Zuhörer entsprechend weiterentwickelt. Man spielt heutzutage auch schneller, weil frühere Generationen die ganzen technischen Probleme gelöst haben und darauf aufbauend für uns, die Nachfolgegenerationen, Barrieren niedergerissen haben wie zum Beispiel Artur Rubinstein oder Jascha Heifetz. Heute spielt man schneller denn je und perfekter denn je.
Ist das der Musik zuträglich?
Ich glaube nicht, weil die Musik ähnlich wie ein eleganter, poetischer Sport wie Tennis auch davon lebt, dass eben mehr als blosses Können und die Geschwindigkeit zählen. Und manchmal passiert das ja auch im Konzert, dass in der Fülle der schnell gespielten Noten der Sinn der Musik völlig untergeht. Ich glaube, es wird alles immer schneller und immer lauter, und das drückt sich nicht nur in den modernen Medien aus, sondern es scheint auch auf unser kulturelles Leben und unseren Anspruch an den Sport abzufärben.
«Ich würde mir von der Generation nach Federer wünschen, das Ästhetische zu wagen.»
Glauben Sie, dass Tennis früher attraktiver war?
Es kam mir vielfältiger vor. Aber ich weiss nicht, ob ich mit diesem Urteil vielleicht ungerecht bin. Björn Borg zum Beispiel war grossartig, aber die Matches waren auch langatmiger. Ich weiss nicht, ob man da heute als Zuschauer noch die Geduld hätte. Ich bin damals schon zwischendrin mal Zähne putzen gegangen, und als ich zurückkam, waren die immer noch am selben Punkt und haben die Bälle hin- und hergeschoben. Es war einfach anders. Ich würde mir für die Generation nach Roger Federer wünschen, dass sie – ihn im Auge behaltend – versucht, beide Welten zu vereinen: Die erhöhte Geschwindigkeit und das druckvolle Spiel, aber dabei auch das Risiko einzugehen und das ästhetisch Gewagte zu wagen, um dann eben besonders glücklich zu sein, wenn das Schwierige und Seltene gewinnt.
Einen besonders schönen Punkt zu machen, bringt beim Tennis auch einen psychologischen Vorteil mit sich. Wie wichtig ist die mentale Stärke beim Tennis – und für Sie als Musikerin?
Ich habe ja weder professionell noch amateurhaft je Tennis gespielt, aber es ist eine Einzelsportart – und als Solist ist man auch auf sich selbst angewiesen. Gut, ich spiele jetzt nicht gegen den Dirigenten (es sei denn, er ist so katastrophal unproduktiv, dass man sich abwendet, aber das passiert natürlich nicht). Aber es ist erst einmal die Tagesform, die den Musiker mit dem Sportler verbindet, das Überwinden von emotionalen Barrieren und Ängsten. Genauso wie ein Tennisspieler Erinnerungen hat an seine letzte Niederlage in Roland Garros, wird er beim nächsten Mal erst einmal mit dieser Erinnerung fertigwerden müssen, bevor er – hoffentlich in der Top-Tagesform – sich auf dieses Schachspiel mit seinem Gegner einlassen kann. Ich glaube, dass dieses mentale Coaching im Sport wichtiger denn je ist. Und es ist etwas, das ich in meine Förderarbeit für junge Streicher immer wieder mit einfliessen lasse. Diese mentale Stärke ist immer dann gefragt – egal, ob ich einen Vortrag halte, ein Konzert oder in Wimbledon spiele –, wenn man alles zentrieren und in diesem einen Moment sein Können abrufen muss. Dieses Fokussieren und das Ausblenden aller Ängste kann man trainieren. Ich bin sicher, dass Roger Federer das Thema nicht ganz aus den Augen gelassen hat.
Roger Federer hat im Januar nach einer längeren Pause die Australian Open gewonnen und damit seinen 18. Grand-Slam-Titel. Haben Sie wieder mitgefiebert?
Und wie! Es war ja ein besonders hartes Match im Finale gegen Rafael Nadal, und im alles entscheidenden letzten Satz lag Roger Federer 1:3 hinten. Er musste im ganzen Turnier mehrere Fünf-Satz-Matches meistern und konnte Gott sei Dank das Finale der Australian Open dann noch mal drehen und triumphieren.
«Als Mann, als Mensch, als Vater – Roger Federer ist das perfekte Gesamtpaket.»
Wie ungewöhnlich ist es, nach einer Pause wieder derart leistungsfähig zurückzukehren?
Federer ist nicht nur ein Genie, sondern hat darüber hinaus ohne Zweifel die Zeit ideal genutzt und sich spieltechnisch neu erfunden, besonders was seine Rückhand betrifft.
Wie ist Ihre Prognose für Federers Abschneiden in Wimbledon?
Er ist fit und ausgeruht. In Wimbledon ist dem Meister alles zuzutrauen. Wenn er wie 2009 in dem legendären Finale gegen Roddick 50 Asse schlägt, dann kann er auch seinen grössten Kontrahenten Rafael Nadal schlagen. Ich wünsche es ihm von Herzen. Hopp Schwiiz!
Warum interessiert sich eigentlich in Deutschland kaum noch jemand für Tennis?
Tennis ist ja weitestgehend aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen verschwunden. Es ist klar, dass dieser Sport immer wieder von den grossen Lichtgestalten lebte. Wenn ein junger deutscher Mann wieder Wimbledon gewinnen würde, wäre der Boom vielleicht wieder da. In der Musik ist es ja ähnlich, es hängt viel an jungen Stars. Und wenn dann ein junger Pianist wie Daniil Trifonov auftaucht, dann geht auch wieder eine grössere Gruppe von ganz jungen Menschen ins Konzert. Es braucht immer diese ein, zwei Lichtgestalten, die Tennis oder auch Klavier oder Geige wieder in den Fokus der Gesellschaft stellen.
Eine Lichtgestalt muss aber mehr können als eine wunderbare einhändige Rückhand spielen, oder? Hat Roger Federer in Ihren Augen noch andere Qualitäten?
Roger Federer ist auch immer Gentleman, off und on the Court – er ist das perfekte Gesamtpaket. Auch ein Künstler muss ausserhalb des Konzertsaals Vorbild sein, sich sozial engagieren. Und wenn ich mir Federers Leben aus der Vogelperspektive anschaue, so scheint er dieses Gesamtpaket als Mann, als Mensch, als Vater zu sein. Er verkörpert diesen olympischen Gedanken: «das Beste aus seinen Fähigkeiten zu machen» – und zwar in allen Bereichen. Somit ist er für mich der perfekte Sportler.
Sind Sie selbst vielleicht der Roger Federer auf der Geige?
(Lacht) Ich wünschte es. Das Äquivalent zu Federer wäre wahrscheinlich Jascha Heifetz auf der Geige.
Anne-Sophie Mutter
ist eine der renommiertesten Geigerinnen und wurde weltberühmt durch die Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Die 54-Jährige stammt aus dem südbadischen Wehr.
anne-sophie-mutter.de