«Hier wollen viele gar nicht besser werden»

Alessandro Lodi will alles über Volleyball wissen – und immer alles besser machen. Kein einfacher Job wenn man in der Schweiz als Trainer arbeitet, wie der Coach von Sm’Aesch Pfeffingen am Montag feststellen musste. Er wurde entlassen – wegen Dissonanzen mit den Spielerinnen. Wir haben mit ihm noch vor seiner Kündigung über seine Trainingslehre gesprochen.

FOTO: TAGESWOCHE/STEFAN BOHRER ORT: BASEL - 25.11.2013: ALESSANDRO LODI, TRAINER VON SMASH PFEFFINGEN. (Bild: Stefan Bohrer)

Alessandro Lodi will alles über Volleyball wissen – und immer alles besser machen. Kein einfacher Job wenn man in der Schweiz als Trainer arbeitet. Der Coach von Sm’Aesch Pfeffingen über seine Art der Trainingslehre.

Der Weg zu Alessandro Lodi führt in den Ausstellungsraum einer Garage. Dort, schräg in der Ecke, versteckt hinter einem massigen Geländewagen, den sein Club-Präsident Werner Schmid feilbietet, hat der 35-Jährige sein «Büro». Seit dieser Saison ist Lodi vollamtlicher Cheftrainer der Volleyballerinnen von Sm’Aesch Pfeffingen; seine erste Anstellung in der Nationalliga A.

Lodi entlassen – wegen Dissonanzen mit Spielerinnen

Die Volleyballerinnen von Sm’Aesch-Pfeffingen haben einen neuen Trainer: Am Montag, 3. Dezember 2013, löste Timo Lippuner den bisherigen Coach Alessandro Lodi ab. Wie die «Basler Zeitung» berichtet, gab es Dissonanzen zwischen Spielerinnen und Trainer. Präsident Werner Schmid sagte der BaZ: «Ich bin vor der Wahl zwischen Spielerinnen und Trainer gestanden.» Bei den Spielerinnen sank offenbar die Motivation, sie sollen sich auch über den «forschen Ton» beklagt haben.

Seit 2004 lebt der Italiener in der Schweiz, das Gespräch führt er in ­perfektem Deutsch. Es dauert fast doppelt so lang wie die 45 Minuten, die er ursprünglich zugesagt hatte. Eigentlich logisch, schliesslich sprechen wir über Volleyball. Jene Sportart, mit der sich Lodi laut eigener Aussage 15 Stunden am Tag beschäftigt.

Alessandro Lodi, Sie sollen eine Doktorarbeit über Volleyball geschrieben haben …

Nein, das stimmt nicht. Meine Doktorarbeit war über die Philosophie der Antike und das Thema der Ethik. Es entstehen immer wieder solche Missverständnisse. Ich beschäftige mich sehr intensiv mit Volleyball, aber an der Universität habe ich Philosophie und Sozialwissenschaften studiert.

Eine Fehlinformation also, die da kursiert. Wobei sie wenigstens nicht Ihrer Karriere als Trainer abträglich sein dürfte.

Ich weiss nicht. Man kann viel Theoretisches schreiben, das dann in der Praxis wenig relevant ist. Ich sehe mich nicht als Volleyball-Akademiker, obwohl mir mein Studium jeden Tag hilft, in dem ich mich mit ganz anderen Dingen als Volleyball auseinandergesetzt habe.

Philosophie der Antike – was ­genau bringt das im Training mit einem Volleyball-Team?

Der Punkt ist nicht, was das spezifische Thema meiner Arbeit bringt. Aber alles, was hilft, Dinge zu erklären, Beispiele oder Metaphern zu finden. Es ist nicht so, wie wenn ein Automechaniker lernt, ein Rad zu wechseln. Diese Fähigkeit kann er danach eins zu eins im Beruf um­setzen. Als Trainer aber ist man halt jeden Tag 101 Prozent exponiert. Man muss mit so vielen unterschiedlichen Situationen umgehen … Das ist viel mehr, als jemandem eine Manschette beizubringen. Auf Englisch sagt man, «It’s rocket science» – es ist Raketen-Wissenschaft, wenn etwas sehr kompliziert ist. Es gibt die Geschichte eines Raketenbauers, der einen Volleyballtrainer kennen gelernt hat. Und der hat danach gesagt: «Weisst du was? Dein Job ist ja schwieriger als meiner. Denn du musst in so vielen Bereichen Bescheid wissen.» Eine schöne Geschichte. Weil es stimmt.

Sie sind erst 35-jährig und bereits Trainer. Warum? Sie könnten noch Spieler sein.

Auf dem Feld schien mir das Spiel irgendwie beschränkt. Und ich habe gedacht, dass ich ein paar Qualitäten mitbringe, die mich als Trainer erfolgreich werden lassen könnten. Ich hatte immer diese Idee des Vermittelns, dass ich andere besser machen könnte. Ich war immer sehr ehrgeizig und durfte bereits mit 18 Jahren als Trainer auf gehobenem Niveau arbeiten.

Und wie haben Sie den Schritt vom Feld auf die Bank vollzogen?

Ich war Schüler in Modena, der italienischen Hauptstadt des Volleyballs, und sollte am Schulturnier unser Team zusammenstellen. Da habe ich gleich während des Unterrichts die Positionen aufgeschrieben und wie wir spielen könnten. Danach musste ich wieder alles anpassen, weil niemals alle da waren, was mich schon damals wütend gemacht hat. Diese Papiere habe ich heute noch, und wenn ich sie anschaue, denke ich: «Aber das stimmt ja alles nicht. So kann man gar nicht spielen.»

Wenn in Schweizer Schulen Volleyball gespielt wird, dann geht das nicht viel weiter als «eins, zwei, drei» – und wenn man Glück hat, bugsiert der oder die Letzte in der Reihe den Ball irgendwie über das Netz. Da muss doch mehr sein. Entschuldigen Sie die Laien-Frage: Gibt es im Volleyball Taktiken?

Das ist keine dumme Frage. Im Volleyball gibt es sechs Positionen und man rotiert. Das wissen vielleicht die meisten. Doch aufstellen kann man sich ganz unterschiedlich. Klar, es gibt Regeln, die zu respektieren sind. Aber wenn ein Laie auf ein Volleyballfeld blickt, kann er nicht sagen, wer auf welcher Position spielt.

Kann man den gegnerischen Trainer überraschen? Passiert es Ihnen, dass Sie sich an der Seitenlinie fragen, was das gegnerische Team da genau spielt?

Die Überraschung entsteht nicht, weil etwas geschieht, was man noch nie gesehen hat. Die Überraschung entsteht daraus, dass man etwas in diesem Moment von diesem Team nicht erwartet hat. Etwas Neues zu erfinden ist sehr schwierig. Ein anderes Thema aber sind die vielen interessanten Varianten, die es in der Geschichte des Volleyballs bereits gegeben hat, die aber inzwischen fast ausgestorben sind. Vielleicht, weil das Spiel vereinfacht und dafür schneller gemacht worden ist.

Das heisst, Volleyball ist heute ärmer an taktischen Varianten?

Was die Angriffsvarianten angeht, gab es in den Achtzigern und Neunzigern eine Reihe von Möglichkeiten, die heute nicht mehr genutzt werden. Die Folge ist, dass die Leute denken, dass sie gar nicht mehr existieren.

Aber Sie kennen die alten Varianten noch?

Wenn man sich die alten Spiele anschaut, kennt man sie sehr wohl. Da kommt wieder mein Background mit den historisch-klassischen Studien. Für mich hat die Geschichte eine ­riesige Bedeutung. Für mich ist klar, dass ich alles wissen muss, was in der Entwicklung des Volleyballs passiert ist, um meine eigene Position, meine eigene Idee zu entwickeln.

«Weil schon Kinder mit nur einer Passeuse spielen, fehlen diese dann in der NLA.»

Wobei kann denn diese historische Kenntnis helfen?

Nehmen wir die Frage, ab welchem Alter sich die Spielerinnen auf gewisse Positionen spezialisieren sollen. Ein Thema, das eigentlich breit diskutiert werden müsste. Aber die Leute denken: «Ach, das ist doch klar. Man spielt mit einem Passeur, und alle anderen greifen an, man kann nur so spielen.» Und dann spielen schon Zwölfjährige mit nur einem Passeur.

Aus Ihrer Sicht ein Fehler?

Es ist überhaupt nicht so, dass man keinen Top-Passeur entwickeln kann, wenn er bis 17, 18 gleichzeitig passt und angreift. Die Geschichte zeigt, dass es Top-Passeure gab, die auch Angreifer waren. Das System mit nur einem Passeur wurde erst 1974 von Polen aus ganz spezifischen Gründen entwickelt. Vorher gab es das System mit nur einem Zuspieler gar nicht. Seither aber sagt man: «So wird eben auf höchstem Niveau gespielt.» Und dann spielen alle so.

Das System hätte sich doch kaum durchgesetzt, wenn es nicht effektiv wäre?

In der Schweiz ist selbst in der Nationalliga A der Frauen das Niveau nicht so hoch, dass man unbedingt eine Top-Passeuse braucht. Natürlich, wenn man eine sehr gute Zuspielerin hat, dann entscheidet sie das Spiel. Aber eine gute Passeuse, die zwei, drei Sachen kann und auch angreift, wäre absolut ausreichend. Im Hinblick auf die Angriffseffizienz wäre diese Variante sogar besser.

Und warum spielen dann trotzdem alle mit nur einer Passeuse?

Weil bereits bei Elfjährigen nur eine Zuspielerin aufgestellt wird. So wird nur eine geringe Anzahl an Passeusen ausgebildet. Also fehlen sie auch in der Nationalliga A. Man kann gar nicht anders spielen. Ich hätte gerne die Wahl. Aber auch ich kann nur das 5-1-System spielen lassen.

Und trotzdem soll Sm’Aesch in dieser Saison ganz anders spielen als in der letzten Spielzeit?

Wir spielen sehr schnell, das muss unsere Eigenschaft sein. Wir haben keine Angreiferinnen wie Köniz oder Voléro. Darum müssen wir auf Geschwindigkeit setzen, wenn wir mit höher dotierten Teams mithalten wollen. Wir können nicht einfach den Ball hoch spielen und hoffen, dass jemand diese Bälle killt. Die killt bei uns kein Mensch. Das haben wir in unserer Analyse der letzten Saison von Sm’Aesch festgestellt: Da wurden einfach hohe Bälle gespielt. Aber dann muss man auch eine Spielerin kaufen, die diese Bälle verwerten kann. Oder man spielt halt anders. Wir spielen schnell.

Ist das der von Präsident Werner Schmid angekündigte «amerikanische Stil», den er allerdings auch nicht erklären konnte? ­Helfen Sie ihm und uns?

Den amerikanischen Stil schlechthin gibt es nicht. Was stimmt: Dass wir methodisch nach einer bestimmten amerikanischen Schule arbeiten. Aber das schnelle Spiel ist kein wesentlicher Teil davon.

Worum geht es dann?

Mehr um Arbeitsmethodik, um ­Trainings. Wie vermittelt man Techniken am besten? Es ist mehr eine didaktische Sache.

Die chinesische Trainingsmethode soll lauten: «Du wiederholst ­etwas so lange, bis du es kannst.» Wie trainieren Sie?

Es stimmt, man muss etwas oft wiederholen, bis man es kann. Aber es geht nicht um die Anzahl Wiederholungen, sondern um die Spielnähe dieser Wiederholungen. Jede Übung muss unmittelbar mit dem verbunden sein, was im Spiel passiert. Je näher das Training am Spiel ist, umso grösser ist der Lerneffekt.

Das heisst konkret?

Dass man im Training nicht mit Choreografien arbeitet, wo man zwar eine Volleyball-Geste macht, aber im Rahmen eines Zirkus, der nichts mit dem Spiel zu tun hat. Darum trainieren wir viel sechs gegen sechs. Das mag wie ein Spiel aussehen, ist aber jeweils eine Übung für eine sehr ­spezifische Bewegung. Das baut auf wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik und des «motor learning» auf, darauf, wie der Mensch Bewegungen am besten erlernt.

«Der grösste Trainer aller Zeiten ist an der Schweiz spurlos vorbeigegangen.»

Sie waren in diesem Sommer in Traingingscamps in den USA. Kommen Ihre Ideen von dort?

Also, mein Mentor Nummer 1 ist Carl McGown. Er ist der Begründer dieser Trainingsmethodik. Die ersten Dinge von ihm habe ich 1996 gelesen, «Science of Coaching Volleyball». Wirklich kennengelernt habe ich ihn aber erst 2011, als er Schweizer Nationaltrainer der Männer geworden ist. Da habe ich die Chance genutzt, um ständig in den Trainings dabei zu sein. Man kann so viel von ihm lernen. Aber ich war der Einzige, der das wollte. Er ist praktisch spurlos an der Schweiz vorbeigegangen.

Niemand hierzulande hat seine Fähigkeiten erkannt?

Niemand. Nur ich und mein Assistent waren immer in den Trainings. Dabei ist er der grösste Volleyballtrainer aller Zeiten. Der Grösste! Er hat die Trainingsmethodik auf wissenschaftliche Beine gestellt. Ich war 2011 ein guter Trainer, das schon. Aber bei Carl McGown lernt man Dinge, von denen ich gar nicht wusste, dass sie existieren. Er hat alles haargenau systematisiert.

Das klingt nach einer Art Über-Trainer.

Dabei ist er kein alter Guru, der einfach seine Weisheit verbreitet. Er will jeden Tag dazulernen. Wir sind ständig in Kontakt. Und wenn ich ihm per E-Mail etwas Neues schicke, einen Artikel, eine Idee, dann schreibt er zurück: «Danke, hilf mir weiterhin bei meiner Weiterbildung.» Und das schreibt ein 76-Jähriger!

Sie sind aus Italien, einem Land mit Volleyball-Tradition, in die Schweiz gekommen, wo das Hallenvolleyball international kaum eine Rolle spielt. Haben Sie erst die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen?

Es ist nicht so, dass man sagt: «Oh, das Niveau ist schlechter!» Man kann auch in Italien in Regionen arbeiten, in denen Volleyball nicht top ist. Aber wie die Schweizer denken, reagieren, was sie wollen, was sie ­sagen – das ist ganz anders.

Nämlich?

Was ich beobachtet habe: Viele wollen eigentlich gar nicht besser werden. Die Leute in der Schweiz wollen nicht, dass man ihnen sagt: «Bis jetzt war es schlecht. Das kann man viel besser machen.» Man muss sehr aufpassen, wenn man Dinge verändern will. Und ich will immer Dinge verändern. Immer! Aber die Leute denken: «Wir machen es gut, denn wir machen es mit Herzblut.» Ja, Herzblut, das ist das Argument gegen alles Neue. Im Amateur­bereich denken alle, man dürfe niemanden kritisieren, der etwas mit Leidenschaft macht. In der Schweiz muss man mit sehr viel Fingerspitzengefühl vorgehen. Eine Eigen­schaft, die ich nicht besitze, weil ich selbst Veränderungen gegenüber immer sehr offen bin. Mein Glück ist, dass die Leute, mit denen ich jetzt arbeite, damit umgehen können.

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 29.11.13

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