Der katalanische Starregisseur Calixto Bieito über seine «Carmen»-Inszenierung am Theater Basel, Gewalt auf der Bühne und seine Liebe zu Basel. Lesen Sie am Montag die Premierenkritik auf tageswoche.ch.
Es ist ein Erlebnis, Calixto Bieito gegenüberzusitzen. In geschliffen scharfen Sätzen spricht der 48-jährige Katalane über seine Arbeit an Opernstoffen und sein künstlerisches Credo. Bieito ist einer der schillerndsten Opernregisseure Europas. Sein Markenzeichen ist die schonungslose Darstellung von Hass und Gewalt auf der Bühne. Ein Sturm der Gefühle erwartet auch das Basler Premierenpublikum am kommenden Sonntag, wenn Bieito Georges Bizets «Carmen» auf die Bühne bringt. «Carmen» war 1999 Bieitos erste Operninszenierung und brachte dem Regisseur eine Reihe von internationalen Opernpreisen ein.
Herr Bieito, Georges Bizets «Carmen» scheint eine Oper zu sein, die Ihnen sehr viel bedeutet: Sie taucht in Ihrem Aufführungsverzeichnis immer wieder auf.
Ja, die Oper bedeutet mir sehr viel. Mit dieser Inszenierung hatte ich europaweit stets sehr viel Erfolg.
Was wird das Basler Publikum zu sehen bekommen?
Sehr viele Emotionen.
Und viel Blut?
Nein. Sehr viel Liebe, sehr viel Leidenschaft, sehr viel Verzweiflung. Und am Schluss des Abends wird alles auf das Existenzielle reduziert: zwei Menschen im Zweikampf – allein unter einem Scheinwerfer.
Was fasziniert Sie an der Figur der Carmen so sehr?
Sie tut Dinge, zu denen andere nicht fähig sind. Ich liebe sie, weil sie gefährlich lebt. Es ist wie bei den Soldaten, die in den Kampf ziehen. Sie können sterben. Und so wie Carmen lebt, wird sie ein Opfer werden. Das macht Carmen so faszinierend.
Was ist Carmen: ein Männer verschlingendes Ungeheuer, eine tragische Rebellin, ein Männertraum, eine feministische Ikone – oder alles zusammen?
Nichts von alledem. Sie ist eine starke Frau, die ihr Leben leben will, mit allen Konsequenzen. Sie lebt schnell. Sie will stets das Beste haben. Und sie hat keine Angst. Sie geht an die Grenzen und ist bereit, für ihre Leidenschaft mit allem zu brechen – und am Schluss sogar mit ihrem eigenen Leben dafür zu bezahlen.
Und was ist mit ihrer Gegenspielerin Micaela, die versucht, Don José zu retten?
Sie sucht ein einfaches Leben, in dem alles in Ordnung ist. Aber sie ist auch sehr mutig. Schliesslich folgt sie ihrem José sehr lange nach. Ich mag beide Frauen. Aber Carmen ist die spannendere. Sie ist ein unabhängiger Geist.
So wie Sie.
Ja, aber ich bin das nur auf der Bühne, nicht im richtigen Leben. Ich arbeite exzessiv, aber ich lebe nicht exzessiv.
Unglückliche Liebe ist eine Konstante in Ihren Inszenierungen. Warum eigentlich?
Liebe ist etwas Fragiles, Vergängliches. Carmen ist übrigens glücklich, zumindest im Moment und solange sie tun kann, was sie will. Sobald sie nicht mehr glücklich ist, verändert sie sich. Aber Carmen hat auch etwas, das schwer zu benennen ist – etwas Dunkles und sehr Faszinierendes. Etwas Geheimnisvolles, das auch Geheimnis bleiben muss.
Glauben Sie nicht, dass wir alle diesen dunklen Bereich in uns haben?
Ich kann nicht für andere sprechen. Ich jedenfalls spüre dieses Dunkle sehr stark in mir.
In vielen Opern wird uns unglückliche Liebe vorgeführt – und Sie zeigen uns das überaus deutlich. Glauben Sie nicht an die Kraft der Liebe?
Ich glaube an die Liebe. Es gehört zum Menschen, zu lieben und geliebt zu werden. Auch ich möchte geliebt werden. Aber die Liebe hat auch dunkle, gefährliche Seiten.
Hat sich Ihr Bild von «Carmen» seit der ersten Inszenierung 1999 verändert?
Das Konzept hat sich nicht verändert; die Bilder haben sich zum Teil verändert. Ich kann «Carmen» bei den Zigeunern spielen lassen, ich kann sie in Skandinavien spielen lassen. Aber das Konzept kann ich nicht ändern. Wir haben sehr hart daran gearbeitet. Wir versuchten herauszufinden, was den Süden Spaniens ausmacht. Wir gingen nach Sevilla, dann weiter zur südlichen Grenze Spaniens. Schliesslich besuchten wir für unsere Recherchen Marokko – und fanden dort viele Menschen, die versuchten, die Grenze nach Spanien zu überqueren. Und da wusste ich, dass das das Milieu für meine «Carmen» war.
Dann hat Carmen letzten Endes gar nichts mit Spanien zu tun wie in der Urfassung?
Nein. Wie gesagt, Carmen kann auch in Sibirien spielen. Es ist die Geschichte einer Frau, die frei sein will, die ihre Emotionen hundertprozentig ausleben will. Sie will Spass haben. Sie will nicht gestoppt werden – bis sie dann jemand tötet. Es ist eigentlich eine ganz einfache Geschichte.
Ihre erste «Carmen»-Inszenierung war in den letzten Jahren der Franco-Diktatur in Spanien angesiedelt – eine politische Absicht?
Nein. Viele meinten das, weil die Bühne im Stil der Siebzigerjahre eingerichtet war. Spanien spielt aber keine Rolle in diesem Stück.
Man könnte ja schon auf diese Idee kommen. Denn diese Art von Machismo ist im nördlichen Europa weniger verbreitet.
Die Situation von Carmen kann man sich doch überall vorstellen. Auch in der Schweiz. Eine Frau löst eine Beziehung auf, und der Mann tötet sie. Habt ihr in der Schweiz denn keine solchen Probleme?
Wenn Sie das Phänomen der häuslichen Gewalt ansprechen, dann lautet die Antwort Ja.
Sehen Sie. Es ist keine Frage der Nationalität. Vielleicht diskutieren wir solche Fragen in Spanien einfach offener. Bei uns gibt es die Notrufnummer 106 für Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden. Und das ist gut so; ich rufe die Frauen auch immer wieder dazu auf, sich zu melden. Gewalt gegen Frauen, tödliche Leidenschaft gibt es überall – aber in Spanien ist es ein grosses Thema. Im Norden Europas redet man vielleicht nicht so offen darüber.
Dann ist Ihre «Carmen»-Inszenierung auch ein Beitrag zu dieser Gewaltdiskussion?
In gewisser Weise schon. «Carmen» ist eine sehr emotionale Oper. Sie handelt von der Existenz an der Grenze. In Südspanien kann man die Leute, die an der Grenze leben, ja auch im Alltag sehen. Wir haben ein grosses Migrationsproblem. Was an der Grenze zwischen Marokko und Spanien abgeht, ist einfach verrückt. Die Menschen, die zu uns kommen, haben nichts und sind verzweifelt. Und die Polizisten bedrohen sie. Auch das wollte ich in «Carmen» zeigen. Als ich «Carmen» zum ersten Mal inszenierte, war ich sehr jung. Ich wollte diese Oper von allem Folkloristischen, Pittoresken säubern, ich ging zurück zur Urform mit gesprochenen Texten zwischen den Arien. Ich suchte die Essenz des Stücks, mit einer sehr strengen Dramaturgie.
Wie kamen Sie zur Oper?
Ich habe schon immer gesungen – von Kindesbeinen an im Chor der Jesuitenschule, die ich besuchte, ganz im Norden Spaniens. Mein Bruder ist Musiker, meine Mutter war Musikerin.Mein Vater liebte die italienische Oper und von Wagner die Ouvertüren, weil ihm die ganzen Opern zu lang waren … (lacht). Meine Mutter wollte mich zum Musiker machen, aber ich wehrte mich, weil sie zu starken Druck aufsetzte. So fand ich schliesslich zum Musiktheater.
Die Oper ist eine sehr traditionelle Kunstform. Die meisten Stücke sind zwischen dem 18. und dem frühen 20. Jahrhundert entstanden. Was kann uns diese alte Form heutzutage noch bieten?
Man kann alles mit der Oper machen. Vom Film bis zum modernen Theater. Natürlich kann man versuchen, die Erwartungen des traditionellen Publikums zu erfüllen. Aber das interessiert mich nicht. Es ist viel interessanter, etwas Neues zu versuchen, die Oper wiederzubeleben. Wenn Sie meine «Carmen» anschauen, werden Sie «Carmen» zum ersten Mal sehen.
In Ihrer Inszenierung von Giuseppe Verdis «Il Trovatore» kommt es auf der Bühne zu Massenvergewaltigungen, Folter, Hinrichtungen … Das herkömmliche Opernpublikum mag solches gar nicht. In Hannover etwa kündigten Hunderte von Zuschauern aus Protest das Abonnement. Warum tun Sie das mit den Zuschauern?
Es ist absolut nicht mein Hauptziel, das Publikum zu provozieren. Aber «Il Trovatore» ist eine Oper, in der Tod und Hass eine dominante Rolle spielen – wenn man das Stück ganz genau liest. Und diese Facetten des Stücks muss man in einer modernen Inszenierung auch zeigen. Eine pittoreske Umsetzung dieses Stoffes würde ich nie machen, obwohl ich verschiedentlich genau für solche Inszenierungen angefragt worden bin. Ich weiss, dass meine Aufführungen gewisse Leute abschrecken, aber ich will nicht einfach dem Publikum gefallen; ich kann einfach nicht anders, als Wahrhaftes auf der Bühne zu zeigen. Gewalt und Niedertracht sind Teil des Lebens. Für Leute, die das nicht ertragen und lieber herkömmliche Opern sehen wollen, gibt es ja viele Alternativen.
Auch Schriftsteller wie zum Beispiel Michel Houellebecq, mit dem Sie auch schon mal zusammengearbeitet haben, traktieren ihr Publikum mit einer Schocktherapie. Nutzt sich das nicht ab? Man muss ja die Dosis ständig erhöhen, um einen Effekt erzielen zu können.
Ja, ich inszenierte Houellebecqs Roman «Platforme». Und ich habe einmal mit ihm eine Fernsehsendung für Arte gemacht: «A night with Michel Houellebecq». Es war furchtbar …
Warum?
Er sagte einfach nichts … (lacht). Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ich glaube nicht, dass ich die Menschen einer Schocktherapie aussetze. Ich will das ja gar nicht. Ich sage immer, dass ich im nächsten Leben wohl Arzt werde, um Menschen in Entwicklungsländern zu helfen.
Wie bitte?
Im Ernst: Ich will nicht schockieren, sondern helfen.
Sind Sie ein Moralist?
Keine Ahnung. In England sagen sie das auch immer … (lacht). Ich versuche einfach, mich auszudrücken, als Künstler ganz nackt und durchlässig zu sein. Anders kann ich nicht arbeiten. Ich möchte meine Figuren möglichst menschlich gestalten. Ich will das Fleisch der Schauspieler sehen, das Blut, die Knochen …
Das machen Sie auf der Bühne durchaus auch im Wortsinn, wenn Sie Menschen nackt auftreten oder Kot essen lassen …
Lieben, lügen, betrügen, weinen, sterben – all das ist ja urmenschlich. Ich möchte das auf der Bühne zeigen. Vielleicht ist das Ganze ja eine Art Therapie, wie Sie sagen. Aber nicht für das Publikum, sondern für mich… (lacht).
Wie halten Sie es aus, auf der Bühne Angst und Schrecken ins Exzessive zu steigern und dabei ein liebenswürdiger, sehr sanft erscheinender Mensch zu bleiben?
Ich bin vielleicht ein pessimistischer Optimist. Schauen Sie: Ich vertraue meinen Freunden, meiner Familie. Und trotz allem befinde ich mich, befinden wir uns alle in einem Dschungel. Die Menschen sind grundsätzlich egoistisch und grausam. Das empfinde ich gerade heutzutage in meinem eigenen Land sehr stark. In Spanien brutalisiert sich die Gesellschaft immer mehr unter dem Einfluss der Krise.
Es scheint, als ständen Sie permanent auf Kriegsfuss mit der bürgerlichen Gesellschaft. Woher kommt dieser Hass?
Das hat sicher auch mit meinen Erfahrungen in der Jesuitenschule zu tun. Die Priester schlugen uns. Einer dieser Geistlichen versuchte auch, mich sexuell zu missbrauchen. Es war schrecklich – und es verfolgt mich bis heute.
Wie alt waren Sie damals?
Ich war damals erst 11 Jahre alt. Was man in der Kindheit erlebt, prägt einen fürs ganze Leben. In meinem Fall zum Beispiel auch die Stadt, in der ich aufwuchs: Miranda de Ebro. Hier hatte das Franco-Regime in den 1930er-Jahren ein Konzentrationslager nach deutschem Vorbild aufgebaut, um Gefangene während des Spanischen Bürgerkriegs einzusperren. Das Lager wurde von einem deutschen Gestapo-Mitglied geführt und blieb bis 1947 bestehen. Wir hatten als Kinder nichts darüber erfahren. Als wir beim Spielen einmal auf menschliche Knochen gestossen waren, wurde uns gesagt, es handle sich um die Gebeine von Piraten … Kann man bei so viel Verschleiern und Lügen noch Vertrauen in die bürgerliche Gesellschaft haben?
Basel war in den letzten Jahren im Musiktheater erfolgreich – zweimal hintereinander gar «Opernhaus des Jahres». Nicht zuletzt, weil Sie hier ein paar wegweisende Stücke aufgeführt haben. Sie können auf den Grössten der Bühnen der Welt inszenieren. Was gefällt Ihnen so sehr an Basel?
Basel ist meine Lieblingsstadt in Europa. Vielleicht, weil mich das hiesige Wetter an meine Kindheit erinnert …
Sie scherzen.
Nein, es ist wirklich so. Ausserdem wuchs ich an einem Fluss auf, dem Ebro. In diesem Fluss lernte ich auch schwimmen. Ich fühle mich hier in Basel einfach sehr entspannt. Dazu kommt das reichhaltige Kulturleben: Ich liebe die vielen Museen – vor allem das Tinguely-Museum.
Aber Sie wohnen noch immer in Barcelona?
Ja, aber nur ein paar wenige Tage pro Monat. Ich bin ja viel auf Reisen. Es ist kein Scherz: Ich liebe Basel wirklich sehr, und dann auch noch Berlin.
Nach Berlin zieht es den heutigen Basler Operndirektor Dietmar Schwarz, mit dem Sie sich sehr gut verstehen. Werden Sie bald mehr in Berlin zu sehen sein?
Nein, ich werde weiterhin in Basel inszenieren, denn hier am Theater gibt es sehr gute Leute.
Oder folgen Sie Andreas Homoki, der von der Komischen Oper in Berlin ans Opernhaus Zürich wechselt? Mit Homoki haben Sie in Berlin ja auch schon einiges gemacht.
Das stimmt. Ich habe viel Schönes mit Homoki gemacht. Vielleicht mache ich auch die eine oder andere Inszenierung in Zürich. Aber ich werde Basel nicht den Rücken kehren.
Calixto Bieito
Calixto Bieito zählt zu den umstrittensten Opern- und Theaterregisseuren unserer Zeit. Berühmt geworden ist der 48-jährige Katalane vor allem durch seine kompromisslose Darstellung alltäglicher Gewalt auf der Bühne.
Bieito wurde am 2. November 1963 in Burgos geboren und kam als 15-Jähriger nach Barcelona. Hier studierte er spanische Philologie, Kunstgeschichte und Regie. Seine Liebe zu Kunst und Kultur hat er mit der Muttermilch eingesogen – seine Eltern waren Musik- und Opernliebhaber; prägend sind auch die Einflüsse seiner jesuitischen Lehrer, zu denen ihn eine tiefe Hassliebe verbindet.
Seit 2011 ist Bieito künstlerischer Direktor des Barcelona Internacional Teatro – ein globales Netzwerk von Theatern, das Ressourcen gemeinsam nutzt und weltweit Tourneen organisiert. Im August 2009 wurde Bieito in Basel von der Kulturstiftung «Pro Europa» für seine Verdienste im Bereich der Opernregie mit dem Europäischen Kulturpreis ausgezeichnet.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 16/12/11