Können religiöse Institutionen durch ihr ethisches Fundament und ihre Netzwerke eine spezifisch positive Rolle in der humanitären Hilfe spielen? Eine internationale Konferenz an der Universität Basel geht dem Verhältnis von Religion und Entwicklungszusammenarbeit auf den Grund. Wir haben uns mit Swisspeace-Direktor Laurent Goetschel im Vorfeld darüber unterhalten.
Es sind Einzelfälle, aber sie sorgen für grosses Medienecho. Die Schweizer Missionarin, die vorgeblich als Entwicklungshelferin in Mali tätig war und entführt wurde. US-evangelikale Hilfsorganisationen, die nach dem verheerenden Tsunami 2004 in Südostasien Nothilfe mit der Missionierung nichtchristlicher Bevölkerungsgruppen verknüpften.
Wo menschliche Not herrscht, sind religiöse – nicht nur, aber zu grossen Teilen christliche – NGOs aktiv, motiviert vom christlichen Ethos der Fürsorge und Nächstenliebe. Und, weitflächig zumindest bis in die Anfänge des vergangenen Jahrhunderts, vom missionarischen Eifer, das Evangelium zu verbreiten.
Die moderne Entwicklungszusammenarbeit kennt säkulare wie religiöse Hilfsorganisationen, wobei Letztere grösstenteils zwar kirchlich-institutionell gebunden sind, der religiöse Hintergrund in der tatsächlichen Arbeit vor Ort jedoch eine untergeordnete Rolle einnimmt.
Spielt Religion in der humanitären Hilfe noch eine Rolle? Oder ist sie angesichts steigender religiöser Spannungen in Konflikt- und Krisengebieten gar ein Risiko?
Am Mittwoch beginnt an der Universität Basel eine dreitägige international besetzte Konferenz zu dieser Frage. Die TagesWoche hat sich mit Laurent Goetschel, Direktor des säkularen Instituts für Friedensförderung Swisspeace und Politikwissenschaftler am Europainstitut der Universität Basel, über dieses Thema unterhalten.
Herr Goetschel, es gibt religiöse und säkulare NGOs, die in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit tätig sind. Spielt diese Unterscheidung eine Rolle?
Laurent Goetschel: Zentraler ist die Unterscheidung zwischen NGOs mit religiösem Hintergrund, die rein friedensengagiert oder in der humanitären Hilfe tätig sind, und missionierenden Organisationen. Letztere sind eine spezielle Gattung von Akteuren, ansonsten aber tendiere ich dazu, die Besonderheit von Organisationen mit einem religiösen Hintergrund etwas zu relativieren. Ihr Engagement ist in der Regel nicht primär religiös motiviert.
Sie haben die Missionierung erwähnt – vor allem im evangelikalen Spektrum verknüpfen Hilfsorganisationen manchmal ihre Arbeit mit der Absicht der Evangelisierung. Wo befindet sich die rote Linie, mit welchen Organisationen man zusammenarbeitet?
Ich kann nur für Swisspeace sprechen. Für uns gilt generell, dass wir Partner suchen, die der Friedensförderung verpflichtet sind, aus welchen ethischen Motiven auch immer. Steht jedoch die Ausbreitung einer religiösen Überzeugung im Vordergrund, oder werden im Entwicklungsgebiet aus religiösen Gründen bestimmte Gruppen bevorzugt behandelt, passt das weder zu unseren Zielen noch zu unserer Arbeitsweise. Solange sich die religiöse Orientierung nicht negativ auf die Arbeit auswirkt, sehe ich kein Problem.
Sie relativieren, dass ein religiöser Hintergrund ein Problem sein muss. Damit denken Sie primär an landeskirchlich gebundene Organisationen wie das Heks oder Caritas, die ohne Missionierungsabsicht arbeiten?
Ja. Heks und Caritas sind bedeutende Hilfswerke, und ihnen aufgrund einer religiösen Anbindung einen hohen Standard der Professionalität absprechen zu wollen, wäre absolut ungerechtfertigt. Die ethische Basis ihrer jeweiligen Religionsgemeinschaft ist sicher Teil ihres Antriebs, aber das betrifft auch andere Organisationen wie beispielsweise Solidar Suisse, die der Sozialdemokratischen Partei nahesteht. Dort ist es die politisch verwurzelte Idee der Solidarität, die das Antriebsmoment liefert. Generell braucht es eine wie auch immer verankerte ethische Motivation, um sich in Ländern des globalen Südens zu engagieren, doch welche Werte konkret den Antrieb liefern, muss in der Alltagsarbeit nicht unbedingt sichtbar sein und ist auch nicht so relevant.
«Bestimmt können auf der individuellen menschlichen Basis religiöse Motive heute noch immer eine Rolle spielen – aber eben nicht nur.»
Kirchliche Organisationen standen am Anfang der internationalen Entwicklungshilfe – beruhend auf dem christlichen Ethos, den Ärmsten zu helfen. Stimmt diese These?
So ist diese These unvollständig. Wenn man zum Beispiel an Henri Dunant denkt, den Gründer des Roten Kreuzes, war dieser als Appenzeller im 19. Jahrhundert bestimmt nicht frei von religiösen Idealen. Aber er wollte vor allem das humanitäre Leid auf den Schlachtfeldern reduzieren – und sicherstellen, dass den Soldaten minimale medizinische Hilfe, aber auch rechtlicher Schutz gewährt wird, sobald sie sich nicht mehr aktiv an Kampfhandlungen beteiligen. Bestimmt können auf der individuellen menschlichen Basis religiöse Motive heute noch immer eine Rolle spielen – aber eben nicht nur. Die moderne Entwicklungszusammenarbeit etwa entstand in den 1970er-Jahren im Klima des Kalten Krieges, wo sich die Akteure zwischen den Interessen der Supermächte USA und Sowjetunion zu positionieren hatten.
Seit den 1980er-Jahren begannen international tätige NGOs, Entwicklungsprojekte nicht mehr durchgängig selbstständig durchzuführen, sondern mit lokalen Partnern – in der Absicht, vor Ort nachhaltige zivilgesellschaftliche Strukturen zu etablieren und zu fördern. Sind religionsgebundene Organisationen damit im Vorteil, weil sie auf bestehende Netzwerke zurückgreifen können, nämlich die Schwesternkirchen vor Ort?
Ja, das ist ein interessanter Punkt. Korrekt ist, dass zivilgesellschaftliche Akteure – wie NGOs – über ein Netzwerk in den jeweiligen Gesellschaften verfügen sollten, um die Ziele ihrer Arbeit zu erreichen. Organisationen mit einem religiösen Hintergrund können hier einen Vorteil haben, denn in vielen Regionen der Entwicklungszusammenarbeit ist die Religion im Alltag präsenter als bei uns. Aber Kirchen sind nicht a priori die bestplatzierten Akteure, sondern können aus denselben Gründen in einer Konfliktregion auch als Partei wahrgenommen werden oder aus Furcht, in einen Konflikt hineingezogen zu werden, auf eine Zusammenarbeit verzichten. Mittlerweile gibt es jedoch so viele lokale wie internationale NGOs, dass jeder auf seinem Weg seine Partner findet.
Und ihre Zahl nimmt zu: Laut dem «Yearbook of International Organizations» sind mittlerweile rund 37’000 internationale NGOs global aktiv, und darin sind lokale Organisationen noch nicht enthalten. Ist ein religiöser Hintergrund in dieser Wettbewerbssituation ein Vorteil, beispielsweise beim Spendensammeln?
Man kann die These auch umdrehen: Wer wie Swisspeace nicht religiös verankert ist, dem steht die Zusammenarbeit auf allen Seiten offen. Und man gerät nicht in den Verdacht, dass religiöse Motive die Arbeit begleiten. Beispiel Syrien – wenn eine Organisation der alawitischen Religionsgemeinschaft nahesteht, bedeutet das eine Positionierung. Vor allem im Zusammenhang mit Konflikten im Nahen Osten sind religiöse Akteure oft auch Konfliktpartei, und religiös geprägte Organisationen müssen sich in dieser Situation abgrenzen können und betonen, dass sie friedensfördernd aktiv sind. So wichtig und diskussionsanregend Religionen auch sein können, sie sind einfach Bestandteil von menschlichen Organisationsformen. Als solche können sie sehr tolle, aber auch katastrophale Ergebnisse hervorbringen.
«Wer in Konfliktregionen eine Seite favorisiert, ohne sich an lokalen Leitbildern zu orientieren, leistet keinen konstruktiven Beitrag.»
Nicht nur religiös geprägte Organisationen stehen im Verdacht, mittels Entwicklungshilfe eine bestimmte Agenda zu verfolgen. Nach 9/11 haben US-Hilfswerke, die im islamischen Raum aktiv sind, mehrfach staatliche amerikanische Finanzhilfe abgelehnt, um nicht als Partner einer politischen Strategie wahrgenommen zu werden.
Richtig. Interessengeleitete Entwicklungszusammenarbeit gibt es nicht nur im religiösen Milieu. Wenn beispielsweise China in Afrika im Austausch für Rohstoffe städtische Infrastrukturen auf die Beine stellt, ist das eine eigene Logik von Entwicklungszusammenarbeit. Auch andere Staaten wie Indien oder die Türkei haben begonnen, in diesem Bereich aktiv zu werden, und verfolgen dabei eigene Vorstellungen von Menschenrechten oder ökologischen Normen. Das hält auch uns im Westen den Spiegel vor: Wir fördern als sogenanntes «liberal peacebuilding» Werte wie Zivilgesellschaft oder Demokratie. Aber die Gesellschaften, in denen man tätig ist, teilen diese Werte nicht unbedingt. Ob hier noch evangelikale Missionsorganisationen hinzukommen, ist daher nicht unbedingt weltbewegend. Als Organisation geht man Beziehungen mit diesen Gesellschaften ein und investiert Gelder, die in einem gewissen Grad auch im Interesse dieser Gesellschaften sind – sonst würden sie diese Hilfe ja nicht annehmen. Und man erhofft sich daraus einen gewissen Nutzen. Ob das nun bestimmte politische Prozesse, die man in Gang bringen möchte, oder die Ausbreitung einer Religion, oder einfach Rohstoffe sind – eine absolut selbstlose Hilfe hat es nie gegeben.
Wobei gerade im Nahen Osten, wo religiöse Spannungsfelder gegeben sind, religiös motivierte Hilfsakteure zur Verschärfung beitragen können oder sich grösseren Risiken ausgesetzt sehen?
Wer in Konfliktregionen eine Seite favorisiert, ohne sich an lokalen Leitbildern zu orientieren, leistet keinen konstruktiven Beitrag. Das betrifft aber alle und nicht nur christlich motivierte Organisationen. Als NGO tritt man als zusätzlicher Akteur in ein bestehendes Krisenfeld ein, und mit wem man kooperiert, hängt davon ab, in welcher Gegend man sich befindet und welche Ziele man verfolgt. Ich halte es für falsch, etwa in Westafrika nur aus dem Grund nicht mit salafistischen Gruppierungen zusammenzuarbeiten, weil sie nicht dem eigenen Wertesystem entsprechen. Und zwar deshalb, weil sie gesellschaftlich relevant sind. Wenn man für Frieden ist, soll man ihm nicht noch zusätzliche Kriterien aufbürden. Sondern die lokalen Akteure unterstützen, zu welchem Zeitpunkt des Konflikts auch immer, so dass sie zu besseren Formen des Zusammenlebens finden. Sonst bleibt man besser zu Hause.
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«Does Religion Make A Difference»? Konferenz an der Theologischen Fakultät der Universität Basel, 9. bis 11. November. Laurent Goetschel ist als Respondent zum Themenblock «Peace-Building» anwesend.