Anne Sudrows Blick auf die Schuhe ist ein wissenschaftlicher. Die Historikerin erforscht deren Geschichte und Bedeutung.
Welche Geschichte haben Schuhe? Wenn jemand diese Frage beantworten kann, dann die Historikerin Anne Sudrow vom Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam: Ihr Spezialgebiet sind die Schuhe, ihr Know-how reicht vom Handwerk bis zur Wissenschaft. Vor ihrem Studium hatte sie Massschuhmacherin gelernt, und für ihre Dissertation «Der Schuh im Nationalsozialismus» erhielt sie 2010 vom deutschen Historiker-Verband den Preis für die beste Dissertation der vergangenen zwei Jahre. Aus Anlass des 80-Jahre-Jubiläums des Bata-Parks in Möhlin hält Anne Sudrow im Schweizerischen Wirtschaftsarchiv der Uni Basel am 24. Oktober einen Vortrag über die Geschichte des tschechischen Schuhkonzerns.
Frau Sudrow, Sie sind Historikerin und forschen zum Thema Schuhe. Wie sind Sie gerade auf den Schuh gekommen?
An Alltagsgegen-
ständen, die wir täglich benutzen, und am historischen Wandel der Art und Weise, wie wir sie benutzen, kann man Wesentliches über die Veränderungen unserer Gesellschaft und über die globalen Verflechtungen unserer Kultur und Wirtschaft erfahren. Das fasziniert mich. Schuhe sind ein Produkt, das in unseren Breitengraden wirklich jeder und jede täglich in Gebrauch hat – in ihnen bewegen wir uns auf dem Boden der Tatsachen.
Besonders Frauen wird ein Schuhtick nachgesagt. Es gibt allerdings auch immer mehr Männer, die Schuhe sammeln. Was hat es damit auf sich, weshalb gerade Schuhe?
Wie andere Kleidungsstücke ist der Schuh ein wichtiges Mittel der sozialen Abgrenzung. Menschen nutzen Schuhe, um sich von anderen Menschen zu unterscheiden, aber gleichzeitig auch dazu, um zu bestimmten gesellschaftlichen Gruppen zu gehören. Dies ist bei Jugendlichen, die noch ihren Platz in der Welt suchen, oft wichtiger als bei Älteren. Und in der Vergangenheit galten Frauen als stärker modeorientiert als Männer. Seit den 50er-Jahren änderte sich das in Westeuropa allmählich. Seither nutzen auch Männer Schuhe zunehmend als Mittel der individuellen «Selbstinszenierung». In Industriegesellschaften mit ihren massenhaft hergestellten, standardisierten Produkten ist das nicht einfach. Aber Konsumentinnen und Konsumenten sind erstaunlich kreativ. Oft sind es gerade die billigsten Massenprodukte, die durch die Aneignung durch bestimmte Jugendkulturen eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Denken Sie etwa an Flip-Flops aus Kunststoff. Oder an den Turnschuh, das Massenprodukt schlechthin seit dem 19. Jahrhundert.
Das einst angesehene Handwerk des Schuhmachers beschränkt sich heute aufs Flicken, wenn überhaupt. Schuhe sind auch zum Wegwerfartikel geworden. Finden Sie das schade?
Ich bedaure das insofern, als die ehrwürdigen rahmengenähten Lederschuhe, deren Konstruktion auf ein vielmaliges Reparieren der Sohlen und Absätze ausgelegt war, immer mehr vom Markt verschwinden. Ausserdem stirbt durch die Produktionsauslagerung nach Südostasien ein traditioneller Industriezweig in Europa langsam aus. Das Produktionswissen geht unwiederbringlich verloren. Der relative Aufschwung der Neuherstellung von Massschuhen im Handwerk, der in den letzten Jahren zu beobachten war, ist nur ein schwacher Trost.
Was haben Sie selbst für eine Beziehung zu Schuhen?
Ich kann nicht aufhören, mich wissenschaftlich über sie zu wundern. Und mich persönlich zu freuen, wenn ich ein paar gut sitzende und meinen ästhetischen Vorstellungen entsprechende Exemplare gefunden habe. Das kommt aber leider immer seltener vor.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 19.10.12