«Songs schreiben, das ist für mich wie eine Therapie», sagt Ira May. Denn mit dem grossen Erfolg ihres ersten Albums kam 2014 auch eine grosse Krise: Die Soul-Sängerin aus Sissach erlitt Panikattacken und musste ein Jahr pausieren. Jetzt spricht sie offen über ihre Depressionen – und ihre Rückkehr auf die Konzertbühne.
Was für ein Wochenende muss das gewesen sein: Am 23. September veröffentlichte Ira May ihr neues Musikalbum. Und tags darauf feierte sie unter ihrem bürgerlichen Namen, Iris Bösiger, ihren 29. Geburtstag. Glückliche Tage für die Sängerin aus Sissach.
Glückliche Tage, nachdem sie finstere Monate hinter sich hatte, musste sie doch die grösste Krise ihres Lebens bewältigen. Ihrem Debütalbum «The Spell», mit dem sie 2014 auf Platz 1 der Schweizer Hitparade schoss, schien tatsächlich etwas Verfluchtes anzuhaften. Mit zunehmendem Erfolg kamen Panikattacken, immer öfter, immer stärker. Bis Ira May die Notbremse zog, um sich um Iris Bösiger zu kümmern.
Dass sie ihre Wohnung in Sissach verlassen und in einen Zug nach Basel steigen würde, ohne diese Angst vor der Angst, war vor Jahresfrist noch undenkbar. Wie sie damit umgegangen ist und was sie für Lehren gezogen hat, hat sie uns im Café des Literaturhauses Basel erzählt. Dieses hat sie noch in guter Erinnerung aus jener Zeit, als sie sich bei Musik Hug ausbilden liess und manche Arbeitspausen im Café Kafka verbrachte.
Ira May, nach Ihrem Debüt war es lange ruhig um Sie. Was war genau passiert?
Ich brauchte Ruhe und Erholung. In den letzten Jahren hatte ich immer wieder mal mit Panikattacken zu kämpfen. Als 2014 «The Spell» erschien und so viele Leute etwas von mir wollten, brachte dies das Fass zum überlaufen. Zweimal stand ich während Konzerten auf der Bühne und hatte Hardcore-Attacken.
Muss man sich das wie Zusammenbrüche vorstellen?
Nein, denn für das Publikum war da nichts sichtbar. Ich könnte jetzt, während wir reden, eine haben, ohne dass Sie das merken würden.
Was ging denn da mit Ihnen vor?
Bei einem Open-Air-Konzert in der Ostschweiz schoss mir während eines Lieds irgendein blöder Gedanke durch den Kopf, ich könnte nicht mal mehr sagen, was für einer. Jedenfalls hatte ich einen Panikanfall, Wallungen, und es «chrüselete» mich am ganzen Körper. Ich ging beim nächsten Instrumentalteil hinter die Bühne, die Crew kam mir entgegen, gab mir Wasser, ich ging zurück. Beim letzten Song ging es nicht mehr, ich verliess die Bühne, legte mich ins Gras, atmete tief durch. Ich war energetisch völlig fertig. Sie müssen wissen: Eine Panikattacke raubt so viel Kraft wie eine Grippe – aber innert weniger Sekunden. Entsprechend wichtig ist die Erholung. Allerdings hatte ich diese Erholung nicht.
Weil Ihr Management stets mit neuen Anfragen kam und Sie sich nicht trauten, Nein zu sagen?
Genau. Ich hatte ja keine Ahnung vom Business und fühlte mich verpflichtet. Der erste Schritt für mich war zu schnallen, was genau abgegangen war. Ich musste mich mit mir befassen … Man kann nicht wissen, wie man in diesen Strudel hineinkommt, wenn man das noch nie erlebt hat. In meinem Fall führte das zu immer mehr Stress, im äussersten Fall hatte ich an einem Tag fünf Attacken, sogar während ich schlief, mitten in der Nacht.
Uff. Das muss einen fertigmachen.
Völlig, ja. Ich hatte keine Ressourcen mehr. An einem Konzert in Bern, das war im August 2014, musste ich morgens Soundcheck machen, danach den ganzen Tag über warten bis zum Auftritt. Ich lag kraftlos im Bandbus, weinte, konnte nicht mehr. Auf der Heimfahrt schob ich nur noch Panik. Da wusste ich: Jetzt reichts. Wir sagten die nächsten Konzerte ab. Und ich zog mich von der Bühne und aus der Öffentlichkeit zurück.
Danach ging es Ihnen besser?
Leider nein. Denn es folgte eine Sinnkrise. Da träumte ich mein Leben lang davon, meine Musik zu machen, zu singen. Und dann, als es endlich losging, musste ich mich fragen, ob ich all dem Druck gewachsen sei, ob es das Richtige ist. Shit, dachte ich mir, das kann doch nicht wahr sein – und ich fiel noch tiefer. So folgte auf die Angstneurose noch eine ausgewachsene Depression.
«Da träumte ich mein Leben lang davon, meine Musik zu machen, zu singen. Und dann, als es endlich losging, musste ich mich fragen, ob ich all dem Druck gewachsen sei, ob es das Richtige ist.»
Fürchteten Sie um Ihre Musikkarriere?
Ich hatte grosse Zweifel. Man muss sich vorstellen: Mir wurde ein Album geschenkt, ich hätte eine solche Plattenproduktion ja nie selber finanzieren können. Dann hatte ich ein Label. Plötzlich war alles da. Ich hatte automatisch das Gefühl, ich sei all diesen Leuten etwas schuldig. Deshalb gab ich ja auch so viele Konzerte, was ein Fehler war. Doch das merkte ich erst zu spät.
Wie viele Gigs waren es denn nach der Plattenveröffentlichung?
50 Konzerte, darunter alleine 20 Sommerfestivals. Das alles war mir einfach zu viel.
Was haben Sie danach gemacht?
Ich lebe ja noch immer auf dem Land, in Sissach. Ich ging viel in die Natur, spazieren. Dabei fiel mir ein, dass ich eine Familie kannte, die einen Zwei-Generationen-Bauernhof führte. Ich schrieb ihr einen Brief, schilderte darin offen meine Situation, und fragte sie, ob sie jemanden brauchen könnten, der ihnen manchmal hilft bei der Arbeit.
Um sich aufzufangen?
Ja. Zu meiner Freude sagte die Familie zu. Man redet ja immer von der Gefahr, abzuheben. Mir hat die Arbeit auf dem Hof, dieses wörtliche «erden», enorm gutgetan.
Zum Beispiel?
Ich litt an psychosomatischem Schwindel, eine Begleiterscheinung der Attacken. Das heisst, ich hatte Gleichgewichtsstörungen. Am ersten Tag auf dem Bauernhof musste ich auf die Leiter steigen, um Äpfel zu ernten. Zu meinem Erstaunen war das das erste Mal seit Monaten, dass es mir nicht «drümmlig» wurde. So fasste ich wieder Mut, Vertrauen in mich und meine Umgebung.
Ira May ist im Oberbaselbiet aufgewachsen. Ihre ersten Bühnenerfahrungen sammelte sie im Schulchor Gelterkinden. Bei Musik Hug machte Iris Bösiger, wie sie bürgerlich heisst, eine Lehre als Detailhandelsangestellte, daneben sang sie in Bands und Projekten wie Black Tigers epischer Basler Hommage «1 City, 1 Song». Übers Internet wurde sie vom deutschen Hip-Hop-Produzenten Shuko entdeckt, ihr Debütalbum «The Spell» erschien 2014. Jetzt ist ihr zweites Album, «Eye of the Beholder», erschienen. Am 24. September feierte sie ihren 29. Geburtstag.
Welche Lehren ziehen Sie aus alldem?
Ich mache in diesem Jahr nur eine kleine Tour von zehn, zwölf Konzerten, that’s it. Ich habe zwar die schlimmsten Monate in meinem Leben durchgemacht. Aber diese Krise war auch das Beste, was mir passieren konnte. Es hätte sonst vielleicht noch zehn Jahre gedauert, bis ich hinstehen und klar hätte sagen können, was ich machen will und was nicht. Heute weiss ich: Die Kunst muss im Vordergrund bleiben – und ich muss das Tempo bestimmen können.
Respekt. Man muss wahnsinnig stark sein, um mit der Angst vor der Angst umzugehen.
Ich habe Hardcore-Therapien gemacht, ich konnte fast nicht mehr aus dem Haus raus. In den Zug nach Basel einzusteigen, war der Horror. Die guten Tage häuften sich, irgendwann wurden es Wochen, und dann dachte ich: Ich bin über den Berg. Ich muss aber viel Sorge tragen, auch an Konzerten mein Wohlbefinden in den Vordergrund stellen.
Beeindruckend, wie offen Sie darüber reden.
Danke. Wenn die Leute wissen, dass ich das habe, nimmt mir das ganz viel Druck weg. Das hilft. Wenn ich mit Freunden ausgehe und ihnen vorher sage: Ihr wisst Bescheid, wenn was ist, oder? Dann sorgt dieses Aussprechen dafür, dass es gar nicht geschieht. Ist eigentlich eine Vorsichtsmassnahme für mich. Es gibt so viele Leute, die das haben, aber es ist ein Tabuthema.
Stimmt, viele Menschen tabuisieren solche persönlichen Krisen.
Mein professionelles Umfeld riet mir zunächst auch davon ab, weil es ein Zeichen von Schwäche sei. Aber ich fand: Scheiss drauf, es ist ein Thema, es gehört zu meinem Leben.
«Ich sehe keinen Grund mehr, alles hinzuschmeissen.» (Bild: Nils Fisch)
Ich finde es ein Zeichen von Stärke, wie Sie damit umgehen.
Es war der einzige Weg. Sonst hätte ich aufhören müssen. Denn damit in aller Verschwiegenheit klarzukommen, wäre nicht gegangen, ich wäre noch immer im gleichen Teufelskreis und würde noch immer den Druck spüren. So wäre ich nicht bei mir gewesen, und das ist für mich als Sängerin wesentlich. Ich sehe nun keinen Grund mehr, alles hinzuschmeissen.
Sie brauchen eine Managerin, die auch Anwalt sein sollte und Sie schützt.
Ja, das stimmt. Ich brauche auf jeden Fall keine Managements mehr, die mich pushen wollen. Sondern jemanden, der meine Interessen vertritt. Wir haben jetzt eine familiäre Lösung gefunden. Das ist gut so, denn auch wenn ich kein Kontrollfreak bin: Je mehr ich selber entscheiden kann, umso wohler ist mir. Wann immer für mich entschieden wird, laufe ich wieder Gefahr zu schwimmen.
Sie haben die Fäden gerne in der Hand?
Ja. Wir haben soeben einen neuen Videoclip gedreht. Das hat mich ein paar Wochen beschäftigt: Ich habe alle Kostüme selber ausgesucht, den Cast ebenso und am Schluss sogar ein paar Tage lang die Location geputzt. Ich war völlig fertig, aber happy. Denn ich hatte die Kontrolle und auch die Erfüllung. Das zählt und tut mir gut. Ich mache daher so viel ich kann alleine. Und brauche so keine weiteren Leute, die dreinreden. Im Booklet habe ich auch die Songtexte von Hand geschrieben.
Man spürt, wie wichtig Ihnen diese persönliche Note ist. Konnten Sie mit offenen Karten spielen, als Sie mit der neuen Plattenfirma verhandelt haben?
Ja. Beim ersten Meeting mit Universal legte ich meine Bedingungen auf den Tisch: Erstens redet mir niemand bei der Musik rein. Und zweitens: Ich spiele nicht viele Konzerte. Und die Leute da fanden: Okay. Das war für mich sehr wichtig, dass das klar ist und für alle stimmt.
Durch Universal sind Sie jetzt unter dem gleichen Dach wie Nicole Bernegger. Vor zwei Jahren erzählten Sie uns, dass Sie ihr noch nie begegnet seien…
Das hat sich geändert. Wir haben uns endlich mal getroffen, bei einer Prix-Walo-Verleihung schlichen wir uns davon, um eine zu rauchen. Aber einen Kaffee zu trinken, das haben wir leider noch immer nicht geschafft. Ich hoffe, das ändert sich bald einmal.
Ihre alte Plattenfirma war in Berlin beheimatet. Was führte zum Bruch?
Ein heikles Thema. Mein Produzent Shuko war bei Peripherique unter Vertrag, deshalb kam der Deal ja überhaupt zustande. Ein Indielabel ist cool, aber die Sache mit dem Debüt wurde so schnell so gross, dass alle überfordert waren. Die Labelleute reisten für Tourneen immer in die Schweiz, dennoch war die Distanz zu gross, sodass es immer wieder zu Missverständnissen kam. Daher beendeten wir die Zusammenarbeit, waren ein Jahr lang ohne Label. 2015 habe ich mich ja primär erholt, nur gerade drei Konzerte gegeben, eines davon in Sissach, vor der Haustüre.
Es ging darum, Sicherheit zu haben?
Ja, genau. Wir haben langsam angefangen. Bei den diesjährigen Konzerten habe ich gemerkt, dass ich viel entspannter bin. Bis Ende Jahr sind es noch ein paar Gigs, und dann gehen wir im März und April 2017 wieder auf Tour.
Und zwar mit Ihrem neuen, zweiten Album «Eye Of The Beholder». Im Auge des Betrachters liegt auch die Einordnung. Manche Medien sprechen schon von einem Comeback.
Ja, sehr komisch, nicht? Das klingt so, als sei ich unglaublich lange weg gewesen.
Rühren Songs wie «Fear & Delight» von den Erfahrungen, die Sie gemacht haben?
Nein, dieses Lied jetzt weniger. Aber es gibt tatsächlich einige Nummern, in denen ich meine Erlebnisse verarbeitet habe. «What Was Golden» zum Beispiel.
What Was Golden
Don’t get me wrong
I used to party all night long
Till the day I fell so hard
It took my breath away
And there I was
Lying in the darkest cave
No way out
And no chance to escape the pain Step by step
With a teary face so soakin‘ wet
I left the place called comfort zone
Where I stood alone
And the silence screamed at me
While my demons grinned maliciously
What am I supposed to say
When the fear’s getting in my way
What was golden seems to fade
Into another shade
I can’t feel anything
Oh, I can’t feel anything
I feel everything
Do you know
The times you’re afraid of everyone?
You can’t trust yourself
The will and all the hope is gone
You get punched in your face
And bleed it out
Just a drop of hate – it freaks you out
Maybe it will get better
And maybe it won’t
© Ira May
Darin singen Sie von Atemnot, stillem Schmerz und den inneren Dämonen. Ein Lied, das sehr nahe geht.
Ja. Aber ich habe ganz bewusst vermieden, Zeilen wie «Lying in the darkest cave» in einen Depro-Song zu verpacken. Vielmehr wünschte ich mir einen offensiven, angriffigen Sound. Shuko kreierte einen passenden Beat, der mich an einen Treppenlauf erinnerte. Das passte. «What Was Golden» war auch einer der ersten Songs, den wir nach der Krise schrieben.
«Wir», das sind Shuko, ihr Produzent, und Sie?
Ja, genau, wir sind ein Team.
Schreiben Sie eigentlich alle Texte selber?
Ja.
Halsen Sie sich damit nicht zusätzlichen Stress auf: Songtexte in englischer Sprache…
Ich liebe es. Ich liebe auch diesen Kampf. Songs schreiben und im Studio aufnehmen, das ist für mich wie eine Therapie. Es ist ja auch sensationell aufregend, wie da plötzlich Energien freigesetzt werden. Ich ertappe mich manchmal dabei, dass ich vor einem Text sitze und mich frage: Wie habe ich das jetzt gemacht? Und dann kann es zwei Tage dauern, bis dieser Text wirklich mir gehört.
Weil Sie gar nicht recht glauben können, dass Sie das selber geschrieben haben?
Ja, es kommt vor, dass ein Text aus mir raussprudelt und ich ihn dann erst kennenlernen und verstehen muss.
Interessant. Wo schreiben Sie denn Texte. Zu Hause?
Nein. Ich arbeite zu Hause nicht, irgendwie geht es nicht. Die Songs entstehen immer erst im Studio. Ich treffe dort meinen Produzenten Shuko, dann gehen wir drei Tage lang zusammen spazieren, essen gemeinsam, schauen uns Filme an, reden miteinander. Am vierten Tag schreiben wir dann zwei Songs. Entweder sitze ich am Klavier und mir fällt eine Melodie ein – oder er gibt mir einen Beat vor. Auf jeden Fall geschieht das Songwriting dann immer recht schnell. Für das neue Album waren wir nur drei Wochen im Studio, dann waren die Songs im Kasten.
16 Tracks in 21 Tagen: Das ist ein äusserst beachtliches Tempo.
Ich bin keine Perfektionistin und gehe gerne zu den nächsten Songs über. Wir hatten viele Ideen, von Soul über Hip-Hop bis Pop, und wollten uns nicht in ein Korsett stecken lassen oder Songs streichen. Also haben wir allen Ideen ihren Lauf gelassen und alles auf die Platte gepackt. Diese Bandbreite mögen manche Leute kritisieren. Aber damit kann ich umgehen. Mit dem letzten Track, «Unknown Gardens», wollten wir noch einmal etwas ganz Neues ausprobieren. Dabei dachten wir uns anfänglich, dass wir diese Ballade Lana del Rey schicken sollten.
Sie wollten Lana del Rey den Song verkaufen?
Ja, also, wir liebäugelten mit der Idee, es zu versuchen, fanden dann aber, dass dieses Lied auf unser Album gehört. Punkt.
Sie könnten ihr den Song ja immer noch anbieten – einfach als Cover.
(lacht) Stimmt. Das wäre nicht schlecht, wenn sie ihn covern würde, dann müsste ich nicht mehr ans Arbeiten denken.
Müssen Sie denn?
Irgendwann schon wieder, wenn die Konzerte vorbei sind.
Und was kommt dann?
Ich denke jetzt schon an das dritte Album. Ich will weitergehen, weiter ausprobieren, besser werden.
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Ira May: «Eye of the Beholder», Universal Music.
Live: Gelterkinden, Marabu. 3. Dezember 2016.