«Irrtum, meine Lieben!»

Unsere Landschaft wird verschandelt, weil wir auf Pump leben und die wahren Kosten nicht bezahlen, sagt Stadtwanderer Benedikt Loderer.

«Die Steuerprivilegien der Hüslibürger gehören abgeschafft.» Benedikt Loderer, Stadtwanderer. (Bild: Paco Carrascosa)

Unsere Landschaft wird verschandelt, weil wir auf Pump leben und die wahren Kosten nicht bezahlen, sagt Stadtwanderer Benedikt Loderer.

Provokation ist ihm eine Leidenschaft, besonders wenn es um Architektur geht. Der 67-jährige Benedikt Loderer kennt die Schweiz und vor allem kennt er die Schweizer Städte bestens. Er hat sie als Stadtwanderer erforscht und seine Eindrücke mit oft beissender Kritik an den entdeckten Bausünden veröffentlicht. Nicht nur Pfusch in den Städten prangert er an, auch den im ländlichen Gebiet. Und hier reitet er gern zünftige Attacken gegen die Verhäuselung oder Zersiedelung der Landschaft. Er empfängt uns in einem ehemaligen Fabrikgebäude in Zürich, wo die Redaktion der Zeitschrift «Hochparterre» untergebracht ist. Warum wir ausgerechnet ihn als Interview-Partner zum Thema Zersiedelung ausgewählt haben, fragt er und legt dann sofort los. Wir kommen kaum dazu, das Mikrofon einzustellen.

 

Herr Loderer, Sie sind nicht unbedingt als grosser Freund von Einfamilien-Häusern bekannt. Haben Sie gejubelt, als die Zweitwohnungs-Initiative angenommen wurde?

In Jubel bin ich nicht ausgebrochen, aber eine gewisse Schadenfreude habe ich schon empfunden, das muss ich zugeben. Hier ist etwas Unschweizerisches, Unföderalistisches, Unvorstellbares geschehen! Mit der Initiative wurden Schweizer Heiligtümer wie die Gemeindeautonomie und das Herr-im-Haus-Getue der Kantone in Frage gestellt; etwas, was nach den gängigen Regeln eigentlich verboten wäre. Die Abstimmung hat auch gezeigt, dass die Unterländer die Alpen als ihren Stadtpark betrachten. Und den möchten sie gerne so unberührt und unversehrt wie möglich belassen – ihr Ferienhäuschen steht ja bereits im Oberland …

Gleichzeitig betonieren wir das Mittelland zu. Hat das nicht etwas Verlogenes?

Natürlich ist das schief. Aber es ist nur eine Konsequenz davon, wie wir heute leben. Wir fahren am Samstagnachmittag husch ins Bündnerland, machen Eintags-Ausflüge. Wir haben die Alpen längst kolonialisiert. Wir erleben heute die Herrschaft der Unterländer über die Alpen.

Die Bergler werden sich gegen das Verdikt aus dem Unterland zu helfen wissen.

Sie sind ja bereits daran! Wenn Sie heute die Zeitung aufschlagen und das Geheul aus den Bergen hören, dann weiss man, dass sich das Wallis nicht disziplinieren lassen wird. Aber weiterwursteln wie bisher geht auch nicht mehr.

Bräuchte es eine ähnliche Initiative im Unterland?

Da wäre ich sofort dabei. Nur schon, um der Bauwirtschaft zu zeigen, dass das Volk nicht unbedingt auf ihrer Seite steht. Wir werden ja sehen, wie es bei der Landschaftsinitiative herauskommt, die bald ansteht.

Diese will die Bauzonen begrenzen. Jetzt hat dies der Nationalrat im März bereits von sich aus gemacht – braucht es diese Initiative noch?

Ja, natürlich braucht es sie. Der Nationalrat hat doch die Bauzonen nur eingegrenzt, weil die meisten Damen und Herren dort Angst haben vor der Initiative! Falls sie dann abgelehnt würde, würden sie ganz schnell wieder vergessen, dass sie eigentlich die Bauzonen reduzieren wollten. Dann heisst es dann, man werde natürlich den Volkswillen umsetzen.

Viel zu retten ist auch mit der Initiative nicht mehr. Eine Fahrt von Bern nach Zürich macht all die Bausünden entlang der Linie offensichtlich. Alles ist zugebaut und zubetoniert.

Da bin ich gar nicht einverstanden! Egal an welchem Punkt in der Schweiz man sich aufhält – es dauert immer höchstens eine Viertelstunde bis «ins Grüne». Wir sind weit entfernt von Zuständen wie in Paris oder London. Und darauf sind wir auch stolz. Egal, wie schrecklich es bei uns ist, wir können immer noch sagen, dass es bei den anderen viel schlimmer ist.

Wirklich schön ist es bei uns aber auch nicht mehr. Wo liegt das Problem?

Wir haben zu viel Geld. Wir haben so viel Zersiedelung, wie wir Geld haben. Solange wir uns 50 Quadratmeter Wohnfläche pro Nase leisten können, solange leisten wir uns das! Wir dürfen nicht vergessen: Die Zersiedelung ist ein ökonomischer Erfolg. Unser Wohlstand ist wesentlich von einer funktionierenden Zersiedelung abhängig.

Dann sehen Sie also kein Ende der Einfamilienhaus-Landschaften?

Die einzige Möglichkeit, die wir haben, ist die Kostenwahrheit für den öffentlichen und privaten Verkehr herzustellen. Die Steuervorteile der Hüslibürger gehören abgeschafft, alle sollen die wahren Kosten tragen müssen.

Dann steigen die Kosten für den Lebensunterhalt ins Unermess­liche!

Irrtum, meine Lieben! Die Wohnpreise sind nur so hoch, weil sie die Leute zahlen können und wollen. Und sie können sie auch zahlen, weil sie zum Beispiel für den Verkehr zu wenig zahlen.

Wenn Sie die wahren Kosten auf die Benutzer des öffentlichen Verkehrs überwälzen, kann sich niemand mehr ein Zugbillett leisten.

Tja, dann wird das GA vielleicht 10’000 Stutz kosten. Was aber in Anbetracht der Leistung überhaupt nicht viel wäre. Aber mir ist schon klar: Wenn wir die Kostenwahrheit einführen, wird das grosse Schwierigkeiten geben. Ich bin ja nicht naiv. Aber wenn wir auch nur in die Nähe von Nachhaltigkeit kommen wollen, dann braucht es diese Einschritte. Es ist die grosse Illusion der Schweizer, dass sie an den ewigen Fortbestand des Goldenen Zeitalters glauben. Darauf beruht die gesamte Schweizer Politik: Wir sind reich. Wir wollen reich bleiben. Wir wollen noch reicher werden.

Die Einführung der Kostenwahrheit würde aber zuerst die Armen treffen.

Das sind aber die Leute, die ohne Weiteres schnell in die Berge fahren. Und beim Skifahren reut sie das Geld überhaupt nicht.

Es gehen immer weniger Leute Ski fahren.

Dann fliegen sie halt auf die Seychellen! In der Schweiz verarmen die wenigsten. Die Leute können sehr wohl kalkulieren. Sie wissen, wie man mit Geld umgeht. Sie haben einen grossen Handlungsspielraum zu entscheiden, wie sie es ausgeben wollen. Denn die Allgemeinheit finanziert über Subventionen und Steuern all die Dinge wie den Verkehr, die sich die normalen Menschen sonst gar nicht leisten könnten. Wir leben auf Pump, leben auf Kosten der Zukunft.

Wie sollen die Leute in Zukunft denn wohnen, damit das ganze System nachhaltiger wird?

Es wäre schon viel gewonnen, kämen wir von 50 Quadratmetern auf 40 Quadratmeter pro Person. Wenn man das zum Beispiel in Zürich durchsetzen könnte, dann hätte es plötzlich Platz für die meisten, die jeden Morgen herbeipendeln müssen.

Und wer soll so etwas diktieren?

Der Markt! Die Leute beanspruchen so viel Wohnraum, wie sie kaufen können. Und wenn man endlich die wahren Kosten zahlen müsste, könnten sie sich weniger Wohnraum leisten.

Ganz im Ernst: Was würde geschehen bei der Einführung der Kostenwahrheit?

Zuerst würden die Leute ihr Verkehrsverhalten ändern. Heute ist über die Hälfte des Individualverkehrs Freizeitverkehr. Die Leute überlegen sich nichts, sie fahren 30 Kilometer ins Handballtraining. Die Menschen vor 50 Jahren lebten in einem viel kleineren Umkreis. Dann begann der Ausbau der Infrastruktur, grössere Distanzen liessen sich in viel kürzerer Zeit bewältigen. Und warum macht man das? Weil man es kann. Weil es billig ist.

Wie ist der Traum nach dem Eigenheim überhaupt entstanden?

Ja gut, man könnte jetzt eine lange, grossartige Herleitung veranstalten, vom Garten Eden über Haller und Rousseau und all die Vögel. Aber man muss es nicht unbedingt so philosophisch zu ergründen versuchen. Es ist viel einfacher: Die Menschen in ihrem Einfamilienhaus in Hintergigglen oder wo auch immer leben in ihrem eigenen Sparschwein. Bis jetzt konnte man sich nämlich immer darauf verlassen, dass Wohneigentum immer teurer wurde, weil die Schulden inflationsbedingt sinken und die Bodenpreise steigen. Und darauf verlässt man sich, solange der Fortbestand des Goldenen Zeitalters anhält. Ich weiss auch nicht, warum die Schweizer das Gefühl haben, das Goldene Zeitalter würde ewig währen. Weil es der Herrgott so will? Das Schicksal? Die Regierung? Darum können es die Leute auch nicht verstehen, wenn uns jemand das Bankgeheimnis wegnimmt. Dabei geschieht hier nichts anderes, als dass die Welt unseren Hehlerlohn streicht! Und das empfinden die Leute als eine grosse Ungerechtigkeit.

Und was hat das mit der Zersiedelung zu tun?

Wir müssen aufhören zu meinen, wir könnten die sozialen Probleme lösen, indem wir die anderen Probleme – die uns wirklich an der Gurgel packen – nicht behandeln. Wir können wählen: Wenn wir unsere Wohlstandsgeschichte weiterführen wollen, dann müssen wir ja sagen zur Zersiedelung, wie sie jetzt ist. Denn wenn die Bauwirtschaft nicht mehr funktioniert, wird es ganz schnell ganz schwierig in der Schweiz.

Wo müsste man Änderungen umsetzen, damit aus den Sparschweinen Wohnungen werden?

In den schon vorhandenen Hüslizonen!

Und was würden Sie tun in diesen Zonen?

Ich darf ja, nehme ich an, nicht jakobinisch regieren und ins Grundeigentum eingreifen.

Tun Sie es!

Gut, dann würde ich richtig durchgreifen. Wir hätten fünf Jahre eine jakobinische Republik, ich würde alle nötigen Reformen umsetzen und dann aufs Schafott kommen. Zu Recht wahrscheinlich …

Was geschähe dann?

Ich wäre schon zufrieden mit der Kostenwahrheit, der gesamten Kostenwahrheit. Für den Verkehr inklusive der externen Kosten, die Erschlies­sung, für die Abschaffung der Steuerprivilegien bei den Hauseigentümern und der versteckten Subventionen.

Kehren wir in die Realität zurück. Was halten Sie von der Wohnraumpolitik in den Schweizer Städten?

Wohnraumpolitik? Gibt es doch gar nicht! Wo denn?

In Basel beispielsweise ist das ein ziemlich drängendes Thema.

Ja, aber das ist eine Diskussion ohne Basis. Es gibt kein Bauland in Basel, Basel ist gefüllt.

Darum soll jetzt auch der Rhein teilweise aufgeschüttet werden. Eine gute Idee?

Eine mit Potenzial. Es ist die einzige, die das Dreiland einschliesst. Es gibt keine andere Möglichkeit für Basel.

Was halten Sie eigentlich vom Campus?

Ich gehe davon aus, dass der Novartis Campus in zwanzig Jahren nicht mehr geschlossen sein wird, weil die Produk­tion in der Pharmaindustrie nach und nach aus Basel verschwinden dürfte. Dann wird es spannend, was auf der französischen Seite geschieht. Bis jetzt ist diese Gegend für Frankreich ja nur ein Randgebiet, das niemanden interessiert, ein Randgebiet, auf dem die Mitarbeiter der Chemie ihre Autos abstellen können.

Ein Ödland.

Aber eines mit Potenzial! Wenn dieses Potenzial mit dem Inselprojekt angestossen wird, könnte es spannend werden. Genügend Geld und ökonomischer Druck wären ja vorhanden.

Und bis dahin sollen wir auf ­Türme setzen?

Jetzt macht mal einen Punkt. Das mit den Türmen ist alles Lüge. Man kann zwar Türme bauen, aber man kann sie auch nicht stärker nutzen, als es in der Bauordnung vorgeschrieben ist. Wenn man mehr will, muss man Gestaltungspläne ändern, und dann ist man schon mitten drin in der demokratischen Maschinerie und muss eine Abstimmung gewinnen. Das mit diesen Türmen, das ist so richtiges Journalistengewäsch. Je höher die Türme, desto lauter das Gewäsch.

Wir fragen dennoch noch einmal: Wären Türme nicht ein Zukunftskonzept? Gerade im Hinblick auf verdichtetes Bauen?

Das kommt darauf an, wo Sie verdichten wollen. An der Goldküste am Zürichsee, wo es wirklich Platz hat, braucht man keine Türme. Dort müsste man nur endlich das verbaute Land richtig nutzen können. Die Leute wohnen da in zu grossen Wohnungen und haben Gärten, die sie ja gar nicht brauchen! Bei den heutigen Neubauten ist das ganz anders: Erbt einer ein Einfamilienhaus mit Umschwung, dann reisst er es ab und stellt typischerweise einen Riegel mit sechs Wohnungen hin. Mit Blick auf den See, die Alpen oder sonst eine Landschaft. Alle haben verglaste Fensterfronten, einen Lift, einen Garagenplatz und einen riesigen Aussensitzplatz. Und dort sitzen die Leute dann immer an der gleichen Stelle und lassen einen Berufsgärtner den Rasen mähen. Kartoffeln pflanzt ja heute niemand mehr an.

Für das gehen die Leute dann in den Schrebergarten.

Das ist eine andere Schicht. Leute mit einer 20 Quadratmeter grossen Terrasse brauchen keinen Schrebergarten. Die holen ihr Gemüse im Biomarkt.

Der Häuser-Prototyp, den Sie beschreiben, zeichnet eine grosse Einheitlichkeit aus. Ist das eine neue Erscheinung?

Nein. Die Häuser, die wir jetzt abreis­sen, aus den Jahren zwischen 1948 und 1960, haben alle auch eine grosse Einheitlichkeit. Erst wo es teuer wird, an den erstklassigen Lagen, beginnt das Durcheinander von Baustilen. Da wünschen sich die einen Bauherren Türme, die anderen setzen auf Erker und sonst dergleichen mehr. Grundsätzlich lässt sich sagen: 90 Prozent aller Einfamilienhäuser sind höchst banal. Und um die restlichen zehn Prozent müssen wir uns keine Sorgen machen.

Dennoch lassen sich immer wieder ästhetisch ziemlich problematische Bauten feststellen. Müsste man die Ästhetikparagrafen in den Bauordnungen strenger umsetzen?

Wenn wir die klare Ordnung der Blockraumbebauungen des 19. Jahrhunderts bewundern, vergessen wir zwei Dinge: Erstens hatten die Leute damals kein Geld und konnten sich nichts anderes leisten. Und zweitens, wenn wir wirklich eine ästhetische Vereinheitlichung wollen, dann brauchen wir eine geschlossene Gesellschaft. Solange die allgemeinen Menschenrechte gelten, darf auch jeder sein Häuschen bauen, wie er will. Ein ästhetisches Problem ist das nicht. Höchstens ein ökonomisches.

Die schöne Schweiz wird immer kleiner, nicht?

Ja, klar. Der Wohlstand frisst ununterbrochen Schönschweiz. Aber, und das ist das Positive, der Verschleiss dieser schönen Schweiz wird in der Geschwindigkeit abnehmen.

 

Kritisch und provokativ

Er hat weniger einen Beruf als vielmehr eine Berufung: Der gelernte Bauzeichner und promovierte Architekt Benedikt Loderer hat sich seit Jahren dem Kampf gegen die Verschandelung der Landschaft verschrieben. Schon der Titel seiner Dissertation zeugt davon: «Der Innenraum des Aussenraums ist Aussenraum des Innenraums». Um diese Aussage zu begreifen, muss man schon etwas nachdenken. Umso erstaunter ist man dann, wenn Loderer loslegt und mal in blumiger, mal in angriffiger Sprache erklärt, was er meint mit diesem Zusammenspiel von Innen- und Aussenräumen. Er redet nicht im theoretischen Raum – er hat als «Stadtwanderer» die Schweizer Ballunsgräume durchwandert und kennt das Land. Im «Tages-Anzeiger» hat er bis Mitte der 80er-Jahre über seine Erkundungen berichtet, kritisch und provokativ. 1988 hat er die Architekturzeitschrift «Hochparterre» gegründet, deren Chefredaktor er bis 1997 war. Auch nach der Pensionierung schrieb er weiter. Loderer ist verheiratet und wohnt in Biel.

Quellen

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 06.04.12

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