«Heimat ist für mich etwas Sinnliches»

Autorin Melinda Nadj Abonji erzählt in ihrem Roman «Tauben fliegen auf» ihre ganz persönliche Geschichte – und trifft damit das Gefühl aller Menschen, die in der Fremde leben. Die TagesWoche sprach mit Ihr über Identität, den Anpassungsdruck auf Migranten und die Rebellion gegen das «Normale».

(Bild: Ayse Yavas )

Autorin Melinda Nadj Abonji erzählt in ihrem Roman «Tauben fliegen auf» ihre ganz persönliche Geschichte – und trifft damit das Gefühl aller Menschen, die in der Fremde leben. Die TagesWoche sprach mit Ihr über Identität, den Anpassungsdruck auf Migranten und die Rebellion gegen das «Normale».

Ausgerechnet sie hat als erste Schweizerin den Deutschen Buchpreis gewonnen. Sie mit dem Namen, den niemand aussprechen konnte, geschweige denn schreiben. Sie, die mit «Tauben fliegen auf» ein Buch über den Anpassungsdruck auf Migranten in der Schweiz geschrieben hat, wird als Vorzeigemigrantin gefeiert. Ihr Name ist in der Literaturszene plötzlich so klangvoll, wie er es mit seinem «dj» und «ji» eigentlich schon immer war: Melinda Nadj Abonji. Dabei sei ein Teil der Interpretationen ihres auto­biografisch gefärbten Romans gar nicht richtig gewesen, sagt sie.

Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Zwei Jahre nach dem Gewinn des Deutschen und Schweizer Buchpreises 2010 hat sie mit ihrem Roman den letzten grossen Schritt gewagt: Sie ging auf Lesereise nach Serbien und in die autonome Provinz Vojvodina. Sie las in ihrem Geburtsort Becsej, ihrem Heimatort Zenta, in Novi Sad und auch in Belgrad. Wichtige Orte für eine Autorin, die Heimat als «Atmosphäre der Kindheit» beschreibt.

Melinda Nadj Abonji, wie war Ihre Lesereise?

Die Lesereise war sehr eindrücklich. Ich habe mir diese Reise ja seit 2010 gewünscht und mich intensiv darauf vorbereitet. Speziell war, dass die Lesungen mehrsprachig waren. Das hat zum Buch gepasst. Das Buch ist an den Ort zurückgekommen, wo es seinen Ursprung genommen hat. An einen Ort, an dem mehrere Sprachen gesprochen werden, mehrere Kul­turen zu Hause sind. Insofern ist diese Lesereise für mich auch der Abschluss dieses Buches.

Sie haben «Tauben fliegen auf» nicht selbst ins Ungarische übersetzt. Reizte es Sie nicht, sich der Muttersprache anzunähern?

Ich kann zu wenig gut Ungarisch, dass ich es hätte übersetzen können. Aber die Annäherung geschieht ja im Buch selber. Ich habe sehr viel mit der ungarischen Sprache gearbeitet – mit Redewendungen, Flüchen, ­Witzen. Und auch mit der serbischen Syntax, mit dem schweizerdeutschen Dialekt. So gesehen, wäre es schlicht unmöglich gewesen, dieses Buch selbst zu übersetzen.

Melinda Nadj Abonji

Die Autorin, Musikerin und Textperformerinlebt in Zürich. Geboren 1968 in der autonomen Provinz Vojvodina in Serbien, zog sie 1973 in die Schweiz. Ihre Heimat wurde die Sprache: Als Kind flüchtete sie in die Welt der Bücher, später studierte sie Deutsch und Geschichte. Der Durchbruch als Autorin gelang ihr mit «Tauben fliegen auf». Sie erhielt für den Roman den Deutschen und den Schweizer Buchpreis 2010. Erzählt wird darin die Geschichte einer Familie, die aus der autonomen Provinz Vojvodina in Serbien in die Schweiz zieht – eine Verschmelzung zwischen Fiktion und der eigenen Geschichte von Nadj Abonji. In einer intensiven, gleichzeitig malerischen Sprache zeigt sie im Buch die Kluft zwischen erfolgreicher Integration und der Selbstaufgabe von Migranten auf. Der Roman wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Am 28. Oktober 2012 findet im Theater Neumarkt in Zürich «Das Leben ist Ausland» mit der Schriftstellerin statt. In der Reihe laden Melinda Nadj Abonji, Spoken Word-Artist Jurczok 1001 und der Fotograf Goran Potkonjak Künstler vom Balkan in die Chorgasse ein, um zu lesen, zu performen, zu diskutieren.

Sie wurden an der Lesung in ­Belgrad gefragt, wie man in der Schweiz als Migrantin «überlebt». Ihre Antwort war: «Indem man versucht, sich selber treu zu bleiben.» Wann wurde Ihnen selber bewusst, dass das der Weg ist?

Es war relativ spät. Meine Muttersprache und Herkunft waren immer präsent, aber wirklich einschneidend ist das Thema mit 30 geworden. Mir wurde bewusst, dass ich nicht einfach nur von Anfang an mehr Sprachen sprach. Ich merkte, dass meine Herkunft viel mehr mit sich bringt. Dass ich aus einer Familie komme, die ständig versucht, es allen recht zu machen. Dass wir in einem reduzierten Kreis gelebt haben. Wir sind zwar eine grosse Familie, aber die Beziehung zu Tanten und Onkeln konnte gar nicht gelebt werden. Das heisst, die Beziehung zu den Verwandten war aufs Telefonieren und auf die Ferien in Zenta beschränkt.

Und das warf Fragen nach der ­eigenen Identität auf?

Ich fing an, mich mit der Frage zu beschäftigen, wo das Eigene beginnt und wie weit ich mit dem Eigenen gehen kann. Und was gibt man auf, weil es zu schwierig, zu kompliziert ist? Mir ist aufgefallen, dass in ­meinem Freundeskreis allen alles schnell zu kompliziert, zu schwer ist. Aber was bedeutet das für mich? Bin ich ein Mensch, der alles dra­matisiert? Oder resultiert das aus meiner Herkunft, dass ich mehr ­Fragen ans Leben habe? Ist das so, weil ich aus einem Land komme, das es so – nach einem zehnjährigen Krieg – nicht mehr gibt? Das alles lässt mich nicht so unbeschwert ­dahinleben, weil mit diesem Krieg auch Schicksalsschläge verbunden waren und sind. Aber wie gesagt, das hat sehr lange gedauert, bis mir das bewusst wurde.

Es gab diesen Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht gegen den Anpassungsdruck auf Migranten rebelliert habe, sondern allgemein gegen Anpassung.

Initialzündung für das Buch sei ein ­Besuch in Sierre gewesen, haben Sie einmal gesagt. Die vielen Pappeln und die ­sinnliche Herbst­stimmung erinnerten Sie an Ihre Kindheit.

Einerseits. Andererseits hatte es mit der Abstimmung zur erleichterten Einbürgerung der zweiten Genera­tion zu tun, die damals, 2004, aktuell war. Überall in dieser idyllischen Gemeinde hingen diese Weltformatplakate der SVP mit diesen Händen, die nach dem Schweizer Pass greifen. Ich hatte dort mit drei Künstlern aus Südafrika, Polen und der Dominikanischen Republik gear­beitet, und die fragten alle: «Was ist das? Was bedeutet das?»

Wie reagierten Sie?

Ich begann zu erzählen, was es damit auf sich hat. Meine Begleiter waren verunsichert, fast ungläubig. Sie sagten: «Das kann ja nicht sein in einem Land wie der Schweiz – diese Gehässigkeit und diese Plakate.» Es ergaben sich viele Diskussionen über ­Ungarn, die Schweiz, Ausländer. ­Diese Diskussionen lösten etwas ganz Spezifisches in mir aus: Fast explosionsartig erinnerte ich mich an etliche hässliche Situationen, die meine ­Familie in diesem Land erlebt hat.

Zum Beispiel?

Beispielsweise als meine Eltern ­Geschäftsführer einer Cafeteria wurden: Das hat Reaktionen ausgelöst, die unschön waren. In Sierre habe ich angefangen, mich daran zu erinnern – ziemlich schockartig, wie gesagt. Eine Szene habe ich ja dann auch literarisch verarbeitet.

Sie meinen die Szene, als ein Gast die Toilette des Restaurants mit Fäkalien verschmiert?

Ja, und das war nicht die einzige ­Erinnerung, bei der ich mich fragte: Warum hast du das einfach so weg­gesteckt? Die SVP-Kampagne führte zu einer Art Selbst­befragung.

Im Buch kritisieren Sie un­verblümt die Schweiz und die hie­sige Gesellschaft. Hatten Sie nie Angst, kritisiert und verletzt zu werden?

Ich bin verletzt worden – erhielt ­aber auch enorm viel Zuspruch und Aufmerksamkeit. Es geschah beides. Ich glaube, die Frage darf man sich gar nicht stellen. Das gehört zum Leben einer Schriftstellerin, die sich gesellschaftlich einmischt. Mich interessiert es nicht, ohne Bezug zur Gesellschaft zu schreiben. Ich habe mich aber auch selbst geschützt und möglichst wenig gelesen, was über mich und das Buch geschrieben wurde.

Ist es Ihnen schwergefallen, ­dieses Buch zu schreiben ­aufgrund des Anpassungsdrucks, den sie als Migrantenkind erlebten?

Eine schwierige Frage. Ich kann nicht abstrahieren, wie es als Schweizerin gewesen wäre. Ich habe das Leben gehabt, das ich gehabt habe. Es gab aber diesen Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht gegen den Anpassungsdruck auf Migranten rebelliert habe, sondern allgemein gegen Anpassung. Ich hatte mit meiner Schwester eine Punk-Folk-Band. Diese Auflehnung, so diffus sie auch war, war wichtig für mich. Dadurch habe ich gemerkt, dass ich einen Widerstand gegen das bürgerliche Leben habe, vor allem gegen eine vorgezeigte Normalität. In meinem ersten Buch ging es genau da­rum, dass es das Normale nicht gibt.

Gab es den Anpassungsdruck auch zu Hause? Mussten Sie in der Schweiz eine Ungarin sein?

Die Sprache war meinen Eltern schon wichtig. Es war aber nicht so, dass sie mich zu etwas gezwungen hätten. Einerseits ist dafür die ungarische Gemeinschaft viel zu klein, andererseits haben sie schlicht zu viel gearbeitet, um durchzusetzen, dass wir eine ungarische Schule besuchen.

Die Eltern arbeiten viel, haben kaum Zeit für die Kinder – eine klassische Migrantensituation.

Ja, ich hätte mir natürlich gewünscht, dass meine Eltern mehr Zeit für uns gehabt hätten. Nun sind meine Eltern Grosseltern und kompensieren die Zeit mit den Enkeln. Wenn ich uns mit Schweizer Fami­lien verglich, die mal Skifahren ­gingen, mal übers Wochenende ver­reisten, fand ich das immer sehr merkwürdig. Aber wenn ich es nicht merkwürdig gefunden hätte, wäre ich vermutlich traurig darüber gewesen, und das ist schwieriger auszuhalten. Prägend war für mich auch die Erschöpfung meiner Eltern: Sie hatten nur einen freien Tag, den Sonntag – wenn überhaupt. Wir mussten dann still sein, weil sie schlafen wollten.

Hatten Sie das Gefühl, Ihre ­Eltern wissen, was in Ihrem ­Leben läuft?

Nein, nicht wirklich.

Die Frage nach der Heimat ist ­primär die Frage nach der individuellen Geschichte, also nach etwas Kleinem

Sie kritisieren im Buch auch die unterwürfige Haltung der ­Eltern, das Schweigen am Esstisch. Wie haben Ihre Eltern das Buch aufgenommen?

Dank der ungarischen Übersetzung konnten sie es jetzt lesen. Das war wichtig für mich, und damit hat es sich aber auch. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Sie fühlen sich nicht in einem Land zu Hause. Sie sehen Ihre Heimat in der Atmosphäre der Kindheit, in Gerüchen, Gefühlen …

… der Beziehung zur Grossmutter, zu Einzelheiten, zu Tieren. Heimat ist für mich etwas Sinnliches, Kleines.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie seit dem Buch mehr angekommen sind in der Schweiz?

Ich versuche es immer wieder zu ­erklären, aber es ist schwierig, weil unser Denken so durchdrungen ist von begrenzenden Einteilungen wie Nation, Nationalität. Ich definiere mich nicht als Schweizerin und nicht als Ungarin, weil genau das zum ­Debakel führte, das wir auch in den 1990er-Jahren in Jugoslawien erlebt haben. Damals begannen sich alle als irgendwas zu definieren: als Montenegrinerin, als Kroate, als bosnische Serbin … Es ist unmöglich, diese Grenzziehungen, Abspaltungen, Ausgrenzungen in einem Buch zu hinterfragen und dann zu sagen: Ich bin Ungarin. Die Kreation von Nation und Nationalität ist immer etwas Hochkünstliches. Das, was man selbst hat oder in sich trägt, ist der Bezug zu einzelnen Menschen, zu ­einer Sprache, der Umgang, der ­einen geprägt hat als Kind. Das ist ein riesiger Schatz, aber der gehört einem selbst, nicht einer Nation!

Hört sich so an, als ob Sie dafür sind, dass man die Frage nach der Herkunft ersatzlos streicht.

Die Frage nach der Heimat ist ­primär die Frage nach der individuellen Geschichte, also nach etwas Kleinem, und obwohl diese Geschichte einzelmenschlich klein ist, ist sie ein unermesslicher Schatz. Ich bin bei meiner Grossmutter aufgewachsen, nicht in der Schweiz. Ich habe Un­garisch gesprochen, habe meinen Alltag in einer sehr einfachen, ländlichen Umgebung verbracht. Das ist viel wesentlicher als der Pass. Identität gibt es letztlich nicht, sie ist ein Konstrukt. «Iden­titas» ist eine ­Ableitung aus dem ­lateinischen ­Abstraktum «idem», was «derselbe» heisst. Aber kein Mensch ist wie der andere.

Man grenzt sich ab oder definiert sich als etwas.

Genau, aber eigentlich müsste man den Begriff Identität durch Ähnlichkeit ersetzen, wie ein Schriftstellerkollege von mir vorschlug. Er ist der Meinung, dass nur unterschiedliche Dinge, Menschen, Kulturen, Erscheinungen, Begriffe ähnlich sein können und dass die Ähnlichkeit im ­exklusiven Bereich und in der Kompetenz der Vorstellungskraft liege. Ich erachte das für eine sehr wich­tige, weise und revolutionäre Aus­sage, denn dadurch ist jeder Mensch aufgerufen, die Verbindungen zu ­einem anderen Menschen und zu ­allem, was ihn umgibt, wahrzunehmen, also Ähnlichkeiten gerade aufgrund von Unterschieden aufzusuchen. Ein Grundgedanke, der ­demjenigen vieler Politiker und ihrer national konstruierten Identität ­diametral entgegengesetzt ist. Ich bin mit etlichen Menschen befreundet, die aus ländlichen Gebieten der Schweiz in die Stadt migriert sind und teilweise ganz ähnliche Pro­bleme hatten wie wir.

Könnte das auch der Grund sein dafür, dass das Buch auch Schweizer anspricht?

Ich glaube schon. Letztlich heisst das, dass der Begriff Identität, der uns schon so lange Zeit beschäftigt, ein ideologischer Begriff ist, der ­maximal politisch ausgenutzt wird, den man aber endlich über Bord werfen müsste. Im wirtschaftlichen und technischen Bereich sind Bündnisse und Vernetzungen längstens Realität, aber auf der politischen Ebene sind die Abgrenzungsdiskurse wieder salonfähig geworden. In meinem Buch ist nie von der Schweiz die Rede. Es geht um einen ganz bestimmten Ort in der Schweiz, wo sogenannte Ausländer eine Cafeteria führen. Es geht also um eine Konkretisierung und um ein Infragestellen dieser grossen, überhitzten Kategorien wie Nation, Nationalität, die letztendlich zu Ausgrenzung bis hin zum Töten ­führen. Wenn dieser Aspekt in der Interpretation des Textes fehlt, fehlt etwas Ent­scheidendes.

Es stellt sich die Frage, ­warum hier der Anteil der Bevölkerung so gross ist, der Ressentiments gegenüber Ausländern hat

Eine Grenze zieht auch Ildikó, die Protagonistin im Buch. Sie ­rebelliert gegen ihre Eltern, will nicht mehr im Restaurant helfen. Ist es wichtig für Migrantenkinder, sich von den Erwartungen von aussen zu befreien?

Es ist sowieso ein wichtiger Schritt. Sonst kommt unausweichlich der Moment, wo man seine Menschlichkeit verliert und das eigene Gesicht. Als die Ich-Erzählerin im Roman auf die Toilette geht, um sie zu putzen, sieht sie sich im Spiegel, mit Schrubber und Eimer in der Hand. Sie erkennt in diesem Moment, dass sie «das Fräulein» ist, die die Gäste bis zur Selbstauslöschung bedient. Sie sieht, dass die Wände mit Fäkalien verschmiert sind, und sie weiss, dass sie die Verschmutzung, den Angriff auf sich und ihre Familie, wird ­wegwischen müssen. Und in diesem Augenblick ist eine Grenze erreicht. Sie erkennt, dass sie nur noch ein funktionaler Teil eines Dienstleistungsbetriebes ist und ihr Menschsein überhaupt keine Rolle spielt. Und jetzt weg vom Buch. Es ist wesentlich zu wissen, was man mit sich machen lässt und was nicht. Bereits im privaten Leben ist die Umsetzung dieser einfachen Erkenntnis schwierig. Auf der gesellschaftspolitischen Ebene ist es noch schwieriger: Wie gehe ich mit der Dauerattacke gegen Ausländerinnen und Ausländer um? Wann ist der Punkt erreicht, wo ich sage: Jetzt reichts?

Verfolgen Sie die politischen Entwicklungen auf dem Balkan?

Natürlich.

Es herrscht kein Krieg mehr.

Die nationalistischen Kämpfe sind leider noch nicht ausgefochten. Alles, was in diese Richtung geht und die Geschichte des 20. Jahrhunderts verdrängt, ist erschreckend. Die Regierung von Serbien war vor den vergangenen Wahlen im letzten Mai alles andere als demokratisch, obwohl das immer so dargestellt worden ist. Seither geht es aber nochmals einen Schritt in die falsche Richtung: Nun regieren die Nationalisten, im Bündnis mit den Sozialisten, so wie das in den 1990er-Jahren unter Milošević der Fall war. Es herrscht eine enorme Armut, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 60 Prozent, die Arbeitslosigkeit 30 Prozent.

Die ökonomische Situation ist ­einer der Gründe, warum die Nationalisten auf dem ­Vormarsch sind.

Das ist unbestritten, die Schweizer Wirtschaft funktioniert aber recht gut. Da stellt sich doch die Frage, ­warum hier der Anteil der Bevölkerung so gross ist, der Ressentiments gegenüber Ausländern hat. Der ­Autor W. G. Sebald, der ein wichtiges Vorbild für mich ist, hat geschrieben, dass Schreiben auch ein «Bewahren von Vergangenheit» ist. ­Gerade in unserer hektischen Zeit, in der keinen mehr interessiert, was 10, 15 Jahre zurückliegt, ist das ­Vergessen eine reale Gefahr. Die ­Literatur hat da eine wichtige Funk­tion, nämlich das Verschüttete, ­Abgeschobene wieder aufleben zu lassen. Schreiben heisst, sich zu erinnern. Und das hat nichts mit Nostalgie oder Kitsch zu tun, sondern mit Arbeit und Vorstellungskraft.

Kostproben – Melinda Nadj Abonji liest aus «Tauben fliegen auf»:

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12

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