Roger Federer spricht im Interview über seine Flegeljahre, seine plötzliche Freude über die Silbermedaille von London und sein Fernziel Rio 2016.
Beweisen muss er sich und der Tenniswelt schon lange nichts mehr. Roger Federer hält in seinem Sport rekordverdächtig viele Rekorde. Und doch lässt das Tennis den 31-jährigen Baselbieter noch immer nicht los. Abtreten würde er, sagt er im Interview, am liebsten mit einer Goldmedaille an den Olympischen Spielen 2016.
Roger Federer, bald jährt sich Ihr erster Wimbledonsieg zum zehnten Mal. Wie blicken Sie auf dieses letzte Federer-Jahrzehnt zurück, auf zehn Jahre in der Weltspitze?
Es ist schon ein bisschen verrückt, dass das alles zehn Jahre her ist. Die Zeit ist regelrecht weggeflogen, ich fühle mich nicht so alt wie ich bin. Der Frühling 2003 war natürlich eine entscheidende Zeit für meine Karriere, der Sieg im deutschen Halle, danach der Sieg in Wimbledon. Das waren grosse, bewegende Momente.
Vorher gab es allerdings massive Zweifel an Ihnen. Nach dem Erstrunden-Aus bei den French Open 2003 war die Rede vom schlampigen Genie, das seine Chancen verschleudere. Das war ein Tanz auf dem Hochseil.
Ich bin damals tatsächlich mit einem gewaltigen Druck in die Rasenwochen gegangen. Ich habe auch von mir selbst verlangt, in Wimbledon mindestens den Viertelfinal zu erreichen – einfach, um diesen Ausrutscher in Paris zu tilgen. Dann wurde daraus das Märchen des Wimbledon-Erfolgs, das Märchen meiner ganzen Karriere eigentlich. 2003 habe ich auch allen zum ersten Mal zeigen können, dass ich lange Zeit auf extrem hohen Niveau spielen kann.
Sie waren nicht eines dieser Wunderkinder, das schon ganz früh zu spektakulären Erfolgen kam. Warum hatten sie anfangs so grosse Probleme im Erwachsenentennis?
In der Szene wussten viele, dass ich ein gewisses Talent besitze. Das schuf automatisch Druck, produzierte ein massives Anspruchsdenken. Und das wurde noch verstärkt durch Spieler wie Hewitt, Haas, Safin, Kiefer oder jemanden wie Martina Hingis. Das waren alles Profis, die in jungen Jahren schon sehr, sehr viel erreicht hatten. Einer wie Hewitt gewann sein erstes Profiturnier schon, als ich noch bei den Junioren unterwegs war. Dabei sind wir gleich alt. Aber ich brauchte meine Zeit, viel mehr Zeit als die Schnellstarter.
In jüngeren Jahren waren Sie bekannt und berüchtigt für ihre wilden Temperamentsausbrüche.
Man kann es auch klar sagen: Ich war ein Flegel. Ich zertrümmerte meine Schläger nicht unbedingt, warf sie aber vor Wut auf dem Platz herum. Ich konnte nicht besonders gut mit Niederlagen und Enttäuschungen umgehen, oft habe ich nach einem Turnierausscheiden heulen müssen. Auch mit den Schiedsrichtern habe ich mich gerne mal angelegt. Wenn ich diese Labilität nicht in den Griff gekriegt hätte, wäre ich unter «ferner liefen» im Tennis gelandet. Irgendwann habe ich mir gesagt: Du kannst zwar nicht alles gewinnen, du musst aber wenigstens alles versuchen und ruhig bleiben. Das habe ich dann auch eisern umgesetzt. Und dieses Prinzip gilt auch heute noch: Wenn ich weiss, dass ich alles gegeben habe, machen mir Niederlagen keine Mühe.
Viele dieser Senkrechtstarter sind schnell wieder unsanft auf dem Boden gelandet, beendeten sogar rasch ihre Karrieren. War dieser spätere Durchbruch nicht sogar ein grosser Gewinn?
Ganz sicher. Ich bin anfangs durch tiefe, tiefe Täler marschiert. Ich wusste nur zu gut, wie sich Niederlagen anfühlen, was Bitterkeit bei einem Profi heisst. Deshalb schätze ich bis heute jeden einzelnen Turniersieg so hoch ein – ganz gleich, wo ich nun spiele.
Wundert es Sie selbst, dass Sie auch heute noch auf dem Centre Court stehen – jenseits der Dreissig, im Kampf mit immer neuen Generationen von Herausforderern?
Ich hatte zwar manchmal keine Lust zu verlieren. Aber ich hatte nie keine Lust, Tennis zu spielen. Tennis ist für mich immer noch und immer wieder dieses wunderbare Spiel, das ich so schlicht geniesse wie ein Kind. Ein Job war das alles nie für mich, es war ein gelebter Traum.
Sie haben allerdings auch ein privilegiertes Leben geführt in den letzten Jahren.
Aber diese Erfolge hat mir niemand auf einem Silbertablett serviert. Ich musste hart dafür kämpfen, dass ich mein Talent auch in Siege umwandeln konnte. Natürlich wäre alles schwerer gewesen mit der Motivation, wenn man im Mittelfeld geblieben wäre, auf kleinen Plätzen gespielt hätte. So aber ist die Freude geblieben, eine ganz natürliche Freude an diesem Sport. Ich kann mit gutem Gewissen sagen: Ich hatte noch keinen einzigen Tag in meinem Tennis-Leben, an dem ich keine Lust aufs Training oder ein Match gehabt hätte. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass ich von schweren Verletzungen verschont geblieben bin. Wenn du dir dauernd Sorgen um den eigenen Körper machen musst, hängt dir das wie ein Nebelschleier um den Kopf. Wie ein Nebelschleier, der nie richtig weggeht.
Das Leben im Tenniszirkus ist anstrengend und komplex, vor allem, wenn man auch mit Familie und Kindern reist. Macht Ihnen das Leben aus dem Koffer noch Spass?
Ich bin immer noch neugierig auf die Menschen und die Städte, in die ich reise. Ich entdecke immer noch Neues, Überraschendes, Kurioses. Wir Spieler haben sowieso alle dieses Abenteurer-Gen im Blut, wir sind eben Weltenbummler. Die Familie Federer, also Mirka, die Zwillinge und ich, die ist total aufs Herumtouren eingestellt, meine Töchter sind sehr unkomplizierte Traveller.
Wären Sie denn ohne Ihre Familie überhaupt noch auf der Tour unterwegs?
Vermutlich nicht. Ich hatte immer diesen grossen Wunsch, dass wir als Familie noch einige grosse Erfolge gemeinsam erleben können. Deshalb war Wimbledon 2012 auch etwas so Grosses – mit der ganzen Familie, die das zusammen erlebt hat.
Können Ihre Töchter inzwischen einschätzen, dass Ihr Vater kein ganz normaler Vater ist?
Ein bisschen schon. Sie freuen sich aber noch immer am meisten, wenn ich Zeit für sie habe, wenn wir zusammen etwas unternehmen – und nicht, wenn ich auf dem Centre Court einen Pokal hoch halte. Da kommt die Emotionalität natürlich eher von mir.
Das letzte Jahr war noch einmal ein ganz besonderes Jahr in Ihrer späten Karriere – mit der Rückkehr auf Platz 1 und dem Wimbledonsieg. Wenige haben Ihnen das noch zugetraut.
Ich lebe seit ein paar Jahren damit, dass mich Leute im Tennisbetrieb abschreiben und die Prognose stellen: Der Federer hat seine beste Zeit hinter sich. Ich wusste selbst, dass ich diesen Coup noch in mir drin habe. Die Saison 2012 habe ich sehr konstant auf hohem Niveau gespielt, ich war nicht perplex, dass ich dann Wimbledon gewonnen habe. Das Verrückte ist, dass man das Besondere an diesen Siegen vielleicht gar nicht gleich wahrnimmt.
Auch weil man im dicht gedrängten Terminkalender kaum einmal Zeit zur Besinnung hat, Zeit zum Feiern.
Klar, die Höhepunkte jagen sich ja. Im letzten Jahr hatten wir auch noch das Olympiaturnier. Dass ich mich jenseits der Dreissig wieder auf Platz eins kämpfe und in Wimbledon den Rekord breche, werde ich vielleicht erst dann richtig zu schätzen wissen, wenn ich mal aufgehört habe. Dann wird mir klarer werden, wie aussergewöhnlich dieser Sieg war. Und dass es vielleicht der grösste Sieg überhaupt war neben dem ersten Sieg.
Trauern Sie noch der verpassten Goldmedaille in London nach?
Direkt nach dem verlorenen Final gegen Murray war ich unglaublich enttäuscht. Denn ich wusste: In Wimbledon Olympia zu spielen und die Chance auf Gold zu haben, das wird es nie mehr geben. Dann passierte etwas Seltsames: In den Raum, in dem ich sass und auf die Siegerehrung wartete, kam jemand rein und wollte mir die Zeremonie erklären. Den habe ich dann nach draussen gebeten, ich wollte meine Ruhe und noch mal fünf Minuten Zeit haben, um nachzudenken. In diesen fünf einsamen Minuten habe ich mich dann gefragt, ob ich nun wirklich enttäuscht oder doch stolz über diese Medaille sein soll. Ich sagte mir dann: Du magst bedrückt sein, aber du willst das auf keinen Fall mit dem Rest der Welt teilen. Diese Bilder eines enttäuschten Federer soll es nicht geben. So bin ich dann rausgegangen und habe mich plötzlich total über Silber freuen können, für mich und die Schweiz, denn es war ja die erste Medaille für mein Heimatland. Bis heute habe ich nie wieder einen Hauch von Enttäuschung gespürt.
Sie spielen in dieser Saison deutlich weniger Turniere, lassen auch den Davis Cup aus.
2012 war ein wirklich hartes Jahr für alle auf der Tour. Ich hatte kaum Zeit, ordentlich zu trainieren. Es gab praktisch keine Pause. Deshalb hole ich jetzt Training nach und arbeite auch schon vor, um 2014 wieder ein grösseres Pensum spielen zu können. Ich muss mir meine Kräfte genau einteilen, das ist das wirkliche Geheimnis des Erfolgs. Nach Indian Wells mal viele Wochen kein Turnier zu spielen, wird wichtig sein. Da muss ich die Grundlagen für den heissen Frühling und Sommer legen.
Der Spitzensport war in den ersten Wochen des Jahres überschattet von der sogenannten Doping-Beichte von Lance Armstrong. Wie haben Sie diese Bekenntnisse empfunden?
Ich sass genau fünf Minuten in Melbourne vorm Fernseher, dann habe ich dieses Trauerspiel abgeschaltet. Es war einfach nur gruselig. Mich entsetzt, wieviel Bösartigkeiten und Schlechtes ein Einzelner so vielen anderen Menschen angetan hat.
Welche Konsequenzen muss das Welttennis ziehen, der Sport reklamiert ja gern seinen nahezu dopingfreien Status?
Eins will ich dazu mit grosser Klarheit sagen. In diesem Sport braucht man kein Doping, um die Nummer 1 zu sein. Dafür stehe ich selbst gerade, ich habe mir das selbst über all die Jahre bewiesen. Und das liegt nicht nur daran, sehr viel Talent zu haben. Um allem Gerede zu begegnen, müssen wir Doping rigoros und aggressiv bekämpfen, da ist hundertprozentige Entschlossenheit gefragt. Und wir müssen klare, einschneidende Konsequenzen ziehen: Preisgelder müssen zurückgefordert und Turniersiege gestrichen werden. Man muss die Strafen empfindlich spüren. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, damit das Tennis sauber ist.
Noch ein Aufreger-Thema im Tennis ist das Stöhn-Verbot – es betraf zuletzt vor allem die Damentour.
Bei vielen ist es wie ein Tick. Eine zwanghafte Angewohnheit. Aber es ist gut, wenn man diesem Stöhnen einen Riegel vorschiebt. Schliesslich müssen wir aufpassen, dass die Zuschauer nicht weglaufen oder dass man sich lustig macht über die Spieler. Ich habe in meiner ganzen Karriere gespielt, ohne laut zu stöhnen – obwohl ich den Ball nun auch nicht ganz locker ins andere Feld bewege. Es geht eben auch ohne diese Begleitmusik.
Stand heute: Haben Sie da eine Idee, wie und wo Ihre Karriere ausklingen könnte?
Das Jahr 2016 habe ich oft genannt, als mir diese Frage nach dem Aufhören gestellt wurde – teils aus Schutz, teils aber auch mit einem realistischen Hintergrund. Ich habe Olympiagold im Einzel immer noch als Ziel vor Augen, deshalb schliesse ich ein Ende in Rio nicht aus. Die Kraft und die Motivation, die sind in jedem Fall da. Ganz sicher.