Historikerin Claudia Opitz: «Kinderarbeit ist nicht per se schlecht»

Eltern befürchten, in der Erziehung etwas falsch zu machen. Aus der Geschichte kommt eine beruhigende Erkenntnis: Viele Wege führen zum Ziel.

Wenn die nichts ausgeheckt haben. Wobei: Kinder im 18.Jahrhundert waren auf Gehorsam getrimmt. (Bild: The Print Collector/ Getty Images)

Wie sehr lebte ein Kind im Mittelalter anders als heute? Historikerinnen und Historiker diskutieren in einer Ringvorlesung an der Universität Basel neue Forschungsergebnisse. Wir haben mit Claudia Opitz, Professorin für Geschichte der frühen Neuzeit, darüber gesprochen, wie es Kindern früher ging – und warum heute auch nicht alles besser ist.

Claudia Opitz, ging es den Basler Kindern früher besser oder schlechter?

Ich gehe davon aus, dass sich jeder Mensch in jedem kulturellen und historischen Umfeld wohlfühlen und entwickeln kann. Wobei, jetzt habe ich mich selber ertappt: Die Vorstellung, dass sich das Kind «entwickelt», ist an und für sich schon sehr modern.

Claudia Opitz ist Professorin für Geschichte der frühen Neuzeit an der Universität Basel.

Sie impliziert, das Kind sei noch nicht fertig.

Man betrachtet es gewissermassen wie eine Puppe, die sich zum Schmetterling entfaltet. Das richtige Leben beginnt später: Wenn die Hausaufgaben erledigt sind, wenn die Schule und die Lehre abgeschlossen sind, die Karriere angefangen hat. Die Kinder investieren ständig in ihre Zukunft.

Ist das schlecht?

Es ist eine Art Zwangsjacke, man kann eigentlich gar nicht im Hier und Jetzt leben.

War es früher anders?

Vor der Moderne hat ein Kind vielleicht eher im Moment gelebt. Es hat mitgeholfen, vielleicht sogar Geld verdient und so zum Lebensunterhalt der Familie beigetragen.

Sprechen Sie sich für Kinderarbeit aus? Während der Industrialisierung mussten Kinder über 15 Stunden am Tag schuften.

Die Früh-Industrialisierung war speziell. Friedrich Engels beschrieb in «Die Lage der arbeitenden Klasse in England», wie die Industriellen die Arbeiter ausbeuteten, auch die Erwachsenen, indem sie ihnen auf jede mögliche Weise Geld aus der Tasche zogen. Das waren Situationen, wie sie heute Prostituierte erleben.

«Heute leben Kinder in einer Zwangsjacke. Sie können eigentlich gar nicht im Hier und Jetzt leben.»

Inwiefern?

Zuhälter holen Frauen aus Osteuropa und rechnen ihnen dann für die Reise, die Unterkunft und Verpflegung Tausende Franken Schulden an, die sie jahrelang abarbeiten sollen. So ähnlich muss man sich das auch in der frühen Industriearbeit vorstellen. Das war schon ein erheblicher Unterschied zum Handwerk oder der Hausindustrie auf dem Land während der frühen Neuzeit.

Zum Beispiel die Baselbieter Posamenter?

Ja, die ganze Familie arbeitete jeweils am Webstuhl in der Stube. Die ganz Kleinen spulten die Seidenfäden oder spannen. Das war nicht so hart für die Kinder wie die Industriearbeit oder die Arbeit «unter Tage», im Bergbau.

Was war wirklich hart?

Arbeitslosigkeit. Damals gab es dagegen keinen Schutz, keinen Sozialstaat. Mindestens 30 Prozent der Bevölkerung lebten von der Hand in den Mund, stets an der Armutsgrenze, wie die Menschen in manchen afrikanischen Ländern heute noch. Und sobald es einmal eine schlechte Ernte gab und die Güter teurer wurden, kamen weitere 20 Prozent dazu, die unter Hunger und Fehlernährung litten. Das führte dann oft zu Seuchen und anderen Krankheiten.

Also wollten die Kinder unbedingt arbeiten.

Ja. In Südamerika gibt es auch heute eine Kinderbewegung, die gegen Kinderschutzgesetze kämpft. Sie wollen zur Schule gehen und nebenbei arbeiten können. Von daher finde ich Kinderarbeit nicht per se schlecht. Diese Kinder wissen, was Geld wert ist, und machen sich nicht von Erwachsenen oder karitativen Einrichtungen oder dem Betteln abhängig, um ihre Existenz zu sichern.

«Wir gehen davon aus, dass die Aufzucht von ganz kleinen Kindern jahrtausendelang unverändert praktiziert wurde.»

Aber im Mittelalter hat man die Kinder sehr autoritär und religiös erzogen.

Über die Religiosität der Bauern wissen wir wenig, die kommen in den historischen Quellen genauso wenig vor wie die Kinder. Man berichtete vor allem über diejenigen Menschen, die sich so sehr von der Kirche entfernt hatten, dass sie als Ketzer bezeichnet und hingerichtet wurden. Das waren häufig gebildete Städter, die die Bibel anders auslegten. Wir gehen aber schon davon aus, dass die Aufzucht von ganz kleinen Kindern jahrtausendelang unverändert praktiziert wurde. In der Gelehrtenkultur des Mittelalters gab es enge Vorstellungen von dem, was Kinder sind. Da spielte der religiöse Rahmen eine grosse Rolle.

Welche?

Es heisst zwar in der Bibel: «Lasst die Kinder zu mir kommen.» Oder auch: «Wenn ihr nicht so werdet wie die Kinder…» Kinder werden also als vorbildlich im Glauben dargestellt. Gleichzeitig galten sie als Wesen, die näher beim Satan sind als gute Christen. Sie galten als unvernünftiger und schwächer als Erwachsene. Doch mit Gottes Hilfe würden sie gross und stark und fromm werden. Es gab den Spruch: «Ein Kind ist wie ein schwankendes Reisig, man muss es festbinden, damit es zu einem geraden Baum heranwächst.» Deshalb wickelte man die Babys auch so fest ein.

In Tücher?

Es waren Bänder, ähnlich wie heutige Verbände für verstauchte Handgelenke. Und dann, als die Aufklärung kam, dachte man: «Die armen Kinder, die können sich ja gar nicht entfalten», im wahrsten Sinne des Wortes, und man liess sie strampeln. Die Kinder hatten aber, sobald sie laufen konnten, auch viele Freiheiten. Sie durften viel mehr draussen spielen als heute, bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.

«Aus historischer Perspektive gibt es keinen objektiven Massstab dafür, was für Kinder gut oder schlecht ist.»

Heute «pucken» die Eltern ihre Babys wieder, wickeln sie also in Tücher, damit sie sich geborgen fühlen.

Sie denken, das Neugeborene vermisse die mütterliche Umklammerung aus der Gebärmutter. Das Einwickeln soll ihm helfen, sich zu spüren. Es strampelt dann nicht so unwillkürlich vor sich hin, weil es noch keine Kontrolle über die Gliedmassen hat. Die müssen die Babys ja erst lernen. Die Frage ist dann aber, an welchem Tag man sie freilassen muss, um diesen Lernprozess zu fördern.

Die Frage aller Fragen: Wie viel Freiheit und wie viele Grenzen braucht ein Kind. Haben Sie eine Antwort?

Die Geschichte zeigt, dass es ganz unterschiedliche Möglichkeiten gibt, Kinder in die Gesellschaft hineinzuführen. Aus historischer Perspektive gibt es keinen objektiven Massstab dafür, was für Kinder gut oder schlecht ist.

Da sind viele Mütter und Väter aber anderer Meinung, ebenso wie Pädagogen oder Kinderärztinnen, die darüber streiten, was Eltern alles falsch machen.

Das ist eine Qualität der Moderne, dass wir über vieles grundsätzlich nachdenken und verschiedene Meinungen haben dürfen. Seit der Aufklärung gibt es keine alleingültige Wahrheit mehr, jetzt müssen wir untereinander aushandeln, was wir richtig finden und was nicht. In dieser Logik müssten wir den Kindern viel mehr Raum geben zum Mitreden oder Mitbestimmen. Beispielsweise in der Stadtentwicklung. Das betrifft die Realität von Kindern ungemein.

«Kinder müssen nicht zwingend geschützt werden. Schutz bedeutet immer auch Bevormundung.»

Sie wollen eine Demokratie, in der Kinder mitbestimmen?

Ja! Sie werden mit denselben Argumenten ausgeschlossen, wie Männer Frauen in der Schweiz jahrhundertelang vom Stimmrecht ausschlossen: «Sie sind emotionaler, sie sind schwächer, man muss sie schützen, sie sind unmündig.» Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Männern und Frauen und Erwachsenen und Kindern. Aber wieso ist jemand weniger gleich, nur weil er jünger oder weiblich ist?

Brauchen die Kinder denn keinen Schutz?

Es kommt auf den Kontext an. Aber Schutz heisst oft Bevormundung, das zeigt die feministische Forschung. Schutzgesetze bei Frauen dienen oft dazu, sie aus der Politik oder dem Arbeitsprozess rauszuhalten. Es braucht mehr Mitspracherechte für Kinder.

Haben Kinder wirklich zu wenig Macht? Der deutsche Kinderpsychiater Michael Winterhoff kritisiert, Kinder seien zu Tyrannen geworden.

Das ist kein Gegensatz. Kinder gelten gerade in ihrer Naivität und Schwäche als wunderbar und anbetungswürdig. Kommt hinzu, dass wir das Kind heute in erster Linie als Verlängerung von uns selbst aufziehen. Das ist ein enorm narzisstisches Projekt. Ein Kind dient häufig auch der Selbstverwirklichung der Eltern.

«Diese narzisstische Haltung von heute, die kann ich mir bei früheren Generationen nicht vorstellen.»

Kinderhaben ist doch auch ein Zwang. Wenn eine Frau keines hat, wird sie entweder bemitleidet oder als egoistisch kritisiert. 

Mag sein, aber meistens hat man die Wahl. Es ist nicht so wie in traditionellen Gesellschaften, wo man heiratet, um Kinder in die Welt zu setzen. Das Kinderhaben ist eine geplante Aktion, die zu einem gelungenen Leben dazugehört. Und wehe, wenn jemand mein Kind kritisiert oder anfasst oder mein Kind mobbt, das ist schlimmer, als wenn man selber gemobbt wird!

Weil man das Kind so sehr liebt.

Ja, das ist das eigene Fleisch und Blut. Das, was einem am Nächsten ist. Das Kind ist einem teilweise näher als der eigene Partner.

War das vor der Aufklärung nicht so?

Die Leute waren auch traurig, wenn das Kind krank war. Und sie setzten sich auch für Kinder ein. Im 18. Jahrhundert beispielsweise schufen die Basler Behörden Bettler aus der Stadt aus. Doch wenn sie Kinder ausschaffen wollten, stellte sich die Basler Bevölkerung häufig schützend vor sie, sodass sie in der Stadt bleiben durften. Da sieht man schon auch ein Engagement für Kinder. Aber diese narzisstische Haltung von heute, die kann ich mir bei früheren Generationen nicht vorstellen.

Weshalb nicht?

Die Persönlichkeitsentwicklung war eine andere. Man verstand sich weniger als Individuum und mehr als Mitglied einer Familie, als Teil seiner Vorfahren. Die Leute nahmen es kalt lächelnd hin, dass Kinder in der Schule verprügelt wurden.

Was dachten die Kinder darüber?

Bis ins 19.Jahrhundert war das Selbstverständnis der Kinder von der Frage geprägt: «Tue ich das, was ich tun soll?»

«Auch die heutigen autoritären Vorstellungen von Erziehung stehen in der Tradition der Aufklärung.»

Sie waren auf Gehorsam getrimmt. 

Wir haben Generationenkonflikte in Basel erforscht und kaum welche gefunden. Nicht einmal während der Aufklärungsphase im 18. Jahrhundert, während der helvetischen Revolution. Die Vorstellung, dass ein Sohn dem Vater Gehorsam schuldet, war so tief verwurzelt bei den Leuten! Die extremste Geschichte war die des Revolutionärs Peter Ochs.

Was war passiert?

Nachdem die Revolution gescheitert war, bat Peters Sohn darum, den Nachnamen seines Grossvaters, His, annehmen zu dürfen. Dahinter steckte bestimmt ein Generationenkonflikt, aber der Sohn zeigte das nicht. Er hätte nie gesagt: «Ich hasse meinen Vater und will mit der Revolution nichts zu tun haben.»

Sondern?

Stattdessen argumentierte er, er könne mit dem Namen Ochs nicht mehr öffentlich auftreten, er werde angegriffen und verspottet. Das war das Maximum an Aufmüpfigkeit. Und immerhin wählte er dann den Namen des Grossvaters, also auch eine Vaterfigur.

Hat dieser Gehorsam den Kindern nichts ausgemacht?

Das ist die Frage. Ein anderer Sohn von Ochs hat sich das Leben genommen, weil er die Frau, die er liebte, nicht heiraten durfte. Ein Selbstmord war auch damals eine sehr brutale Ansage. Es gab mehrere Selbstmorde in der Basler Oberschicht während dieser Zeit. Aber ob das dann tatsächlich an der Erziehung liegt?

Das würden wir heute vermuten.

Ja, vielleicht war der Sohn aber auch von Geburt an «melancholisch» veranlagt, also depressiv. Die ganze Familie war ein bisschen so. Wir können es aber heute schlicht nicht mehr «beweisen».

Heute gibt es beide Tendenzen der Erziehung: Die tendenziell Linken wollen lieber eine lockerere Erziehung, in der sich die Kinder «frei entfalten». Konservative fordern «mehr Grenzen», damit die Kinder belastbar werden.

Ja, es gibt heute mehr Schwankungen vom konservativen zum liberalen, vom autoritären zum antiautoritären Denken und wieder zurück. Aber auch die heutigen autoritären Vorstellungen haben nichts mit der Erziehung in der Vormoderne zu tun, auch sie stehen in der Tradition der Aufklärung.

«Wir denken, Kinder seien so beeinflussbar. Aber hallo! Letztendlich sind wir Erwachsenen genauso beeinflussbar.»

Inwiefern?

Es gab in der Aufklärung nicht nur grenzensprengende und stark demokratische Köpfe, sondern auch staatstragende, patriotische. Aus ihrer Sicht musste man junge Menschen befähigen, gute Staatsbürger zu sein. Wie heisst es so schön: «Wir können nicht nur Häuptlinge ausbilden, wir brauchen auch Indianer.» Der Spruch hätte eins zu eins aus der Aufklärung stammen können.

Sie fordern, dass Kinder bereits als Kinder Staatsbürger sein dürfen. Besteht nicht die Gefahr, dass sie von Interessensgruppen vereinnahmt werden?

Ja, das kann schon passieren. Zu dieser Frage gibt es auch eine heisse Debatte unter Historikern, es geht um die Hexenverbrennungen. Damals, das heisst vor allem im 17. Jahrhundert, wurden auch Prozesse gegen Kinder geführt. Die Kinder gingen etwa zu Pfarrern oder Stadträten und sagten: «Ich bin eine Hexe, ich war auf dem Sabbat und diese und jene war auch da.» Oder, wie Eveline Hasler im Roman «Die Mäuselmacher» so wunderbar beschrieb: «Ich kann Mäuse herzaubern.»

Warum denunzierten sich die Kinder selbst?

Das ist eben die Frage. Oft waren es randständige Kinder: Wuchsen die Prozesse auf ihrem Mist oder wurden sie von Erwachsenen angestiftet, um anderen Erwachsenen zu schaden?

Was sagten die Kinder über ihre Motive?

Die Prozessakten geben keine Auskunft darüber. Einige Forscher sind der Meinung, dass die Kinder missbraucht wurden, auch sexuell. Deshalb hätten sie ausgesagt, ihre Missbraucher hätten intime Beziehungen zum Teufel, um sie zu denunzieren. Das wäre eine gezielte Handlung dieser Kinder – und das ist ja nicht undenkbar, die Kinder waren zwischen acht und zwölf Jahren alt.

Was glauben Sie? In vielen Scheidungsgeschichten heisst es ja auch, Eltern würden ihre Kinder manipulieren.

Das ist am Ende sehr schwer zu entscheiden. Wir denken, Kinder seien so beeinflussbar. Aber hallo! Letztendlich sind wir Erwachsenen genauso beeinflussbar.

Ringvorlesung: Kindheiten – von der Urgeschichte bis heute. Jeweils Dienstags, 16–18 Uhr, Grosser Hörsaal Vesalianium. Zum Programm.

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