Das Geschwätz von gestern

Geht es der Schweiz nun gut oder schlecht? Die erstaunliche Kehrtwende von Avenir Suisse.

German Chancellor Gerhard Schroeder addresses his party faithfull from the podium at the Social Democratic Party special conference in Berlin Sunday 01 June 2003. He addressed over 500 delegates at the meeting on the disputed social reform package "Agenda (Bild: Wolfgang Kumm, Keystone)

Geht es der Schweiz nun gut oder schlecht? Die erstaunliche Kehrtwende von Avenir Suisse.

Avenir Suisse, die Denkfabrik der Schweizer Wirtschaft, wird demnächst ein Buch mit dem Titel «Das Schweizer Mittelstandsparadox» ­veröffentlichen. Im «Tages-Anzeiger» haben die beiden Autoren Daniel Müller-Jentsch und Patrik Schellenbauer bereits eine Art Trailer dazu verfasst. Sie vergleichen dabei den deutschen und den schweizerischen Mittelstand und kommen zum Schluss, dass wir weit besser gefahren­ sind als unsere nördlichen Nachbarn.

Wir seien durch eine «solide Wirtschaftspolitik, die gute Wirtschaftslage und die hohe Wettbewerbsfähigkeit» geschützt gewesen, stellen die beiden fest. In der Schweiz konnte «dank ihrer soliden Staatsfinanzen auf Sparprogramme und Sozialabbau weitgehend verzichtet werden».

Das ist erstens eine richtige ­Feststellung und zweitens wäre sie auch nicht weiter kommentierungswürdig – hätte nicht ausgerechnet Avenir ­Suisse vor einem Jahrzehnt genau das Gegenteil behauptet. Im Hinblick auf die Zukunft lohnt es sich, diese erstaunliche Kehrtwende kurz zu beleuchten.

Der Ruf nach Reformen

Zu Beginn des neuen Jahrhunderts befand sich Deutschland in einer Art Dauerdepression. Die Euphorie der Wiedervereinigung war längst ab­geklungen und der Kater über die wirtschaftlichen Kosten dafür weit heftiger als befürchtet. In Talkshows wie «Sabine Christiansen» klagten konservative Politiker und Wirtschaftsführer jeden Sonntag darüber, dass man weit über die Verhältnisse gelebt habe, und forderten Reformen.

Der Ökonom Hans-Werner Sinn veröffentlichte 2003 das Buch «Ist Deutschland noch zu retten?». Es wurde umgehend zum Bestseller. Sinn schildert darin auf vielen Seiten und in grellen Farben, wie die ­deutsche Wirtschaft ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit angeblich ­verloren hat, und doziert auch, wie sie wieder zurückzugewinnen sei: mit harten Strukturreformen und noch härteren Lohnkürzungen. Für ­gewöhnliche Arbeitnehmer forderte der «klügste Professor Deutschlands» – so die «Bild»-Zeitung – eine Lohnreduktion von rund einem Drittel.

Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts waren für die Schweizer Wirtschaft sosolala. Die Folgen der ­ge­platzten Dotcom-Blase und der Schock von 9/11 dämpften das Wachstum der Weltwirtschaft. Das bekam auch die hiesige Exportwirtschaft zu spüren. Bald fiel auch hierzulande der deutsche Masochismus auf fruchtbaren Boden. Neo­liberale und Rechtskonservative ­lies­sen sich vom Reformfieber anstecken.

Der frisch aus der Taufe gehobenen Denkfabrik Avenir Suisse kam dabei eine führende Rolle zu. Ihr damaliger ­Direktor ­Thomas Held wurde eine Art Schweizer Antwort auf Hans-Werner Sinn. Er eilte von ­«Arena» zu «Club» und verkündete dabei stets die gleiche Botschaft: Wir müssen reformieren und nochmals reformieren, sonst können wir uns unsere Wettbewerbsfähigkeit und unsere Altersrente bald ans Bein streichen.

Schützenhilfe erhielt Held von ­seinem Nachfolger Gerhard Schwarz, dem damaligen Wirtschaftschef der NZZ. Ebenfalls mächtig ins Zeug legte sich Staatssekretär und Seco-Chef Jean-Daniel Gerber. Dieser verstieg sich in einer legendär gewordenen «NZZ am Sonntag»-Kolumne gar zur Behauptung, die Schweiz werde ins Armenhaus absteigen. Trotzdem hatte in der Schweiz die Reformwut kaum Auswirkungen. Der damalige Wirtschaftsminister Joseph Deiss liess zwar ein 13-Punkte-­Reform­programm aus­arbeiten. Keiner dieser Punkte wurde jemals verwirklicht, und wenn, hätte es kaum jemand ­gemerkt.

George Sheldon, Arbeitsmarkt­spezialist an der Universität Basel, hatte ausgerechnet, dass beispielsweise die ­Umsetzung des damals ­vehement ­geforderten Binnenmarktgesetzes das Brutto­inlandprodukt ­gerade mal um 0,0013 Prozent erhöht hätte. Umgekehrt sorgten weiterhin stei­gende Löhne und Renten für eine starke Binnennachfrage und ­sichere ­Arbeitsplätze.

Masochisten werden aktiv

Ganz anders in Deutschland. Dort wurde die Agenda 2010 der rot­grünen Koalition knallhart durch­gedrückt, mit dem Resultat­, dass deutsche Löhne im Vergleich zum ­übrigen Europa mehr als 20 Prozent ­fielen. Diese Austeritätspolitik machte­ die Schweiz attraktiv für ­Arbeitnehmer aus dem Nachbarland. Die Deutschen führen die Rangliste der Zuwanderer seit Jahren an.

Die Weltwirtschaft lahmt, erste Auswirkungen auf die Exportländer Deutschland und Schweiz machen sich bemerkbar. Sollte sich die Krise verschärfen und es zu einem merk­lichen Anstieg der Arbeitslosen­zahlen kommen, werden die Masochisten bald wieder aktiv. Ökonomen wie Hans-Werner Sinn werden jede nur denkbare ­Reform fordern. Avenir Suisse wird erneut in dieses Lamento einstimmen, ­Reformstau anmahnen und flexible Arbeits- und Binnenmärkte ein­fordern.

Und was ist mit der «soliden Wirt­schaftpolitik», die heute so gelobt wird? Sie wird als blosses Geschwätz von gestern abgetan ­werden. Wetten?

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12

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