Die fulminante Karriere einer Unwahrheit

Um «irgendetwas» gegen Gewalt an Fussballspielen zu tun, ist den Parteien alles recht. Auch die Zustimmung zu einem Gesetz, das auf falschen Angaben beruht.

Und das soll funktionieren? Wer als Fussballfan ein Auswärtsspiel besuchen will, soll künftig den Extrazug benutzen müssen. (Bild: Keystone)

Um «irgendetwas» gegen Gewalt an Fussballspielen zu tun, ist den Parteien alles recht. Auch die Zustimmung zu einem Gesetz, das auf falschen Angaben beruht.

Es ist erstaunlich, wie weit es eine Unwahrheit in der Schweizer Politik bringen kann. Sie wird beispielsweise Grundlage für ein neues Gesetz, obwohl sie schon lange als das identifiziert wurde, was sie ist: eine Lüge.

Vor einer Woche ging die Vernehmlassung zum neuen Personenbeför­de­rungsgesetz zu Ende, und Verkehrs­ministerin Doris Leuthard frohlockte bereits zwei Wochen vor Ende der Vernehmlassungsfrist im Parlament, dass die Vorschläge des Bundes «auf offene Ohren» stössen würden.

Tatsächlich stimmen alle grossen Parteien (die Stellungnahme der FDP steht noch aus) der Idee des Eidge­nössischen Departements für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) zu, die Transportpflicht der SBB zu ­lockern.

Eine Zahl wird erfunden

Wer als Fan eines «Sportklubs» ein Auswärtspiel seines Vereins via öffentlichem Verkehr besuchen möchte, soll künftig den angebotenen Extrazug be­nutzen müssen. Normale Züge bleiben dem Fan verwehrt. Egal, ob er ein Billett gelöst hat; egal, ob er ein Generalabonnement besitzt; egal, ob er in einer anderen Stadt wohnt (es soll ja durchaus auch FCB-Fans in der Ostschweiz oder im Aargau geben). Nur wer in der Heimatstadt seines Vereins ein Kombi-Ticket löst, soll ins Stadion kommen.

Auslöser für die Gesetzesrevision waren Horrorzahlen: Drei Millionen Fran­ken Zusatzkosten, vermeldeten die SBB den Medien vor gut einem Jahr, würden die Extrazüge jährlich verursachen.

Eine frei erfundene Zahl. Im Januar 2012 wies die «Wochenzeitung» (WOZ) nach, dass die tatsächlichen Schäden mindestens um den Faktor zehn kleiner sind. Bestätigt wurde die neue Zahl vom Chef höchstselbst. Und zwar nicht nur in der WOZ. Sondern auch in der «NZZ am Sonntag», die Andreas Meyer im Februar folgendermassen zitierte: «Die Schäden belaufen sich auf etwa zehn Prozent der drei Millionen Franken.» «Hoppla», schrieb die «NZZ am Sonntag», und man dachte, das wäre es jetzt gewesen, mit den drei Millionen Franken.

Ominöse drei Millionen Franken

Aber von ein paar Fakten lassen sich unsere Politiker nicht beirren. Am 21. Februar hiess die Sicherheitskommission des Nationalrats mit 22 Stimmen bei zwei Enthaltungen eine Mo­tion gut, mit der die Transportpflicht der SBB gelockert werden soll – mit einem expliziten Hinweis auf die hohen Sachschäden. Ein halbes Jahr später ar­gumentierte Kommissionssprecherin Edith Graf-Litscher (SP, TG) in der Herbstsession immer noch mit den drei Millionen Franken Sachschäden, die Extrazüge jährlich verursachen würden, und verwies bei einer entsprechenden Nachfrage von Markus Lehmann (CVP, BS) auf die SBB – von dort habe die Kommission ihre Zahlen.

Die Anhörung mit den SBB fand am 20. Februar statt, gute drei Wochen nachdem SBB-CEO Meyer die Zahl nach unten korrigiert hatte. Und die Motion wurde im Nationalrat mit gros­sem Mehr angenommen.

Von der Richtigstellung des SBB-Chefs liess sich auch das UVEK nicht beeindrucken. In der Vernehmlassungs­vorlage vom Juni 2012, die unabhängig von der Motion der Sicherheitskommission entworfen wurde, heisst es: «Für die SBB entstehen im Zusammenhang mit der Durchführung von Ex­tratransporten (…) jährlich ungedeckte Kosten in der Grössenordnung von drei Millionen Franken.» Der Rest der Vorlage bleibt dagegen äusserst vage. Wer die Fans von den normalen Zügen weghalten soll, wie ein Fan überhaupt zu erkennen ist, wie mit Fans aus anderen Städten umgegangen werden soll – all das beantwortet die Vorlage nicht.

Mehr Probleme

So ist es wohl auch zu erklären, warum die Parteien dem Gesetz grosses Wohlwollen entgegenbringen (sie müssen es ja nicht umsetzen) und die Kantonsregierungen eher skeptisch sind. Sogar die Baselbieter Regierung, sonst immer an vorderster Front mit dabei, wenn es ­gegen «Erlebnisfans» geht, ist skeptisch: «Die vorgeschlagenen Massnahmen vermögen allerdings nur auf den ersten Blick zu überzeugen. Bei ge­nauerer Betrachtung werden sich die Sicherheitsprobleme für die Polizei durch diese Massnahmen verstärken.»

Quellen

Die WOZ weist nach, dass die Schäden von den SBB zu hoch berechnet sind

Die «NZZ am Sonntag» bestätigt den Artikel der WOZ

Die Motion der Sicherheitskommission des Nationalrats

Die Debatte über die Motion der SiK in der Herbstsession 2012

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12

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