«Italien ist ein moralisch und politisch zerstörtes Land»

Sechs Jahre lang war Massimo Agostinis als Journalist für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in Rom tätig. Jetzt ist der Basler mit italienischen Wurzeln wieder zurück in der Schweiz – mit vielen Erinnerungen an ein «schönes und zugleich unmögliches Land».

(Bild: Nils Fisch)

Sechs Jahre lang war Massimo Agostinis als Journalist für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) in Rom tätig. Jetzt ist der Basler mit italienischen Wurzeln wieder zurück in der Schweiz – mit vielen Erinnerungen an ein «schönes und zugleich unmögliches Land».

Punkto Italien zählt Massimo Agostinis zu den am besten informierten Journalisten der Schweiz. Sechs Jahre lang arbeitete er als SRF-Korrespondent in Rom. Der 49-jährige Schweiz-Italiener berichtete nach dem Erdbeben von L’Aquila (April 2009) direkt aus dem Katastrophengebiet, erlebte hautnah die letzten Jahre der Regierung Berlusconi und den Höhepunkt der Wirtschaftskrise.

Herr Agostinis, nach sechs Jahren in Rom sind Sie wieder in der Schweiz. Haben Sie sich auf die Rückkehr gefreut?

Ehrlich gesagt, mir hat es gestunken. Ich wäre gerne noch ein, zwei Jahre länger geblieben. Aber es ist nun mal die Regel bei SRF: Nach sechs Jahren kehrt man auf die Heimredaktion zurück.

Was vermissen Sie heute am meisten?

Es klingt vielleicht abgedroschen, aber das Bar-Leben in Italien werde ich am meisten vermissen. Anders als in der Schweiz trifft man sich hier oft nur für ein paar Minuten auf einen Kaffee, bespricht sich, pflegt das Netzwerk und geht wieder. Was mir ebenfalls fehlt, ist die Spontaneität: In Italien macht man ganz kurzfristig ab – in der Schweiz brauchts da oft sehr viel mehr Planung (lacht). Natürlich vermisse ich auch das schöne Wetter. Und nicht zu vergessen: Italien ist ein sehr spannendes Land für Journalisten.

Wie meinen Sie das?

Es passieren viele und zum Teil unglaubliche Dinge.

Gibt es ein Italien-Erlebnis, dass Sie besonders beeindruckte?

Das Erdbeben von l’Aquila im April 2009 war für mich prägend, weil sich die Katastrophe zu Beginn meiner Korrespondententätigkeit ereignete. Ich war wenige Stunden nach dem Erdbeben vor Ort, später dokumentierte ich das Drama des Wiederaufbaus, oder besser gesagt: des Nicht-Aufbaus dieser Stadt. Solche Pannen und Versäumnisse sind symptomatisch für dieses Land. Am Beispiel von l’Aquila lernte ich vieles – zum Beispiel, warum vieles in Italien nicht funktioniert. Oder, dass es die Italiener einfach nicht schaffen, zusammenarbeiten: 150 Jahre nach der Staatsgründung arbeiten die Italiener noch immer lieber gegeneinander.

Massimo Agostinis berichtet aus dem Erdbebengebiet von L’Aquila («Echo der Zeit», SRF, 6.4.2009)

 

Und woran liegt das?

Die Italiener haben ein hochgradig gespaltenes Verhältnis zu ihrem Staat. Das ist historisch bedingt. Italien war seit den Römern nie mehr ein vereinter Staat. Vielmehr war es das Durchzugsgebiet für viele Völker. Vor 150 Jahren wurde das Land zwar geeinigt, aber es war keine Revolution von unten wie in Frankreich, sondern eine von oben. Den Italienern wurde abermals etwas von oben aufgepfropft. Hinzu kommt der Vatikan. Dieser bläute den Italienern ein, dass die wichtigsten Einheiten die Familie und die Kirche seien. Ein moderner, aufgeklärter Staat passte den Päpsten lange nicht. Das alles bestärkt die Italiener bis heute in ihrem schizophrenen Verhalten gegenüber jeglicher Staatlichkeit. Der Staat soll zwar für sie sorgen wie die Mutter Kirche, gleichzeitig wollen sie ihm nicht gehorchen, sondern ihre familieneigenen Regeln beibehalten. Der Staat ist also nur so lange interessant, als er ihnen und ihrem Clan nützt. Das erklärt auch, warum sich das Land jahrzehntelang verschuldete und das allen egal war.

Renzi-Gegner sagen, aus dem Dynamiker sei ein Funktionär geworden. Was meinen Sie dazu?

Ich misstraute Renzi von Anfang an. Er ist ein grosser Showman. Er glaubte, er könne sich kraft seiner Jugendlichkeit einfach gegen das ganze Establishment stemmen. Renzi hat sich mit dem ganzen italienischen Establishment verkracht – und nun arbeitet dieses gegen ihn.

Wollte er denn zu viel?

Alle Politiker machen Versprechen à gogo. Aber einmal müssen sie beginnen, Dinge umzusetzen. Ich glaube, Renzi hat von Grund auf falsch angefangen. Er hat sich mit allen angelegt und auf irgendwelche Leute gesetzt, die zu wenig politische Erfahrung hatten. Er hatte sogar Mühe, sein Kabinett zu bilden. Der ehemalige Staatspräsident Giorgio Napolitano intervenierte und sagte zu ihm, er könne nicht einfach Grünschnäbel zu Ministern machen.

Aus Italien gelangen widersprüchliche Meldungen zu uns. Einmal heisst es, das organisierte Verbrechen sei geschwächt; ein anderes Mal erfahren wir, dass Rom von der Mafia unterwandert sei und Politiker von Matteo Renzis Demokratischer Partei in umstrittene Geschäfte involviert sein sollen. Eine blosse Sensationsmeldung?

Nein, das war keine Sensationsmeldung. Ich machte vor einigen Jahren mit einem Ermittler aus Ostia einen Beitrag. Dieser warnte schon damals davor, dass die Mafia auf dem Vormarsch nach Rom sei. Der Ermittler wurde für verrückt erklärt. Heute weiss man, dass er Recht hatte.

Wie beurteilen Sie die Gefährlichkeit der römischen Mafia?

Schon in den 1970er-Jahre gab es hier eine lokale Mafia, sie hiess «la Banda della Magliana», wie das Quartier im Süden von Rom. Man nannte sie Bauernmafia, weil sie sehr brutal agierte und vor allem von Auftragsmorden und Erpressungen lebte. Heute ist die Mafia im Establishment angekommen und bestimmt über grosse Firmen. Man weiss, dass die Hälfte aller Hotels an der renommierten Via Veneto der Mafia gehört. Das Problem ist aber, wie der Staat der Mafia rechtlich beikommen kann.

Täuscht der Eindruck, oder wagen es die Italiener heute mehr, sich gegen die Mafa aufzulehnen?

Spätestens seit der Ermordung der Richter Falcone und Borsellino ist das so. In Süditalien gibt es Unternehmer, die Anti-Mafia-Kleber an den Schaufenstern ihrer Geschäfte anbringen. Man darf aber nicht vergessen: Die Mafia ist nicht einfach eine kriminelle Organisation, sie ist Kultur. Das geltende System «Ich mach dir einen Gefallen, morgen machst Du mir einen» ist der Nährboden für die Mafia. Es reicht also nicht, Mafiosi ins Gefängnis zu stecken. Die Mentalität muss sich ändern.

Also vor allem die süditalienische?

Da täuschen Sie sich. Norditalien ist das Eldorado der Mafia. Hier wird das grosse Geld verdient. Die Verzahnung von Politik, Wirtschaft und Mafia ist sehr dicht. Es gibt Karten der Polizia di Stato, auf denen man sieht, wo das organisierte Verbrechen aktiv ist: In und um Mailand hat es überall rote Punkte. Die Punkte reichen bis ins Piemont und sogar bis zur Schweizer Grenze. Seit etwa drei Jahren berichtet auch das Bundesamt für Polizei (Fedpol) über beunruhigende Mafia-Aktivitäten bei uns. Bis dahin schlief die Schweiz und wog sich im Gefühl, eine Insel der Glückseligen zu sein.

Hatten Sie als Journalist Probleme mit der Mafia?

Nein. Die Mafia kümmert sich in der Regel nicht um Journalisten, solange diese ihnen nicht zu nahe kommt wie etwa Roberto Saviano, der Autor von «Gomorrha» und «ZeroZeroZero». Es gibt allerdings gewisse Quartiere in Palermo und Neapel, die man als Journalist nicht ohne Begleitung besuchen sollte. Das einzige Mal etwas brenzlig wurde es für mich in Librino bei Catania. Ich schoss dort ein Foto eines riesigen leerstehenden Hochhauses, in dem Drogendealer und Junkies hausten. Plötzlich wurde ich mit Steinen beworfen und musste fliehen.

Wenn Sie italienischer Regierungschef wären, was würden Sie ändern? Was sind die drängendsten Probleme?

Eindeutig das Bildungssystem. Davon redet niemand in Italien. Das Bildungssystem ist derart am Boden, dass es einen verwundert, dass es überhaupt noch gescheite Leute hervorbringen kann. Ein Beispiel: Lehrer berichten mir, dass sie kurz vor Schuljahresbeginn oft nicht wissen, wie der Stundenplan aussieht.

Hierzulande heisst es oft, dass sich die Italiener um Politik foutieren würden. Ist das wirklich so?

Nein. Mit Italienern kann man bestens über Politik diskutieren. Und es wird oft kompetenter über Politik geredet als bei uns in der Schweiz. Die Italiener waren bis vor wenigen Jahren auch diszipliniert, wenn es ums Wählen ging. Das Land hatte Stimmbeteiligungen, die fast an sowjetische Verhältnisse erinnerten (lacht). Diese sind aber gesunken, weil die Italiener das Gefühl haben, das Wählen bringe nichts mehr. Die durchschnittliche Wahlbeteiligung ist auf etwa 60 Prozent gesunken, 1989 waren es noch 90 Prozent.

Massimo Agostinis über die wirtschaftliche Krise in Italien («News aktuell», SRF 4, 19.6.2013)

Wie sind Ihnen als Schweizer mit italienischen Wurzeln die Einheimischen begegnet?

Für die Italiener war ich immer der Schweizer. Man hört mir das Schweizersein an. Ich rolle das R zu wenig gut (lacht).

Jetzt mal ganz ehrlich: Welchem Land stehen Sie näher – der Schweiz oder Italien?

Seit ich zurück bin, frage ich mich das manchmal auch. Als ich noch in Italien war, freute ich mich und dachte: Endlich ist fertig mit diesem Chaos. Jetzt, wo ich wieder in der Schweiz bin, gibt es Tage, an denen ich am liebsten wieder nach Italien zurückkehren würde.

Pizza oder Rösti?

Weder das eine, noch das andere. Ich ass in Italien sechs Jahre lang keine einzige Pizza. Rösti ist absolut in Ordnung.

Massimo Agostinis, Sohn italienischer Eltern, wurde 1965 geboren. Er machte eine Lehre als Hochbauzeichner. Nach dem Chemieunglück in Schweizerhalle im November 1986 schrieb er seinen ersten Artikel. Er arbeitete für die damalige «Basler AZ» und war Gründungsmitglied der Zeitung «Dementi». Seit 1995 ist er beim Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) tätig. Agostinis hat mit seiner Partnerin zwei Kinder.

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