Geht es der Schweiz nun gut oder schlecht? Die erstaunliche Kehrtwende von Avenir Suisse.
Avenir Suisse, die Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft, wird demnächst ein Buch mit dem Titel «Das Schweizer Mittelstandsparadox» veröffentlichen. Im «Tages-Anzeiger» haben die beiden Autoren Daniel Müller-Jentsch und Patrik Schellenbauer bereits eine Art Trailer dazu verfasst. Sie vergleichen dabei den deutschen und den schweizerischen Mittelstand und kommen zum Schluss, dass wir weit besser gefahren sind als unsere nördlichen Nachbarn.
Wir seien durch eine «solide Wirtschaftspolitik, die gute Wirtschaftslage und die hohe Wettbewerbsfähigkeit» geschützt gewesen, stellen die beiden fest. In der Schweiz konnte «dank ihrer soliden Staatsfinanzen auf Sparprogramme und Sozialabbau weitgehend verzichtet werden».
Das ist erstens eine richtige Feststellung und zweitens wäre sie auch nicht weiter kommentierungswürdig – hätte nicht ausgerechnet Avenir Suisse vor einem Jahrzehnt genau das Gegenteil behauptet. Im Hinblick auf die Zukunft lohnt es sich, diese erstaunliche Kehrtwende kurz zu beleuchten.
Der Ruf nach Reformen
Zu Beginn des neuen Jahrhunderts befand sich Deutschland in einer Art Dauerdepression. Die Euphorie der Wiedervereinigung war längst abgeklungen und der Kater über die wirtschaftlichen Kosten dafür weit heftiger als befürchtet. In Talkshows wie «Sabine Christiansen» klagten konservative Politiker und Wirtschaftsführer jeden Sonntag darüber, dass man weit über die Verhältnisse gelebt habe, und forderten Reformen.
Der Ökonom Hans-Werner Sinn veröffentlichte 2003 das Buch «Ist Deutschland noch zu retten?». Es wurde umgehend zum Bestseller. Sinn schildert darin auf vielen Seiten und in grellen Farben, wie die deutsche Wirtschaft ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit angeblich verloren hat, und doziert auch, wie sie wieder zurückzugewinnen sei: mit harten Strukturreformen und noch härteren Lohnkürzungen. Für gewöhnliche Arbeitnehmer forderte der «klügste Professor Deutschlands» – so die «Bild»-Zeitung – eine Lohnreduktion von rund einem Drittel.
Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts waren für die Schweizer Wirtschaft sosolala. Die Folgen der geplatzten Dotcom-Blase und der Schock von 9/11 dämpften das Wachstum der Weltwirtschaft. Das bekam auch die hiesige Exportwirtschaft zu spüren. Bald fiel auch hierzulande der deutsche Masochismus auf fruchtbaren Boden. Neoliberale und Rechtskonservative liessen sich vom Reformfieber anstecken.
Der frisch aus der Taufe gehobenen Denkfabrik Avenir Suisse kam dabei eine führende Rolle zu. Ihr damaliger Direktor Thomas Held wurde eine Art Schweizer Antwort auf Hans-Werner Sinn. Er eilte von «Arena» zu «Club» und verkündete dabei stets die gleiche Botschaft: Wir müssen reformieren und nochmals reformieren, sonst können wir uns unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Altersrente bald ans Bein streichen.
Schützenhilfe erhielt Held von seinem Nachfolger Gerhard Schwarz, dem damaligen Wirtschaftschef der NZZ. Ebenfalls mächtig ins Zeug legte sich Staatssekretär und Seco-Chef Jean-Daniel Gerber. Dieser verstieg sich in einer legendär gewordenen «NZZ am Sonntag»-Kolumne gar zur Behauptung, die Schweiz werde ins Armenhaus absteigen. Trotzdem hatte in der Schweiz die Reformwut kaum Auswirkungen. Der damalige Wirtschaftsminister Joseph Deiss liess zwar ein 13-Punkte-Reformprogramm ausarbeiten. Keiner dieser Punkte wurde jemals verwirklicht, und wenn, hätte es kaum jemand gemerkt.
George Sheldon, Arbeitsmarktspezialist an der Universität Basel, hatte ausgerechnet, dass beispielsweise die Umsetzung des damals vehement geforderten Binnenmarktgesetzes das Bruttoinlandprodukt gerade mal um 0,0013 Prozent erhöht hätte. Umgekehrt sorgten weiterhin steigende Löhne und Renten für eine starke Binnennachfrage und sichere Arbeitsplätze.
Masochisten werden aktiv
Ganz anders in Deutschland. Dort wurde die Agenda 2010 der rotgrünen Koalition knallhart durchgedrückt, mit dem Resultat, dass deutsche Löhne im Vergleich zum übrigen Europa mehr als 20 Prozent fielen. Diese Austeritätspolitik machte die Schweiz attraktiv für Arbeitnehmer aus dem Nachbarland. Die Deutschen führen die Rangliste der Zuwanderer seit Jahren an.
Die Weltwirtschaft lahmt, erste Auswirkungen auf die Exportländer Deutschland und Schweiz machen sich bemerkbar. Sollte sich die Krise verschärfen und es zu einem merklichen Anstieg der Arbeitslosenzahlen kommen, werden die Masochisten bald wieder aktiv. Ökonomen wie Hans-Werner Sinn werden jede nur denkbare Reform fordern. Avenir Suisse wird erneut in dieses Lamento einstimmen, Reformstau anmahnen und flexible Arbeits- und Binnenmärkte einfordern.
Und was ist mit der «soliden Wirtschaftpolitik», die heute so gelobt wird? Sie wird als blosses Geschwätz von gestern abgetan werden. Wetten?
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12